Von den ersten Corona-Maßnahmen blieben die Wintersportarten noch weitestgehend verschont, doch die zweite Welle trifft sie hart. Es hagelt Absagen, die finanzielle Not ist groß.
Wenn man so will, ist Felix Neureuther gerade rechtzeitig zurückgetreten. Der ehemalige Skirennläufer hat „immer extrem von den Zuschauern gelebt", wie er selbst sagt. „Ich habe es geliebt, diese Emotionen zu spüren." Doch von den Zuschauer-Rängen wird wohl für lange Zeit nichts oder nur sehr wenig zurückkommen – und das nicht nur im alpinen Ski-Zirkus. Der komplette Wintersport stellt sich auf eine harte Saison mit vielen Geisterrennen, hohen Kosten, einem immensen Organisationsaufwand und einem abgespeckten Wettkampfkalender ein. Nachdem die Wintersportarten von den Einschränkungen im vergangenen Frühjahr weitestgehend verschont geblieben waren, trifft sie die zweite Corona-Welle mit voller Wucht. 15 Monate vor den Olympischen Winterspielen scheinen die Verantwortlichen die Saison nur noch retten zu wollen – ein finanzielles Fiasko ist fast schon eingeplant. Eine Absage der Wettkämpfe wäre aber oft ein noch größeres Desaster. „Die Skirennen, Biathlon, das Skispringen, Langlauf und der ganze Wintersport müssen stattfinden. Sonst wird es für die Verbände und auch die Veranstalter eine Katastrophe", sagte der frühere Mannschafts-Weltmeister Neureuther (33) in der ARD-Sportschau. „Es wäre dramatisch, wenn dieses Jahr kein Wintersport stattfinden könnte. Da hängt einfach zu viel dran."
Beim traditionellen Auftakt des Wintersports, dem alpinen Skirennen in Sölden, waren die Corona-Auswirkungen schon deutlich zu spüren. Der Ferienort in den Tiroler Alpen wurde quasi komplett abgeschottet und war nur für den Weltcup-Tross zugänglich. Dafür wurden die Rennen sogar um eine Woche nach vorne gezogen, um dem touristischen Skilauf aus dem Weg zu gehen. Alle Beteiligten wurden strikt voneinander getrennt. „Die Konzepte haben sehr gut funktioniert, Sölden war optimal darauf vorbereitet", sagte Neureuther. Doch ganz undurchlässig war die Blase offenbar nicht: Gesamtweltcupsieger Aleksander Aamodt Kilde wurde nach seiner Rückkehr aus Sölden positiv auf das Coronavirus getestet.
„Ich habe es geliebt, diese Emotionen zu spüren"
Solche Fälle sind auch mit dem besten Hygienekonzept der Welt nicht auszuschließen. Was aber auch funktionieren muss, sind Rennen ohne Zuschauer. Auch die Schweizer Organisatoren gaben bekannt, dass all ihre Rennen ohne Fans stattfinden werden. Also keine Jubelszene am Hundschopf in Wengen, keine Menschenmassen im Zielbereich von Adelboden. „Natürlich vermissen wir die Zuschauer alle sehr", sagte Neureuther. „Ich persönlich kann mir gar nicht vorstellen, wie es ist, wenn man unten abschwingt – und da ist niemand." Sölden sei jedoch ein „sehr wichtiger Schritt in die richtige Richtung gewesen", so Neureuther. Der Sohn der einstigen Ski-Asse Rosi Mittermaier und Christian Neureuther betonte, der Ski-Weltverband Fis habe sich „viele Gedanken gemacht", Geisterrennen seien „definitiv durchführbar".
Allerdings nur in der „Bubble", der Ski-Blase, und das nicht einmal in Nordamerika, wo das Virus lange Zeit am Schlimmsten wütete. Die drei Nordamerika-Rennen im November und Dezember wurden wegen Corona abgesagt und nach Europa verlegt. Es gab weitere kleinere Anpassungen im Terminkalender, doch die deutschen Rennen in Garmisch-Partenkirchen (Frauen: 30./31. Januar, Männer: 5./6. Februar) und die WM in Cortina d’Ampezzo (8. bis 21. Februar) waren zunächst nicht gefährdet.
Auch die Biathleten leben, trainieren und messen sich in den kommenden Monaten in einer Blase – allein schon aus Gesundheitsgründen. „Die Sicherheit der Sportler hat für uns Priorität", sagte Präsident Olle Dahlin vom Biathlon-Weltverband Ibu. Deshalb werden Reisen so gut es geht gestrichen, die ersten sechs Weltcups wurden auf drei Orte konzentriert: Kontiolahti (Finnland), Hochfilzen (Italien) und Oberhof. Östersund (Schweden), Annecy Le-Grand Bornand (Frankreich) und Ruhpolding strich die Ibu aus dem Kalender.
Wenn man die finanziellen Sorgen der Veranstalter hört, ist eine Absage aber womöglich nicht einmal das schlimmste Los. In Oberhof, dem Mekka der Skijäger, droht ein Verlust von über einer Million Euro. Und das bei einer günstigen Rechnung. Mitte Oktober planten die Organisatoren mit maximal 9.000 Zuschauern pro Tag, doch diese Zahl geriet angesichts der jüngsten Corona-Entwicklungen ins Wanken. Dass wie sonst 25.000 Menschen nach Oberhof pilgern, um den Athleten zuzujubeln und ein spektakuläres Biathlon-Fest zu feiern – völlig illusorisch. Trotzdem soll das Event unbedingt stattfinden, die Organisatoren ließen sich sogar auf die vom Weltverband geforderte Doppel-Veranstaltung (7. bis 11. und 13. bis 17. Januar) ein. Die Sorge vor einer Nicht-Berücksichtigung der Ibu in den kommenden Jahren als Weltcup-Standort war groß. Das Risiko trägt der Steuerzahler: Nach einem Medienbericht kommt das Land Thüringen für das zu erwartende Defizit auf.
