Der Weg in den zweiten Stillstand ging rasch: Angesichts fehlenden Pflegepersonals und steigender Infektionszahlen übernahmen die Ministerpräsidenten den Plan der Bundesregierung. Im Parlament regt sich jedoch Widerstand.
Wir haben große Zweifel, ob die beschlossenen Maßnahmen wirksam sind, tatsächlich die Pandemie zu bremsen." Ungewöhnlich kritische Worte von FDP-Chef Christian Lindner bei der Generalaussprache zum erneuten Lockdown im Bundestag. Noch beim ersten Herunterfahren des Landes war vom Superstar der Liberalen wenig bis gar nichts Kritisches zu hören, weder zu den Pandemie-Maßnahmen noch den damit einhergehenden Freiheitseinschränkungen. Jetzt aber sprach Lindner von „einem künstlichen Koma" und befürchtet „eine große Gefahr für den Zusammenhalt und auch für die Zukunftsfähigkeit unseres Gemeinwesens." Der FDP-Chef, dem man selbst ein halbjährliches politisches Koma vorwerfen könnte, ist aber nicht von allein erwacht. Er wurde regelrecht von eigenen Leuten wachgerüttelt.
Noch auf dem Bundesparteitag seiner Partei im September gefiel sich Lindner vor allem in Selbstdarstellung und angegrauten Männerwitzen über ehemalige Führungsmitarbeiterinnen. Schon zu jener Zeit wurde gemosert: „Den Christian muss man zum Jagen tragen." Gemeint war damit die nur verhaltene Auseinandersetzung des FDP-Chefs mit den massiven Freiheitsbeschränkungen im Frühjahr während des ersten Lockdowns im März und April. Als in den vergangenen Wochen klar wurde, dass sich eine derart strikte Maßnahme im November wiederholen kann, preschte schließlich Lindners Parteifreund Wolfgang Kubicki vor. Der stellvertretene Präsident des deutschen Bundestages rief die Menschen dazu auf, zu klagen, wenn sie die erneuten Quarantäne-Maßnahmen nicht mehr logisch nachvollziehen könnten. Endgültig platzte Kubicki der Kragen, als die Kanzlerin die Ministerpräsidentenkonferenz um 48 Stunden vorverlegte und mit den Landeschefs den Rahmen für den zweiten Lockdown festlegte. In einem Gastbeitrag in der „Passauer Neuen Presse" notierte Kubicki: „Eine parlamentarische Debatte war abermals nicht möglich, sondern nur die nachträgliche Kenntnisnahme. Damit leiden die Corona-Maßnahmen schon an schwerwiegenden Geburtsfehlern. Schwerwiegend sind auch die inhaltlichen Bedenken. Der deutliche Appell von zwei führenden Virologen und der Kassenärztlichen Bundesvereinigung stellt die Zweckmäßigkeit eines erneuten Lockdowns infrage und macht konkrete Vorschläge, wie wir freiheitsschonender mit dem gefährlichen Virus umgehen können." Kritische Stellungnahmen zu den Beschränkungen der Pandemiemaßnahmen waren seitens des Bundestages bisher kaum zu vernehmen. Doch endlich scheint der Knoten geplatzt zu sein, der die parlamentarische Opposition in Deutschland bis dato zu lähmen schien. Der parlamentarische Geschäftsführer der FDP-Bundestagsfraktion Marco Buschmann legte gleich nach: „Wir brauchen Maßnahmen, die wirksam und verhältnismäßig sind, ein neuer Lockdown, bei dem das ganze Land über einen Kamm geschert wird, wird diesem Anspruch nicht gerecht. Es kann nicht sein, dass ganze Branchen als Sündenböcke in Haft genommen werden."
