Die Hinweise mehren sich, dass auch Entzündungen im Körper Auslöser für Depressionen sein können. Wissenschaftler forschen deshalb nach neuen Therapien.
Etwa jede vierte Frau und jeder achte Mann in Deutschland erleiden im Laufe ihres Lebens einmal oder sogar mehrfach eine Depression. Depressionen gehören zu den häufigsten und hinsichtlich ihrer Schwere am meisten unterschätzten Erkrankungen. Die Weltgesundheitsorganisation WHO geht davon aus, dass Depressionen oder affektive Störungen weltweit noch in diesem Jahr die zweithäufigste Volkskrankheit sein werden. Global sind mehr als 300 Millionen Menschen betroffen – vor allem in den modernen Industrieländern.
Betroffene haben meist eine gedrückte Grundstimmung, ihr Antrieb ist gemindert, und sie sind oft nicht in der Lage, kleinste Entscheidungen zu treffen, haben die Fähigkeit verloren, Freude zu empfinden. Dazu können Konzentrationsstörungen, Schuld- und Minderwertigkeitsgefühle kommen. Aber auch Schlafstörungen oder Appetitmangel können auftreten. Fast alle Patienten mit schweren Depressionen haben zumindest Suizidgedanken. Bei vielen Erkrankten kommen außerdem Ängste und körperliche Beschwerden wie Magen-, Kopf- oder Rückenschmerzen hinzu.
Meist sind Depressionen nicht auf einen einzigen Auslöser oder eine einzige Ursache zurückzuführen, sondern entwickeln sich aus einem Zusammenspiel unterschiedlicher Faktoren. Dabei wird zwischen psychosozialen und neurobiologischen Aspekten unterschieden. So kann jemand zum Beispiel eine erhöhte Anfälligkeit für Depressionen haben, weil er die entsprechende genetische Veranlagung (neurobiologisch) dazu hat, oder aber weil er beispielsweise traumatische Kindheitserlebnisse (psychosozial) hat. Der Beginn einer depressiven Episode wird zumeist mit konkreten Auslösern in Verbindung gebracht. Das können etwa Stress- und Überforderungssituationen, zwischenmenschliche Konflikte oder Verlusterlebnisse sein. Aber auch scheinbar positive Veränderungen wie ein Urlaubsantritt oder die Geburt eines Kindes können Auslöser sein. Ist die Veranlagung hingegen stark, erkranken Menschen auch unabhängig von äußeren Belastungen oder konkreten Auslösern.
Wer an einer mittelschweren oder schweren Depression erkrankt ist, die medikamentös behandelt werden muss, erhält gängige Antidepressiva. Das Problem: Rund ein Drittel der Patienten spricht auf diese Medikamente nicht an. An der Berliner Charité wird deshalb derzeit eine Studie mit Betroffenen durchgeführt, bei denen es trotz medikamentöser Therapie zu keiner ausreichenden Besserung der depressiven Symptomatik kommt. Sie wird an neun Unikliniken in Deutschland durchgeführt, unter anderem in Heidelberg, München und Frankfurt/Main. Die Idee dahinter: Die Wissenschaftler glauben, dass die Depressionen bei diesen Patienten durch Entzündungsprozesse im Körper ausgelöst werden. Das können etwa Stoffwechselprodukte bestimmter Darmbakterien oder Entzündungen im Zahnfleisch sein. Durch sie würden Botenstoffe freigesetzt, die sich auf das Gehirn auswirken und dort unterschwellige Entzündungen hervorrufen, die für die Depression verantwortlich sind. Dabei werden sogenannte Mikrogliazellen, die Entzündungszellen im Gehirn, aktiviert. Diese können das Nervensystem so stören, dass die Betroffenen depressiv werden. Nehmen die Patienten nun Antidepressiva, würde die eigentliche Ursache der Erkrankung, die Entzündung, gar nicht behandelt.
