Brand in Sicht

Nach der Heimniederlage gegen Stuttgart sind Mannschaft und Verantwortliche von Hertha BSC im Zugzwang – vor dem Gastspiel bei RB Leipzig und der Mitgliederversammlung.

Die gebeutelten Fans von Hertha BSC durften vor dem Heimspiel am vergangenen Sonnabend gegen den VfB Stuttgart trotz schwieriger Vorzeichen durchaus zuversichtlich sein. Denn ebenso wie ihre Lieblinge in den vergangenen Jahren meist Spiele verloren haben, die als Schlüssel für das Festsetzen in vorderen Tabellenregionen galten, so gewannen sie doch auch oft jene, bei denen ein Absturz in den Tabellenkeller zu befürchten war. Mit bis dahin drei Punkten in drei Partien war die Ausgangsposition gegen den Aufsteiger aus Stuttgart jedenfalls als knifflig zu bezeichnen und ein gewisser Druck im Hinblick auf das folgende Gastspiel bei RB Leipzig gegeben. Doch diesmal hielten die Herthaner dem Druck nicht stand: Der VfB gewann im Olympiastadion mit 0:2 und beförderte die Alte Dame schon vor der anstehenden Reise zum Tabellenführer in eine kritische Situation. Erstrunden-Aus im DFB-Pokal, drei Punkte aus vier Bundesligaspielen, Platz 15, drei Niederlagen in Folge – so liest sich nur der Beginn des Faktenchecks, der den Berlinern bereits zum Saisonstart Kopfzerbrechen bereitet. Gerade auch die Mitgliederversammlung am Tag nach dem Leipzig-Spiel dürfte so unter angespannter Stimmung ablaufen – pandemiebedingt wird sie dort durchgeführt, wo normalerweise die Treuesten bei den Heimspielen stehen: in der Ostkurve des Olympiastadions. Dort also, wo die größte Unterstützung für die Blau-Weißen herrscht, aber auch Kritik für gewöhnlich harsch zum Ausdruck gebracht wird. Der verbale Aufgalopp zur Versammlung hat dazu bereits das Feuer entfacht. Jens Lehmann, Aufsichtsratskandidat des Investors Lars Windhorst, erklärte der „Sport-Bild" jedenfalls schon vor dem Stuttgart-Spiel in gewohnt unverblümter Art: „Das Ziel ist allen bei Hertha BSC klar – und das heißt Qualifikation für den europäischen Fußball." Präsident Werner Gegenbauer erläuterte daraufhin, Lehmann spreche als Berater von Windhorsts Tennor AG – nicht für den Verein. Kurzum: Auch intern gibt es Reibungspunkte.

Dabei stand auch schon die Vorbereitung auf die wichtige Partie gegen den VfB unter schlechten Vorzeichen. Hertha BSC bekam die Unbill, welche die Abstellung von Profis für ihre Auswahlen Mal für Mal mit sich bringen kann, auch zum Ende dieser Ligapause wieder zu spüren. Die drei Südamerika-Fahrer in Reihen des blau-weißen Kaders brachten es etwa in den insgesamt sechs Partien ihrer Nationalmannschaften auf eine Minute Einsatzzeit. Während Jhon Cordoba (Kolumbien) und Matheus Cunha (Brasilien) vergeblich auf ihr Auswahldebüt hofften, wurde Omar Alderete einmal in der Nachspielzeit für Paraguay eingewechselt. Spielpraxis sieht anders aus – und das Training mit den Nationalmannschaften, darauf hatte Bruno Labbadia im Vorfeld des Heimspiels hingewiesen, ist kein Ersatz für das mit dem Verein. „Last-Minute"-Neuzugang Alderete konnte so erst am Freitag vor der Ligapartie erstmals mit dem blau-weißen Kader trainieren – obwohl er durch die Verletzung von Jordan Torunarigha beinahe eine Startelf-Garantie für die Abwehrzentrale besaß. Die Krone der Hiobsbotschaften stellte jedoch die Nachricht dar, dass sich Matteo Guendouzi bei der französischen U21-Auswahl mit dem Coronavirus infiziert hat. Der ebenfalls erst am letzten Transfertag vom FC Arsenal ausgeliehene Mittelfeldspieler musste so in die Quarantäne, bevor er überhaupt einmal mit der Mannschaft üben konnte. Zehn Tage Training in den eigenen vier Wänden bedeuten für den 21-Jährigen dabei nicht nur de facto eine Spielpause bis einschließlich des kommenden Spiels gegen RB Leipzig, sondern zwangsläufig eine noch längere Phase der Adaption in Team und Spielsystem. Da ist auch die in vergleichbaren Fällen der jüngeren Vergangenheit – etwa bei den Infektionen von Maximilian Mittelstädt oder Niklas Stark – bereits gesammelte Erfahrung mit „Hometraining" nur ein schwacher Trost. Einem auf Übungseinheiten in Kaderstärke geradezu versessenen Coach wie Bruno Labbadia dürften die Erfahrungen aus der Ligapause jedenfalls pure Magenschmerzen verursacht haben.

