Das Dilemma zwischen Nähe und Distanz hat seit jeher große Denker ebenso wie kleine Geister umgetrieben. Es gehört zu den Grundkonstanten menschlicher Existenz.
Der alte Großmeister hat es geahnt: In Wirklichkeit sind Menschen direkte Artverwandte der Stachelschweine. So hat es zumindest Arthur Schopenhauer gesehen und in einer kleinen Parabel erklärt. Aufgeschrieben vor ziemlich genau 170 Jahren gewinnt die Erzählung heute dank Corona ungeahnte Aktualität.
Schopenhauers Überlegung: Eine Schar Stachelschweine entwickelt an einem kalten Tag das Bedürfnis nach Wärme. Die Viehcher rücken zusammen, was ziemlich schmerzhafte Erfahrungen bringt. Also gehen sie wieder auf Abstand, was aber nur bedeutet: Weiter frieren. Die Moral der Geschichte ist klar: Es kommt auf die richtige Distanz an. Welche das sei, darüber schwieg sich Schopenhauer aus.
Dank Corona ist die Frage geklärt, die Antwort ist seit ein paar Monaten allgegenwärtiger Alltag: 1,50 Meter. Weniger darf es nicht sein, ein bisschen mehr schon. Andernorts hat man sich auf zwei Meter verständigt. In Spanien zum Beispiel. Aber da ist es ja auch wärmer. Wobei sich solche Ironie angesichts der Entwicklung eigentlich verbietet.
Mensch als Wesen, das Grenzen zieht
Schopenhauers berühmte Parabel ist auch nur ein Versuch, sich der uralten Frage nach Nähe und Distanz zu nähern. Eine Frage, die in der ganzen Geschichte der Philosophie immer wieder auch große Geister umgetrieben hat und damit Indiz für ein grundlegendes Problem menschlicher Existenz ist. Was eine lange Zeit eher Philosophen (und Theologen) umgetrieben hat, daran arbeiten sich in der modernen Welt noch ganz andere Professionen ab, etwa Soziologen, Psychologen oder Pädagogen. Zudem ist eine breit aufgestellte Therapeutenschar bemüht, ihr Klientel quer durch die Gesellschaft bei der Suche nach dem richtigen Maß zu helfen. Das Dilemma zwischen Nähe und Distanz ist eine der Grundkonstanten menschlicher Existenz. Kaum verwunderlich, weil dahinter nicht weniger als grundsätzliche Fragen nach meinem Selbst und den anderen stecken.
Die Erkenntnis, dass der Mensch ein gesellschaftliches Wesen sei, ein „Zoon politikon", geht wohl auf den alten Griechen Aristoteles zurück. Angewiesen auf die Gemeinschaft mit anderen ist der Mensch für sich alleine nichts. Alleine hat er keine Überlebenschance, was die Suche nach Nähe in einer Gruppe plausibel macht, und alleine wäre er vermutlich auch nicht er selbst. Denn was wäre der begnadeste Musiker, wenn es kein Publikum, keine Kritiker, keine Komponisten, keine Konkurrenten gäbe? Vermutlich wäre er nicht einmal Musiker, wenn es keinen gäbe, der sein Treiben als Musik erkennen würde. Mit einer vergleichbar bitteren Erfahrung muss derzeit die ganze durch Anti-Corona-Maßnahmen ausgebremste Künstlerzunft klarkommen. Kein live gestreamtes Wohnzimmerkonzert kann die Nähe zum Publikum ersetzen. Das gesellschaftliche Wesen, das folglich auf Nähe existenziell angewiesen ist, trägt gleichzeitig aber immer schon die Ambition eigener Einzigartigkeit mit sich herum.
Und die lässt sich vor allem durch Abgrenzungen kenntlich machen. Das ist bei jedem Heranwachsenden auf der Suche nach sich selbst und einer Rolle in der Gesellschaft zu besichtigen. Diese Suche nach eigener Identität, nach Einzigartigkeit durch Abgrenzung und das gleichzeitige Zugehörigkeits- also Nähebedürfnis ist eine Dauerzerreißprobe. Ist die bestanden, setzt sich das Ganze, jetzt ganz erwachsen und angekommen im „ordentlichen" Leben, mit anderen Mitteln fort. Ein nachbarschaftlicher Streit um den Gartenzaun ist mehr als bloßer Territorial- oder Machtkampf, er ist Fortsetzung des ewigen Ringens um das richtige Maß zwischen Nähe und Distanz – auf schmalem Grat.
Der Mensch als „das Grenze ziehende Wesen" wird so zu einer plakativen Beschreibung, um das ständige Ringen zwischen Nähe und Distanz greifbarer zu machen. Es ist allerdings keine Antwort darauf, warum diese Zerrissenheit offensichtlich zum Menschsein gehört, und das in einem Maße, dass – ebenso offenkundig – jede Generation auf ihre jeweilige Art und Weise mehr oder mindert daran scheitert, diese Widersprüchlichkeit in den Griff zu bekommen, und die nächste neu anfangen muss.