Aus der Vorfreude ist längst ein Albtraum geworden
Noch größer sind die Sorgen im Eiskanal. Der WSV Königssee ist als Ersatz für das kanadische Whistler als WM-Gastgeber der Rodler eingesprungen – und musste zwischenzeitlich selbst mit einem Lockdown im Berchtesgadener Land kämpfen. Aus der Vorfreude auf den Saisonhöhepunkt (29. bis 31. Januar) ist bei Felix Loch und Co. längst ein Albtraum geworden. Sollte sich das Infektionsgeschehen vor Ort nicht bessern, ist eine Austragung der WM unrealistisch. Doch das Organisationskomitee kämpft weiter. „Wir machen das", sagte OK-Chef Alexander Resch, „um den Sport über Wasser zu halten."
Im Bob- und Skeletonsport ist Altenberg kurzfristig als WM-Ort eingesprungen, doch dort will man auf den Kosten ohne Zuschauereinnahmen nicht sitzenbleiben. Eine Absage der zweiwöchigen Weltmeisterschaft könnte die Lösung sein. „Wir werden da kein eigenes Geld mitbringen und aus Eigenmitteln Zigtausende Euro reinbuttern", sagte OK-Chef Jens Morgenstern dem Sport-Informations-Dienst. „Es muss sich schon ausgehen."
Einen Minusbetrag bei der Endabrechnung erwarten auch andere Veranstalter von Wintersportevents, hinzu kommen die vielen Unwägbarkeiten aufgrund der verschärften Corona-Lage. Was ist zum Beispiel, wenn die Regierung bei einem Lockdown auch die Austragung von professionellen Sportevents verbietet? Man plane „ins Blaue", gab Veranstalter Florian Stern von der Nordischen Ski-WM in Oberstdorf (23. Februar bis 7. März) zu. Dabei sei gerade bei der Austragung von Weltmeisterschaften „ein gewisser Vorlauf unabdingbar". Doch Planungssicherheit gibt es in diesen Tagen nicht. Die 2.500 Zuschauer im Skisprungstadion und 2.000 im Langlaufstadion, die bei der Nordischen Ski-WM im Etat verankert sind, könnten schon bald Makulatur sein. Was allerdings deutlich zunimmt, sind Kosten für Hygiene- und Schutzmaßnahmen.
Mit ähnlichen Problemen kämpft auch die traditionelle Vierschanzentournee, angesichts der Entwicklungen sind Geisterspringen mehr als wahrscheinlich. Für das Neujahrsspringen in Garmisch-Partenkirchen ist das schon beschlossene Sache. „Wir haben uns von Zuschauern verabschiedet", sagte Michael Maurer, Präsident des Skiclubs Partenkirchen, dem „Münchner Merkur". Im Vorjahr feierten noch 21.000 Menschen im Stadion eine Skisprung-Party – in Corona-Zeiten undenkbar. Für das Auftaktspringen in Oberstdorf wurden 2.500 Tickets verkauft, für die Springen in Innsbruck und Bischofshofen stand eine Entscheidung noch aus. Aufgrund der verstärkten Corona-Fälle auch unter Sportlern geht zudem die Angst um, Wettbewerbe könnten durch Quarantäne-Maßnahmen verwässert werden. Deshalb hat der internationale Ski-Weltverband Fis festgelegt, dass Skiprung-Weltcups nur dann durchgeführt werden, wenn von den besten zehn Nationen mindestens sieben am Start sind. Um Ansteckung auf Reisen zu vermeiden, wollen die Teams aus Japan mit Superstar Ryoyu Kobayashi, den USA und Kanada den gesamten Winter in Europa verbringen.
Planungssicherheit gibt es in diesen Tagen nicht
Im Snowboard wurden der Saisonauftakt in Peking sowie die Rennen auf der Seiseralm in Italien und in Blue Mountain/Kanada bereits gestrichen. Auch im Eisschnelllauf hagelte es Absagen, und ob die als Ersatzveranstaltungen geplanten Events in den Niederlanden Anfang 2021 stattfinden können – fraglich. Ungewissheit ist sportartenübergreifend derzeit der Normalzustand. Ob im Langlauf der komplette Weltcup-Kalender inklusive des City-Events kurz vor Weihnachten in Dresden (19. und 20. Dezember) und im Eiskunstlauf die vollständige Grand-Prix-Serie stattfinden können – niemand weiß es.
Egal ob auf dem Eis, auf der Piste, an der Schanze oder im Eiskanal: überall drohen erhebliche Finanzlöcher, die die Ausfallversicherungen bei Weitem nicht abdecken. Man sei „auch auf staatliche Hilfen" angewiesen, teilte der Deutsche Ski-Verband (DSV) unmissverständlich mit. Die Wintersportarten wollen auch von einem ähnlichen 200-Millionen-Euro-Hilfspaket profitieren, das die Bundesregierung im Sommer für die Profivereine geschnürt hatte. „Wir sind an einem Punkt, an dem der Sport Hilfe zur Selbsthilfe braucht", sagte DOSB-Präsident Alfons Hörmann. Es gehe aktuell vor allem darum, „Schäden abzuwenden". Nicht nur für den Profisport. Viele der Einnahmen aus den Wintersportevents fließen traditionell in die Nachwuchsarbeit der Vereine.