Die Pandemie versetzt die Opernhäuser in einen Krisenmodus. Doch nicht nur an der Komischen Oper Berlin sieht man die Situation auch als Chance.
Die Opernhäuser leiden unter den Corona-Maßnahmen. In Hamburg dürfen 500 von 1.700 Plätzen besetzt werden, ähnlich ist das Verhältnis in Stuttgart. In der Bayerischen Staatsoper mit ihren 2.100 Plätzen liegt die Obergrenze sogar bei nur 200 Besuchern, was den Intendanten zur Weißglut treibt. Angesichts der drastischen Einnahmeausfälle ist es wohl nur eine Frage der Zeit, dass weniger kulturaffine Politiker Kürzungs-Szenarien auf den Tisch legen.
Die Opernbesucher müssen derweil mit den inzwischen üblichen Einschränkungen rechnen: Sicherheitsabstand einhalten, Maske tragen, Kontaktdaten hinterlassen. Die Werkeinführungen vor der Vorstellung werden durch Online-Informationen ersetzt. Auch auf den Pausensekt wird man wohl noch einige Zeit verzichten müssen.
Allerdings ist das Opernpublikum ein vorbildlich diszipliniertes, das relativ klaglos sämtliche Hygieneregeln mitmacht. Das Infektionsrisiko im Theater dürfte sich in Grenzen halten. Kulturverbände fordern daher, mindestens die Hälfte der Plätze im Zuschauerraum freizugeben. Entsprechende Signale kamen bereits aus Österreich und der Schweiz. Beispiel Zürich: Von 1.200 Plätzen werden hier momentan bis zu 900 besetzt, bei durchgängiger Maskenpflicht. Beispiel Wien: Hier muss zwischen den einzelnen Haushalten nur ein Platz frei bleiben. Es wird jedoch darum gebeten, auf Bravorufe zu verzichten!
Zugleich ist der Hunger nach Kultur groß; die wenigen Karten sind schnell vergriffen. Als man etwa in Frankfurt nach der Lockdown-Zwangsschließung vorsichtig hundert Tickets freischaltete, waren diese nach fünf Minuten verkauft.
Spielbetrieb läuft „auf Sicht"
Die Lage ist föderal bedingt uneinheitlich. Aber was alle Opernhäuser jetzt eint: Der Spielplan, der normalerweise Jahre im Voraus entschieden wird, entsteht jetzt „auf Sicht" – und enthält neben Kammeropern eher Barockes als Richard Wagner. Große, üppig besetzte Stücke fallen flach. So startete die Rheinoper Düsseldorf mit einer „Comedian Harmonists"-Revue in die Saison, für fünf Sänger und einen Pianisten. In Dortmund wurde Mozarts „Die Entführung aus dem Serail" gegeben – ohne Chor, mit Mini-Orchester und Puppen als Darstellern. Die Semperoper in Dresden schrumpft großformatige Werke auf eine konzertante Arien-Auslese in 90 Minuten.
Stücke kürzen, in kleineren Besetzungen spielen – einer der kreativsten deutschen Intendanten, Barrie Kosky von der Komischen Oper Berlin, will sich damit nicht zufriedengeben.
Zwar rechnet die Komische Oper bis zum Jahresende mit mehr als sechs Millionen Euro Mindereinnahmen, die durch Einsparungen und Kurzarbeit kompensiert werden sollen. Zeitweilig wurden 90 Prozent der Mitarbeiter auf Kurzarbeit gesetzt. Ebenso wie an vielen anderen deutschen Theatern musste auch an der Komischen Oper viel umgeplant und abgesagt werden. Doch Barrie Kosky lässt sich dadurch nicht die Laune verderben.
Seine kreative Antwort auf die Pandemie ist eine Neuinszenierung von Jacques Offenbachs „Die Großherzogin von Gerolstein". Der Regisseur löst hier das Abstandsproblem, indem er ausufernde Kostüme schneidern lässt, die Distanz erzwingen. Außerdem wurde für die Premiere am 31. Oktober mit zwei getrennten Besetzungen geprobt: Muss die eine wegen Corona in Quarantäne, übernimmt die andere.
Jacques Offenbach, Schöpfer so legendärer Melodien wie des „Cancan" oder der „Barcarole", kam 1819 als Jakob Offenbach in Köln zur Welt. Mit 14 Jahren ging er nach Paris, wo er am Konservatorium studierte und sich als Cellist und Komponist einen Namen machte. Offenbach erfand die Gattung der Operette und gründete 1855 ein Theater inmitten der Vergnügungsparks am Pariser Stadtrand. Das eigene Haus und die Tätigkeit als Impresario trugen maßgeblich zu seinem Erfolg als „Operettenkönig" bei.
