Robin Krasniqi ist nicht der talenÂtierteste Boxer, aber sein Herz und sein Wille sind riesengroß. AngeÂtrieben von einem großen Traum hat er sich zum WeltÂmeister gekürt.
Das, was er als Kind durchgemacht hat, wünscht Robin Krasniqi niemandem. Er hat den Krieg in seiner Heimat Kosovo hautnah miterlebt, sein Elternhaus wurde bei einem Angriff komplett zerstört. Mit seiner Familie floh der damals 17-jährige vor dem Kugelhagel. Bis nach Deutschland, wo sein Vater, ein politisch Verfolgter im Kosovo, einen sicheren Ort gefunden hatte und einen Obst- und Gemüsehandel betrieb.
„Ich kenne die Situation, wirklich nichts zu haben. Im Wald zu schlafen. Über die Berge in ein anderes Land zu kommen", sagt der Profiboxer, als er sich im MDR-Interview am Tag nach seinem großen Triumph an die harte Zeit seiner Kindheit zurückerinnert. Auf seinem Schoß liegen die zwei WM-Gürtel der Verbände WBA und IBO, die er im spektakulären Mittelgewichts-Kampf am 10. Oktober in Magdeburg dem Titelverteidiger Dominic Bösel abgenommen hat. Krasniqi schaut immer wieder voller Stolz auf die glänzenden Gürtel, und dann sagt der Wahl-Augsburger: „Aber ich bin froh, dass ich das alles erlebt habe." Denn es hat ihn in seiner Sportart nach ganz oben gebracht. Auf den Box-Thron.
Der Begriff des „Märchens" wird im Sport oft inflationär benutzt, doch im Fall von Robin Krasniqi ist er tatsächlich angebracht. Sein WM-Sieg gegen den klar favorisierten Bösel war ein Box-Märchen. „Der Kampf war nicht nur heute, er war 15 Jahre lang", sagte Krasniqi noch im Ring bei seinem ersten Interview als neuer Weltmeister: „Ich habe so viele Höhen und Tiefen erlebt, ich habe geweint und oft gehört, es sei mit mir zu Ende. Aber ich habe immer an mich geglaubt und bin meinen Zielen treu geblieben."
Das größte Ziel ist nun erreicht – und Krasniqi fühlt sich noch immer wie der glücklichste Mensch auf der Welt. „Egal, wie viele Kämpfe ich noch bestreiten und wie viele Siege ich noch erringen werde – so etwas werde ich nie wieder erleben", sagt er. Es sei „das Größte", es ohne einen einzigen Amateurkampf von ganz unten nach ganz oben zu schaffen. Die Erinnerungen an jenen 10. Oktober in Magdeburg, sagte der 33-Jährige, „werde ich mit ins Grab nehmen". Sein Vater, der jeden seiner Kämpfe live gesehen hat, jubelte vor Ort. Seine Mutter, die „schon zwei Tage vorher Beruhigungstabletten nehmen muss", wie Krasniqi verriet, rief er direkt danach an. „Sie war nur am Heulen", sagte Krasniqi, „sie war so happy, dass alles gut ausgegangen ist und ich mir meinen Traum erfüllen konnte."
„Diesen Traum hatte ich immer im Kopf"
Gleich nach seiner Ankunft in Deutschland suchte der junge Robin Gyms auf und fragte, ob er hier ein Boxer werden könne. Er wurde im besten Fall belächelt. Krasniqi sprach damals kein Deutsch, war verängstigt – und dazu noch ein blutiger Anfänger. In seiner Heimat hatte er lediglich ein paar Erfahrungen in Karate gesammelt, ihm fehlte die Ausbildung im Amateurboxen komplett. Solche Boxer schaffen es nur mit ganz harter Arbeit, einem enormen Willen und viel Geduld nach oben. Und Krasniqi bewies alle drei Qualitäten.
„Ich hatte damals schon im Kopf: Wenn ich in Deutschland bin, dann fange ich mit dem Boxen an und werde ganz groß rauskommen", erinnerte sich Krasniqi zurück: „Diesen Traum hatte ich immer im Kopf." Weil sein Herz und sein Eifer so groß waren, machte Krasniqi in der Münchner Boxfabrik schnell Fortschritte. Vor zehn Jahren wechselte er dann zum Magdeburger SES-Stall, um anderen deutlich talentierteren Boxern als Sparringspartner zur Verfügung zu stehen. Unter anderem Dominic Bösel. Krasniqi lernte schnell. In der teamÂinternen Hierarchie stieg er immer weiter nach oben, in seinen Profikämpfen überzeugte er. Europameister der WBO, Weltranglisten-Erster der WBO –
und dann kam seine große Chance. Ein WM-Kampf gegen Nathan Cleverly am 20. April 2013 in London. Krasniqi unterlag einstimmig nach Punkten und musste sich wieder hinten anstellen. Die Zweifel, ob er das Zeug für den WM-Titel hat, waren bei den Experten groß. Aber nicht bei Krasniqi.
