Der Psychologe Dr. Martin Grunwald, Gründer und Leiter des Haptik-Forschungslabors am Paul-Flechsig-Institut für Hirnforschung an der Medizinischen Fakultät der Universität Leipzig, erklärt, warum der Mensch Berührungen braucht, welche Krankheiten bei Kontaktarmut auftreten können und warum die Arbeit mit den Händen so wichtig ist.
Herr Grunwald, warum sind Berührungen für uns Menschen so wichtig?
Berührungen sind für alle Reifungs- und Entwicklungsprozesse entscheidend. Wenn Sie in der Kindheit ein bestimmtes Maß an Berührungen nicht erfahren, entwickelt sich der Organismus einfach nicht.
Das gilt auch schon für Föten. Wir sind Säugetiere, und alle Säugetiere können sich nur in einem gewissen Maß entwickeln, wenn auch adäquate Körperstimulationen stattfinden.
Warum genau braucht der Körper das?
Eine Quelle der Kontaktabhängigkeit ist sicherlich, dass wir soziale Organismen sind. Der Kontakt zum anderen Lebewesen gehört zu unserem Lebensalltag dazu. Alle Säugetiere leben in Gemeinschaften.
Daraus hat sich der biologische Vorteil entwickelt, dass ein Lebewesen, das in sozialen Kontexten lebt, auf Körperreize positiv reagiert. Das ist notwendig und klug. Stellen Sie sich mal vor, jeder Berührungsreiz würde zu einer Erstarrung des Organismus führen.
Dann könnte man sozial nicht interagieren …
Genau. Das Ganze ist also ein cleverer biologischer Schachzug. Und bleibt ein Leben lang erhalten. In der frühen Kindheit sind Berührungsreize ein Entwicklungsmotor für die psychische und körperliche Entwicklung. Und später im Erwachsenenalter wird dadurch zum Beispiel das Immunsystem stabilisiert.
Was würde passieren, wenn ein Baby überhaupt keine Berührung bekommt?
Es würde hundertprozentig sterben. Wenn Sie das Baby ganz normal ernähren und sich ansonsten nicht mit ihm beschäftigen, dann stirbt es bald. Es geht hier um extrem fundamentale Prozesse. Berührungsreize sind wie ein Lebensmittel. Wie Wasser und Luft. Deswegen glaube ich auch, dass viele Zivilisationskrankheiten auf körperliche Vereinsamung zurückzuführen sind.
Ein wichtiges Thema sind auch die Frühchen: Wenn Babys zu früh auf die Welt kommen, fehlen ihnen bestimmte Berührungsreize. Der mütterliche Bauch bietet dem Fötus Berührungsreize, die wichtig für das Wachstum sind. Alles, was im Brutkasten stattfindet, sind notwendige, aber keine gesunden Berührungsreize. Wir haben in der Gesellschaft eine Haltung, dass wir es gut finden, dass nicht mehr so viele Frühchen sterben. Aber keiner redet über die lebenslangen Folgen. Die sind irreparabel. Viele dieser Frühchen sind geistig und körperlich nicht gesund und werden es auch nicht. Deshalb müssen wir alles dafür tun, dass das Kind so lange wie möglich im Bauch der Mutter bleibt.
Was genau passiert im Körper bei Berührungen?
Unter der Haut sitzen einige Millionen berührungssensitive Rezeptoren. Wenn die Haut berührt wird, registrieren die Sensoren und schicken ihre elektrischen Signale Richtung Gehirn. Dann verändern sich biochemische Prozesse im Gehirn, es kommt in einen anderen Aktivierungszustand als vor der Berührung. Mit dieser Veränderung entstehen hormonelle Prozesse im Gehirn, die über das Blut im Körper wirksam werden, und so an verschiedene Organbereiche des Körpers gelangen. Ein Berührungsreiz verändert also die Neurochemie des zentralen Nervensystems. Im zweiten Schritt folgt dann eine großflächige Veränderung der körperlichen Sphäre. Der Herzschlag wird langsamer, die Atmung wird flacher, die Muskulatur entspannt sich, das Immunsystem profitiert. Es ist ein Feuerwerk, das mit einer kurzen Berührung erzeugt werden kann. Sie brauchen dazu keine minutenlangen Massagen.
Warum hat es nicht die gleiche Wirkung, wenn man sich selbst mal am Arm streichelt?
Da kommen wir wieder zurück zu den Säugetieren. Für mich ist der Mensch einfach ein Säugetier. Tastsinn ist ein Teil der Säugetierkommunikation. Das gehört zu uns. Wenn uns jemand anderes berührt, dann finden die Prozesse statt, die ich oben beschrieben habe. Wenn wir uns selbst berühren, dann „weiß" unser Gehirn, dass wir es selbst sind. In diesem Fall finden andere biochemische Prozesse statt, als bei einer Berührung durch einen anderen Menschen. Auch hier sieht man wieder, wie clever die Biologie ist: wäre es nämlich anders, dann bräuchten wir den anderen Menschen gar nicht zum Überleben.