„Die Großherzogin von Gerolstein", entstanden für die Pariser Weltausstellung 1867, ist ein echter Offenbach: mit prickelnden Melodien, Witz und jeder Menge sozialkritischer Spitzen. Als Satire auf Kleinstaaterei und Provinzialismus, politische Intrigen und Machtmissbrauch lässt sich das Stück durchaus zeitlos verstehen.
Im Mittelpunkt steht die Großherzogin, die sich in den Soldaten Fritz verliebt und sich in den Intrigen der Hofschranzen General Bumm, Baron Puck und Baron Paul verfängt. Man darf gespannt sein, wie Kosky die Handlung zeitgemäß interpretiert. In jedem Fall erwartet den Zuschauer ein Spiel mit den Geschlechterrollen: Die lebenslustige Großherzogin wird abwechselnd von den Vollblutkomödianten Tom Erik Lie und Philipp Meierhöfer verkörpert.
Repertoire-Theater bewährt sich
„The show will go on!", verkündete Barrie Kosky anlässlich der Bekanntgabe des wegen der Seuche aktualisierten Spielzeit-Programms, mit dem die ursprüngliche Planung bis zum Jahresende über Bord geworfen wurde. Kein Jammern, kein Lamentieren. Sein Haus wolle neue Formate ausprobieren und fantasievoll mit den Hygieneregeln umgehen.
Nun gibt es bis Jahresende fünf coronakonforme Neuproduktionen – allesamt von Kosky selbst inszeniert, dem Intendanten und Chefregisseur in Personalunion. Alle Produktionen sind zwei- oder sogar dreifach besetzt. Das gilt auch für das Orchester, das in sämtlichen Vorstellungen auf 16 Musiker reduziert wird. Sollte es einen Krankheitsfall geben, muss nur eine Gruppe in Quarantäne; die andere übernimmt die Vorstellungen.
Ab 14. November plant Kosky ein Chorprojekt mit Schumann-Gesängen, das mit den Abstandsregeln kreativ umgeht. Eine neuartige Form „abstrakten Theaters" soll da entstehen. Im Dezember will er „Iphigenie auf Tauris" von Christoph Willibald Gluck neu inszenieren. Ohne Bühnenbild, aber mit Abstand und Maske. Das gehöre, so der Regisseur, schon immer zur griechischen Tragödie.
Auch die beliebte und weltweit bei Tourneen gefeierte „Zauberflöten"-Produktion in Stummfilm- und Comic-Optik muss Federn lassen. Nach wie vor fliegen hier rosa Elefanten zu Mozarts unsterblicher Musik, erscheint die Königin der Nacht als gigantische Spinne, tanzen Sternenbilder für Tamino. Doch nun spielen Tänzer die Rollen auf der Bühne, während die Sänger in den Kulissen stehen.
Dass Kosky derzeit so viel selbst inszeniert, ist nicht zuletzt Teil des Sparprogramms: So entfällt das Honorar für auswärtige Regisseure. Zudem hat Kosky Zeit, da einige seiner Projekte an anderen Theatern gestrichen wurden.
Das Beispiel der Komischen Oper zeigt: In der Krise bewährt sich das einmalige deutsche System des Repertoire-Theaters, bei dem es nicht nur hauseigene Orchester und Chöre gibt, sondern auch festangestellte Solisten.
Als kaum coronatauglich erweist sich hingegen der Stagione-Betrieb, der in den meisten anderen Ländern vorherrscht. Hier haben die Theater kein eigenes Solisten-Ensemble, so dass auch für die kleinsten Rollen Gäste engagiert werden müssen.
Kosky kann an der Komischen Oper aber auch flexibler reagieren als etwa die Kollegen nebenan in der Staatsoper Unter den Linden oder an der Bayerischen Staatsoper in München. Zwar gibt es hier ebenfalls angestellte Gesangssolisten; die großen Partien werden jedoch meist mit internationalen Stars besetzt. Aus vertraglichen Gründen also kann man dort nicht so einfach den ganzen Spielplan umwerfen, so hat man sich erst einmal darauf konzentriert, die ersten Wochen der Saison entsprechend umzubauen und anzupassen.
An der Komischen Oper in Berlin steht der Spielplan jetzt erst einmal bis Silvester. Doch niemand glaubt ernsthaft, dass man ab 1. Januar wieder zum business as usual übergehen kann. Man hofft auf eine halbwegs normale Spielzeit 2021/22. Barrie Kosky und sein Team bleiben optimistisch und flexibel. Und sollten die Corona-Regeln gar wieder gelockert werden, kann man binnen 48 Stunden zum ursprünglichen Spielplan zurückkehren.