Viel Zytokin im Gehirn der Probanden
Bei der Studie, die Ende 2016 initiiert wurde, konnten die Wissenschaftler schon zu Beginn einen erhöhten CRP-Wert im Blut feststellen. CRP bedeutet C-reaktives Protein und wird vor allem bei Entzündungsreaktionen ausgeschüttet. Um gegen die Entzündungen im Körper vorzugehen, bekommen die Patienten das Antibiotikum Minocyclin. Normalerweise wird es bei entzündlichen Prozessen der Haut, also beispielsweise Akne, eingesetzt. Minocyclin dringt ins Gehirn ein, hemmt dort die Mikrogliazellen und verhindert den Abbau von Vitamin A. Das wiederum wirkt seinerseits antientzündlich. Würde das tatsächlich helfen, wäre es ein bahnbrechendes Ergebnis für die Behandlung von Depressionen. Die finalen Ergebnisse der Studie werden Ende des Jahres erwartet. Schon jetzt aber sehen die Forscher, dass es einigen Patienten deutlich besser geht. Sie wissen nur noch nicht welchen, denn die Studie ist doppelt verblindet. Das bedeutet, dass weder die Patienten noch die Ärzte wissen, wer ein Antibiotikum und wer ein Placebo erhält. Neben den Ergebnissen, ob Minocylin tatsächlich bei Patienten anschlägt, bei denen sich die depressive Symptomatik trotz Medikamentengabe nicht gebessert hat, erhoffen sich die Forscher aber noch etwas. Sie wollen mithilfe eines Bluttests einen depressionsbedingten erhöhten Entzündungswert erkennen können und so eine Depression vorhersagen, bevor sie entsteht. Außerdem wird an der Charité mit Zellkulturen experimentiert, denen Minocyclin beigefügt wird. In Zukunft könnte so bereits im Vorfeld einer Therapie festgestellt werden, ob das Medikament anschlagen wird oder nicht.
Aber nicht nur an der Charité in Berlin forscht man am Zusammenhang von Depressionen und Entzündungen im Körper. Schon länger wird vermutet, dass sogenannte Zytokine an der Entstehung depressiver Störungen beteiligt sein könnten. Zytokine sind Proteine, die das Wachstum und die Differenzierung von Zellen regulieren. Eine höhere Konzentration von Zytokin bringt das empfindliche Gleichgewicht des Glückshormons Dopamin und Noradrenalin, das eines der Stresshormone ist, in unserem limbischen System durcheinander. Gleichzeitig wird wahrscheinlich die Ausschüttung von Glückshormonen gebremst. Forscher der Uni Duisburg-Essen wollten dies überprüfen und haben bei zehn gesunden Freiwilligen künstlich eine heftige Immunreaktion ausgelöst. Und tatsächlich: Nach der Immunreaktion war sowohl im Nervenwasser als auch im Gehirn der Probanden ungewöhnlich viel Zytokin. Genauer gesagt der Botenstoff Interleukin-6 (IL-6), der zur Gruppe der proinflammatorischen Zytokine zählt und eine Signalsubstanz des Immunsystems darstellt. Je höher die Werte dieses Zytokins waren, desto stärker litten die zuvor gesunden Probanden an depressiven Symptomen. Die Forscher vermuten, dass IL-6 über die Blutbahn das Gehirn erreichen und hier durch die Modulation neuronaler Prozesse eine Depression bewirken könnte. Wie genau das funktioniert und welche Transportmechanismen zugrundeliegen, müssen weitere Untersuchungen noch zeigen. Die Idee der Forscher ist aber, Depressionen durch die Blockade dieses Botenstoffes gezielt zu behandeln. Bei rund 40 Prozent aller depressiven Patienten finden sich erhöhte Zytokinwerte. Es sind vor allem sie, die von den neuen Erkenntnissen profitieren könnten.