„Wir haben zu oft falsche Entscheidungen getroffen"

Herthas Trainer sorgte dann aber auch für Überraschungen bei der Aufstellung vom vergangenen Sonnabend. Er scheute das Risiko, die „ganz Neuen" wie Alderete oder Eduard Löwen von Beginn an zu bringen – und stellte lieber Niklas Stark nach längerer Zeit in der Innenverteidigung neben Dedryck Boyata auf. Marvin Plattenhardt kam auf der linken Abwehrseite neu ins Team, noch verwunderlicher die Nominierung von Mathew Leckie für die rechte Außenbahn – während Maximilian Mittelstädt nicht zum ersten Mal auf die ungewohnte Position im defensiven Mittelfeld einrückte. Es nutzte jedoch alles nichts: Hertha BSC legte wie schon im Heimspiel gegen Frankfurt eine erste Halbzeit zum Vergessen hin. Die größte Torchance für die Hausherren produzierte Stuttgarts Verteidiger Orel Mangala, der bei einem missglückten Rettungsversuch seinen eigenen Torwart zu einer Glanzparade zwang. Da lagen die Berliner längst 0:1 im Hintertreffen, weil nach einem Freistoß VfB-Spieler Marc-Oliver Kempf sträflich ungehindert per Kopfball getroffen hatte. Mit Dodi Lukebakio für Leckie kam im zweiten Durchgang dann mehr Schwung ins Spiel, doch nun ließen die Hauptstädter ihre Torchancen ungenutzt. Sicherlich fehlte zum Teil bei den Abschlüssen von Cordoba, Cunha, Lucas Tousart und Boyata auch das Quäntchen Glück – oder eben die nötige Konzen­tration und Entschlossenheit. Die Gäste schlugen dagegen eiskalt durch Gonzalo Castro zu, der sich erst ungehindert durch das Mittelfeld kombinieren und dann aus 20 Metern abziehen konnte. Danach fiel den elf Herthanern auf dem Platz zur sichtbaren Verzweiflung ihres Trainers kaum noch etwas ein. „Wir haben sehr statisch gespielt, zu oft falsche Entscheidungen getroffen und unsere Positionen nicht eingehalten", benannte Bruno Labbadia anschließend die Probleme. Die „viel zu billige Niederlage" könnte Hertha BSC so auch nach dem Spiel in Leipzig noch teuer zu stehen kommen, denn sie macht selbst für die folgenden Aufgaben gegen Wolfsburg und Augsburg nicht viel Mut. Geschweige denn für die Zeit im November und Dezember, wenn das Programm Dortmund, Leverkusen, Union und Borussia Mönchengladbach bereithält – nach der nächsten, länderspielbedingten Ligapause.