Wir könnten uns selbst umarmen. Aber weil wir soziale Säugetiere sind, ist die biologische Wirkung von Selbstberührungen eben stark begrenzt.
Wirkt eigentlich jede Berührung auf uns?
Ja, jede. Wir können visuelle und akustische Reize ignorieren aber eine Körperberührung ist immer ein biologisches Großereignis. Das können wir nicht ignorieren. Denn jede Berührung muss erst einmal daraufhin geprüft werden, ob sie gefährlich für uns ist oder nicht. Findet eine Körperberührung am richtigen Ort, zur richtigen Zeit, von der richtigen Person, mit dem richtigen Druck und an der richtigen Körperstelle statt, dann verwandelt unser Organismus diese Reize in angenehme Empfindungen. Stimmt eine der Bedingungen nicht, dann erleben wir Berührungen als unangenehm oder sogar als bedrohlich.
Glauben Sie, dass unsere Gesellschaft berührungsärmer wird?
Mich macht schon stutzig, dass es in jedem zweiten Haushalt ein Haustier gibt. Ich habe nichts gegen Haustiere, aber ich frage mich: Warum in jedem zweiten Haushalt? Und die Anzahl der alleinlebenden Menschen wird auch nicht weniger, sondern mehr. Dann haben wir die Wellnessangebote, die immer kontaktfreudiger werden. Es gibt Kuschelpartys und mittlerweile haben wir einen eigenen Berufsstand, der sich Berührer oder Berührerin nennt. Aus diesen Phänomenen kann man schon die Annahme ableiten, dass in unserer Gesellschaft eine bestimmte Form des Kontaktmangels besteht.
Was glauben Sie, woher kommt das?
Um gute soziale Beziehungen aufzubauen und zu entwickeln, braucht man Zeit und Muße. Man kann nicht ständig mit digitalen Technologien beschäftigt sein und gleichzeitig eine analoge Freundschaft zu einem realen Menschen aufbauen.
Man muss sich entscheiden. Die Entscheidung fällt heutzutage für viele Menschen zugunsten technischer Kommunikation aus. Im extremen Fall ist man irgendwann allein. Die jüngere Generation hat nachgewiesenermaßen erhebliche Probleme, sich zu binden und sich festzulegen.
Könnten Roboter in der Zukunft ein Ersatz für Berührungen sein?
Es muss nicht unbedingt ein anderer Mensch sein. Es gibt ja auch Massagestühle und verschiedene Massageapparaturen. In gewissen Grenzen werden hierdurch positive Gefühle ausgelöst. Wir müssen ja auch nicht den Physiotherapeuten persönlich kennen. Trotzdem fühlen wir uns in der Regel nach einer Massage besser. Der Mensch ist da schon sehr robust. Wie weit diese Robustheit geht, und ob wir eines Tages ein Robotermännchen an unseren Körper wirklich ranlassen, das muss die Zukunft zeigen. Ich bin sehr skeptisch, was diese Technologie und ihr Einsatz als Kuschelersatz angeht.
Warum?
Ich bin erstaunt, dass mein Computer mir alle drei Wochen den Dienst verweigert. Es ist ein normaler Computer und bei gewöhnlicher Nutzung ist er dann nach einer gewissen Zeit so überlastet, dass nur Ausschalten hilft. Und das viel komplexere System, ein Roboter, soll im direkten Körperkontakt zum Menschen und störungsfrei funktionieren? Eine Utopie, die sicherlich erst in 50 oder 100 Jahren Realität werden könnte.
Was kann bei Erwachsenen passieren, die kaum oder gar keine Berührungen bekommen?
Jeder hat einen individuellen Bedarf nach Körper-Interaktionen, das ist individuell verschieden. Wenn Sie jemanden betrachten, der sehr kontaktbedürftig ist, der ist natürlich von einem Kontaktmangel stärker betroffen als jemand, der eher zur Einsiedelei neigt. Der Bedürftige kann in Mangelsituationen leichte bis mittelgradige Depressionssymptome und andere psychische Störungen ausbilden. Bis hin zu psychosomatischen Erkrankungen. Solche Symptome sind nicht leicht zu erkennen, aber man muss sie sehr ernst nehmen.
Welche Wirkung hat das, wenn wir Dinge mit den Händen berühren beziehungsweise mit den Händen arbeiten?
Das Selbertun, das Manipulieren einer dreidimensionalen Umwelt, erleben wir immer als etwas Befriedigendes. Häkeln, Nähen, Schreinern und so weiter … Da spielt die Haptik eine wichtige Rolle. In unserem Alltag fassen wir zu 90 Prozent Kunststoffoberflächen an. Wir leben in einer eindimensionalen Kunststoffwelt. Wenn Sie handwerkeln, Dinge bearbeiten, haben Sie einen komplexen sensorischen Input durch Holz, Metall oder Stoffen, das ist schon was ganz anderes. Diese Art von Reizen tut uns gut, weil sie eine höhere Komplexität haben als immer nur glatte Kunststoff- oder Handy-Oberflächen. Unsere Tastsinnesfähigkeiten verarmen im Alltag.