Dass Entzündungsprozesse im Körper grundsätzlich Wesensveränderungen oder kognitive Einbußen hervorrufen können, scheint klar. So kann sich etwa eine unbehandelte Syphilis im Körper ausbreiten und nach Jahren eine sogenannte Neurosyphilis mit Verhaltensänderungen hervorrufen. Betrifft eine HIV-Infektion auch das zentrale Nervensystem, kann es unter anderem zu kognitivem Abbau bis hin zu Demenz kommen. Auch beim Ebolavirus haben Studien gezeigt, dass Überlebende einer Infektion mit kognitiven Einbußen sowie vermehrt mit Depressionen und Angsterkrankungen zu kämpfen haben. Deshalb rückten neben der Forschung an Antibiotika zur Bekämpfung von Depressionen auch Entzündungshemmer in das Interesse der Wissenschaftler.
Für resistente Patienten eine Sensation
Chinesische Forscher der Huazhong University of Science and Technology in Wuhan haben sich daher in einer Überblicksstudie noch mal alle bis Anfang 2019 veröffentlichten Studien zum Zusammenhang von Entzündungen und Depressionen angesehen. Das Vorgehen war in allen 30 Unterstudien ähnlich. Auch hier wurde ein Teil der schwer depressiven Probanden mit anti-entzündlichen Mitteln behandelt. Die anderen Teilnehmer erhielten Placebos. Weder Ärzte noch Patienten wussten, wer echte und wer Pseudo-Medikamente bekam. Das Ergebnis: Die Behandlung mit Entzündungshemmern war im Schnitt um 52 Prozent erfolgreicher als mit Placebo. Die Symptome der Depression waren bei Patienten, die mit Entzündungshemmern behandelt wurden, deutlich schwächer als vorher. Dabei haben die Forscher Studien mit unterschiedlichen Wirkstoffen gegen Entzündungen gesichtet. Als besonders effektiv entpuppten sich sogenannte Statine, also Arzneistoffe, die als Cholesterinsenker eingesetzt werden. Auch Omega-3-Fettsäuren und nicht-steroidale Antirheumatika wie die entzündungshemmenden Schmerzmittel Aspirin, Ibuprofen oder Diclofenac erwiesen sich als wirksam. Zudem stellten die Wissenschaftler fest, dass die klassischen Antidepressiva bei Patienten noch besser wirken, wenn sie mit Entzündungshemmern kombiniert werden. Hintergrund ist, dass die antientzündlichen Mittel den Effekt der Medikamente gegen Depressionen zu verstärken scheinen. Nebenwirkungen konnten die Wissenschaftler kaum beobachten, nur hin und wieder seien Magen-Darm-Beschwerden aufgetreten.
Neurowissenschaftler der University College Cork in Irland kamen in einer Übersichtsstudie außerdem zu dem Schluss, dass umgekehrt auch Psychopharmaka eine antibiotische Wirkung haben können. Dabei handelt es sich vor allem um Antipsychotika. Diese wirken psychotischen Symptomen wie Halluzinationen und Wahnvorstellungen entgegen und haben meist gleichzeitig eine beruhigende und dämpfende Wirkung. Sie werden vor allem bei Schizophrenien und Manien eingesetzt, aber auch bei organisch bedingten psychischen Störungen und Demenzen, bei denen es zu Verwirrtheitszuständen und starker Unruhe kommt. Die Forscher haben die Wirkweise unterschiedlicher Antipsychotika untersucht. Das Ergebnis: Manche verändern das sogenannte Mikrobiom, also alle Mikroorganismen, die in unserem Darm leben und die wir häufig als Darmflora bezeichnen, aber auch auf der Haut und den Schleimhäuten – etwa in Mund, Rachen, Nase und Genitalien. Andere wirken gegen Mykobakterien oder das Escherichia coli-Bakterium, das Darmerkrankungen verursacht. Auch bei dem Antidepressivum Sertralin fanden sie eine antibiotische Wirkung.
Dass es Zusammenhänge zwischen unserem Darm, dem Immunsystem und seelischen Erkrankungen gibt und diese sich wechselseitig beeinflussen können, scheint also klar. Viele Details gilt es aber noch genauer zu erforschen. Vielleicht kommt dann auch tatsächlich die Antibiotika-Therapie gegen Depressionen. Für die Forschung, aber vor allem für die bislang medikamenten-resistenten Patienten wäre es eine bahnbrechende Neuerung.