Die Entwicklung der Pandemie in Europa hält alle Mitgliedsstaaten in Atem. Dabei dürfen grundsätzliche Fragen, die schon länger auf der Agenda stehen, nicht in den Hintergrund treten. Dazu gehört die Frage über den Umgang mit Ungarn und Polen.
Einer der größten politischen Kämpfe in Brüssel in diesen Wochen rankt sich um die Frage, ob EU-Finanzhilfen nur noch an Mitgliedstaaten verteilt werden dürfen, die sich an die gemeinsamen Regeln für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit halten. Im Zentrum der Auseinandersetzung stehen die populistischen Regierungen in Budapest und Warschau, die in den letzten Jahren wieder und wieder gegen die Grundwerte der EU verstoßen haben. Victor Orban und seine Fidesz-Partei propagieren öffentlich das Konzept der „illiberalen Demokratie" und versuchen, diese Ideologie in Ungarn in die Tat umzusetzen.
Seit dem Machtantritt im Jahre 2012 hat Orban nichts unversucht gelassen, um die unabhängigen Medien zu drangsalieren und gleichzuschalten. Er hat die Unabhängigkeit der Justiz untergraben und die Freiheit der Wissenschaft eingeschränkt. Diese Liste ließe sich noch weiter fortsetzen mit einer Kontrolle der Zivilgesellschaft und der Attacken auf Minderheiten in diesem Land. Die zuständige EU-Kommissarin Vera Jourova bezeichnete deshalb Ungarn als „kranke Demokratie".
In der EU waren viele empört, aber es passierte nicht viel. Die EU-Kommission hat Ungarn mehrfach blaue Mahnbriefe geschrieben und auch den Europäischen Gerichtshof in Luxemburg angerufen. Geholfen hat es nicht und schlimmer noch: Der autokratische Stil von Victor Orban gefällt einigen Politikern und findet Nachahmer. Jaroslav Kasczinsky und seine PIS versuchen seit der Regierungsübernahme im Jahre 2015 das Orban-Modell auf Polen zu übertragen.
Das Europäische Parlament schlägt seit mehreren Jahren Alarm und fordert neue Möglichkeiten, um anti-demokratisches Verhalten innerhalb der EU zu sanktionieren. Das wurde immer wieder im Ministerrat von einigen Regierungen geblockt. Deutschland hat sich auch nicht mit Ruhm bekleckert und zu lange hingeschaut, wie Orban Europa auf der Nase rumläuft. Die bayerische CSU hat ihn sogar auf ihren Parteitagen gefeiert.
Appelle und Urteile reichen nicht mehr
Da Appelle und sogar Gerichtsentscheidungen nicht viel ausgerichtet haben, fordert das Europäische Parlament, beim sensibelsten Körperteil, dem Geldbeutel, mit Sanktionen anzusetzen. Kein EU-Geld bei systematischen Regelbrüchen! Die jüngste Eurobarometer-Umfrage hat ergeben, dass 75 Prozent der Befragten EU-Bürger die Koppelung von Finanzhilfen mit der Einhaltung von demokratischen Grundsätzen unterstützen.
In diesen Wochen gibt es eine goldene, nicht so schnell wiederkehrende Gelegenheit. Bis Ende des Jahres sollen der mehrjährige Haushalt der EU wie auch zusätzlich das Corona-Hilfsprogramm beschlossen werden. Die enorme Summe von 1,8 Billionen Euro stehen zur Genehmigung und Verteilung auf der Brüsseler Agenda. Die vier pro-europäischen Fraktionen EVP, S&D, Liberale und Grüne haben parteiübergreifend erklärt, den Haushaltsbeschlüssen nur zuzustimmen, wenn die Mittelvergabe an die Gewährleistung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit gekoppelt wird. Orban und Kasczinsky schäumen und drohen ihrerseits mit einem Veto.
Allen voran sind Bundeskanzlerin Angela Merkel und Außenminister Heiko Maas gefordert, eine Lösung zu finden, da Deutschland den Vorsitz der EU bis Ende 2020 hat und Kompromisse aushandeln muss. Was bisher auf den Tisch gelegt wurde, ist enttäuschend. Sanktionen sind nur vorgesehen, soweit ein Fehlverhalten „direkten Einfluss" auf die EU-Finanzen hat, mit anderen Worten, nur bei Korruption und Veruntreuung von EU-Geldern. Dazu gibt es bereits die Betrugsbekämpfungshehörde OLAF. Es hat sich des Öfteren gezeigt, wie schwierig der Nachweis der Veruntreuung ist, da der Orban-Clan dazugelernt hat und Vorgänge verschachtelt und verdunkelt werden. Der Haushaltskontrollausschuss des EP kann ein Lied davon singen. Bleibt es bei dem deutschen Vorschlag, kann sich Orban genüsslich zurücklehnen. Viel zu befürchten hätte er nicht. Ich hoffe deshalb auf die Hartnäckigkeit des Parlaments, Sanktionen gerade auch bei Verletzung demokratischer Grundregeln zu verlangen.
Die EU verlangt zu Recht von Kandidatenländern den Nachweis, dass sie Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte achten. Es kann nicht sein, dass einmal Mitglied im Club der EU, die gemeinsamen Werte über Bord geworfen werden. Ungarn und wahrscheinlich auch Polen würden heute den Aufnahmetest in die EU nicht bestehen. Es besteht also Handlungsbedarf. Wenn nicht jetzt, wann dann? Eine bessere Gelegenheit gibt es so schnell nicht wieder, die Glaubwürdigkeit der Europäischen Union zu wahren und Autokraten in die Schranken zu weisen.
Jo Leinen war von 1999 bis 2019 Mitglied im Europäischen Parlament und ist seit 2011 Präsident der Europäischen Bewegung International (EMI).