Er glaubte weiter an das, was er sich bei seiner Ankunft in Deutschland geschworen hatte. Zwei Jahre nach der Niederlage gegen Cleverly bekam er tatsächlich eine zweite WM-Chance. Doch Jürgen Brähmer war zu stark. Technischer K.o. in der zehnten Runde. Krasniqi lag am Boden, buchstäblich und im übertragenen Sinn. „Als ich gegen Brähmer verloren hatte", erzählte Krasniqi, „war ich so traurig." Er habe „lange Reisen" machen müssen, unter anderem in die USA, um sich von dem Rückschlag zu erholen. Fünf Jahre später ist er endlich am Ziel angekommen – als Notnagel. Eigentlich war der Australier Zac Dunn als Herausforderer für Bösel vorgesehen, doch der konnte wegen der Corona-Bestimmungen nicht antreten. Ein Ersatzgegner musste her, SES-Boss Ulf Steinforth kam die Idee eines Stall-Duells mit Krasniqi. Ein Risiko, denn eine Stallorder gab es nicht. Die hätte sich Krasniqi in einem WM-Kampf auch niemals diktieren lassen. „Ich habe alles riskiert", sagte der neue Champion. Vom ersten Tag an, als er den Vertrag unterschrieben hatte, habe es für ihn nur noch ein Ziel gegeben: „In jeder Trainingseinheit, egal wie hart sie war, hatte ich nur den Sieg im Kopf." Konditionstrainer Sepp Maurer („Ich mache alles, was er sagt. Er kennt meinen Körper am besten") scheuchte ihn von zehn Uhr morgens bis zehn Uhr abends. Box-Trainer Magomed Schaburow tüftelte eine perfekte Taktik aus. Der K.o.-Schlag in der dritten Runde mit einer krachenden Rechten war kein Zufall. „Sie haben es einstudiert", sagte Steinforth anerkennend: „Sie haben gesehen, dass da eine Lücke ist. Die Taktik ist aufgegangen."
„Er hatte keine Spannung mehr"
Er sei „brutal gut eingestellt" gewesen, so Krasniqi: „Mir war klar: Einer von uns geht K.o. Ich dachte, dass wir ab der fünften Runde Fuß an Fuß stehen werden und nicht mehr ausweichen können." Doch Krasniqi fand schon vorher die Lücke in Bösels Deckung. „Ich wollte ihn mit einem Aufwärtshaken ablenken, damit er die Mitte zumacht und seine Seiten offen sind." Und wie offen die waren. Eine schnelle Rechte, und Bösel wankte bedenklich in der dritten Runde. Krasniqi spürte die Wucht in seinen Handschuhen und setzte nach. „Er hatte keine Spannung mehr, das habe ich gemerkt. Ich habe mir gesagt: Bis er umfällt, höre ich nicht mehr auf", beschrieb Krasniqi seine Gedanken im Ring. Die zweite Rechte schickte Bösel endgültig auf die Bretter. Krasniqi sank auf die Knie und ließ einen sekundenlangen Jubelschrei folgen. „Manche haben gesagt, das sei meine letzte Chance", sagte Krasniqi: „Aber wie ihr seht: Das ist erst der Anfang!" Wie es nun weitergeht, sei ihm „ehrlich gesagt völlig egal". Das klingt seltsam, denn als Weltmeister steht er endlich im ganz großen Rampenlicht, kann er endlich die ganz große Börse verlangen. Doch Krasniqi sagt ehrlich: „Ich bin an meinem Ziel angekommen." Alles, was jetzt noch kommt, ist Zugabe. Klar ist, dass es einen Rückkampf gegen Bösel geben wird. Das ist vertraglich vereinbart gewesen. Kein Problem für Krasniqi: „Ich bin da!" Allein schon weil er Promoter Steinforth, der sich einen anderen Ausgang des ersten Kampfes gewünscht hätte, viel zu verdanken hat. „Ohne diesen Mann", sagte der Halbschwergewichtler, „wäre es nicht möglich gewesen. Er hat ein Herz und ist immer ehrlich. Sein Wort hat er immer gehalten." Auch im zweiten Stall-Duell wird der Weltmeister eine faire Chance bekommen. Dass sich der technisch deutlich versiertere Bösel taktisch erneut so schlecht vorbereitet präsentiert, ist unwahrscheinlich. Trotzdem hat Krasniqi eine Chance, glaubt Box-Ikone Henry Maske: „Wenn er diesen Moment genug genossen hat, ist er mit Sicherheit dazu bereit, das Ganze zu wiederholen."
Doch das mit dem Genießen wird noch etwas länger dauern. Krasniqi geht nun öfters als sonst in seine eigene Eisdiele „Giotto" in Pfersee, die Leute dort klopfen ihm auf die Schultern und gratulieren ihm. Seine beiden WM-Gürtel hängen zu Hause, „damit ich sie immer sehen kann". In der ersten Nacht als Weltmeister lagen sie sogar neben ihm im Bett. „Nach 40 Minuten war ich wieder wach", berichtete Krasniqi. Das Kopfkino war zu spektakulär. „Das Größte, was mir passieren konnte, war dieser Kampf", sagte er: „Es ist nicht zu glauben, aber doch wahr."
Diesen Triumph will er mit allen feiern, die ihm zur Seite gestanden, an ihn geglaubt und ihn unterstützt haben. „Diese Gürtel habe nicht nur ich gewonnen, sondern auch mein Trainer, meine Familie, meine Freunde", sagte er. Krasniqi strahlte dabei, als habe er im Leben nie etwas Schlimmes erlebt. Das hat der Kosova-Albaner, doch es hat ihn dorthin gebracht, wo er jetzt ist. Auf den Box-Thron.