Dabei spielt das Nähe-Distanz-Dilemma auf unterschiedlichen, aber eng miteinander verwobenen Ebenen. Das eine ist die persönliche Beziehungsebene im Nahbereich, das andere sind gesellschaftliche Vorstellungswelten. Beides spiegelt einerseits, welches Bild vom Menschen vorherrscht und wie folglich regulierende Verhaltenserwartungen aussehen, und andererseits, welches Bild der Einzelne von sich selbst und von seinem Verhältnis zu anderen hat. Die Antworten darauf fallen in der höfischen Gesellschaft der Renaissance anders aus als in einer modernen Demokratie. Und in der analogen Welt anders als in der digitalen, in der sich der alte Zwiespalt zwischen Nähe und Distanz in raffinierter Unterwanderung aufzulösen scheint. Nähe und Distanz fallen da bei gleichzeitiger Auflösung des Ortes ineinander.
In den gesellschaftlichen Auseinandersetzungen der jüngeren Zeit stehen Begriff wie Solidarität und Eigenverantwortung stellvertretend für kontrastierende Leitbilder über den Menschen und das gesellschaftliche Zusammenleben.
Ambition eigener Einzigartigkeit
Das Pendel zwischen den Polen Nähe und Gemeinschaft auf der einen sowie Abgrenzung und Individuum auf der anderen Seite hat dabei einen deutlichen Schwung in Richtung Distanz genommen. Was die einen als Entsolidarisierung kritisieren, ist für die anderen mehr individuelle Freiheit. Wenn ich in erster Linie für mich selbst verantwortlich erklärt werde, scheint die Suche nach Nähe (außer zu mir selbst) nicht das Erfolg versprechende Mittel erster Wahl zu sein. Prioritäre Aufgaben sind dann Selbstinszenierung und Selbstoptimierung.
Wobei der Versuch, sich selbst zu verbessern, Grundlage menschlicher Entwicklung ist. Strittig war immer und ist weiter, was man in diesem Zusammenhang unter „Verbesserung" verstehen will. Die Bildungsideale des Humanismus meinen damit jedenfalls etwas anderes als Vertreter von Denkrichtungen, die Worte wie Humankapital geprägt haben.
In der Logik einer „neoliberalen Moderne" hat sich eine Selbstoptimierungsideologie entwickelt, die, wie Yuval Noah Harari in seinem Bestseller „Homo Deus" eindrucksvoll skizziert, via Biotech und KI die Türen zu einer Welt optimierter Cyborgs ziemlich weit aufstößt. Wer sich auf diesen Weg macht, für den ist das uralte Ringen zwischen Nähe und Distanz im Grunde kein Thema mehr.
Dieser eingeschlagene Weg schien unaufhaltsam vorgezeichnet. Bis Sars-CoV-2 die Bühne betrat. Das unsichtbare Virus erforderte Maßnahmen, die zu einem neuen Paradox von Nähe durch Distanz führten. Immerhin war damit Nähe wieder ein Thema, die unmittelbar persönliche und die gesellschaftliche Nähe. Die erzwungene räumliche Distanz schien persönliche Nähe zu intensivieren. Gesellschaftlich war der erste Reflex auf die Krise ein Zusammenrücken, indem man sich aus dem Weg ging. Die paradoxhafte Umkehrung erschließt einen neuen Blick auf das Grunddilemma. Dabei hat die Soziologin Martina Franzen in diesem Zusammenhang angemerkt, dass der schnell geprägte Begriff vom Social Distancing ziemlich irreführend ist, weil es gerade nicht darum geht, sozial auf Distanz zu gehen, sondern im Gegenteil, das soziale Leben unter den massiv erschwerenden Bedingungen aufrechtzuerhalten. Auch unter Zuhilfenahme der digitalen Möglichkeiten.
Dabei funktioniert die Kommunikation im digitalen Raum, so weit man Kommunikation auf den Austausch von Informationen eingrenzt, ganz leidlich. Der nonverbale Kommunikationsanteil fehlt, da können die Meeting- und Konferenztools technisch noch so gerüstet und perfektioniert sein.
Und kein Ellenbogengruß kann ersetzen, was ein einfacher Handschlag vermittelt. Das Bedürfnis nach Nähe zeigt sich als Suche nach Unmittelbarkeit, nach Echtheit. Was nichts daran ändert, dass wir diese unmittelbare Echtheit, einmal damit konfrontiert, oft genug auf Distanz halten wollen. Es bleibt eine der dem Menschen eigene Zwiespältigkeit. Womit das stachelschweinähnliche Ausprobieren in die nächste Runde geht.