Kritik an Prozedere der Maßnahmen
Aber nicht nur die Freien Demokraten reagierten mehr als verschnupft auf den Beschluss der Kanzlerin mit den Ministerpräsidenten. In der Riege der Landeschefs selbst regte sich Widerstand. Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow (Die Linke) fand als Beteiligter an der Veranstaltung, dass alles etwas sehr holterdiepolter über die Bühne ging und ließ in das entsprechende Protokoll den „Parlamentsvorbehalt" für sein Land eintragen – nichts anderes als die Feststellung, dass solcherlei Einschränkungen von den Volksvertreters legitimiert werden müsse. „Ich erwarte auch, dass der Deutsche Bundestag die Gesundheitsnotlage erst einmal feststellt. Ich erwarte da konkrete Parlamentsbeschlüsse. Und es würde unserer Demokratie ganz gut zu Gesicht stehen, wenn es erst diese Parlamentsbeschlüsse geben würde und dann die Regierenden danach handeln und nicht umgekehrt, wie in den letzten Monaten." Bei aller Kritik, am Ende stimmte er den Beschlüssen zu. Ihm bleibt die gute Hoffnung, dass wir nicht nur das Coronavirus immer besser kennen- und verstehen lernen, sondern auch den politischen Umgang mit der Pandemie. Ramelow: „Wir müssen lernen, mit dem Corona-Risiko zu leben, und wir müssen auch das Lebensrisiko in uns aufnehmen, damit wir nicht vor lauter Angst auf Corona starren, damit erstarren und uns dann nur noch durch Angst und Panik leiten lassen."
Allerdings kann auch Bodo Ramelow bestimmte Widersprüche nicht klären. Zum Beispiel, warum Nagelstudios schließen, während Friseure offenbleiben dürfen. Es sind genau jene Widersprüche bei den Corona-Maßnahmen, die jetzt erneut für viele Diskussionen und vor allem Unmut in Deutschland sorgen: Kinos, Opern und Theater haben ihre Hygiene-Maßnahmen hochgerüstet. Die Besucher sitzen mit Abstand und Mundschutz bei den Aufführungen. Trotzdem müssen Kultur und Gastronomie erst einmal dran glauben. „Mir ist nicht bekannt, dass es bei Theaterbesuchen zu wilden Trinkgelagen gekommen ist. Auch bei den Aufführungen in der Oper wird eher nicht gekuschelt oder getanzt. Sondern die Besucher gehören meist zur Hochrisikogruppe und sind schon deswegen besonders darauf bedacht, die Hygienebestimmungen einzuhalten," so Berlins Kultursenator Klaus Lederer bitter, ebenfalls von der Linkspartei. Auch für ihn sind die Maßnahmen in der Gastronomie- und Freizeitbranche „viel zu hart und gänzlich undifferenziert". „Vor allem der Gastronomie droht mit dem zweiten Lockdown ein Jobkahlschlag, wie ihn diese Branche noch nie erlebt hat," befürchtet der Vorsitzende der Gewerkschaft „Nahrung, Genuss und Gaststätten" (NGG) Guido Zeitler. Und der Hotel- und Gaststättenverband (Dehoga) schlägt in die gleiche Kerbe, fordert weitere Milliardenhilfen, zusätzlich zu den bereits von Bundesfinanzminister Olaf Scholz angekündigten zehn Milliarden Euro, „die vorne und hinten nicht reichen werden", fügt Dehoga-Vorsitzender Markus Luthe hinzu.
Die Annahme, dass das Geld nicht reichen könnte, wird auch durch Bundesgesundheitsminister Jens Spahn genährt. Einige Stunden vor dem kollektiven Herunterfahren Deutschlands mahnte er, die Deutschen sollten sich auf Monate der Enthaltsamkeit, Einschränkungen und des Verzichts einstellen – auch wenn der sogenannte Lockdown light Ende November ausläuft. Ob Deutschland am 1. Dezember wieder in die aus den Sommermonaten gewohnte Pandemie-Normalität entlassen wird, ist laut Spahn allerdings mehr als fraglich. Die Entscheidung darüber falle erst in der letzten Novemberwoche, sprich der erneute Lockdown könnte bis in den Dezember hineinreichen. Für den parlamentarischen Geschäftsführer der FDP, Marco Buschmann, kommt dieser Umstand keinem Gesundheits-, sondern einem Verfassungsnotstand gleich. Denn das Virus sei nicht neu und damit auch nicht die Herausforderungen an den Gesetzgeber, so Buschmann. „Die zentrale Herausforderung besteht darin, die Pandemie so zu bekämpfen, dass dies dem Grundgesetz gerecht wird. Grundrechtseingriffe müssen ihre Rechtfertigung stets auf ein Parlamentsgesetz zurückführen." Übersetzt: Zukünftig soll der Bundestag, beziehungsweise die Landesparlamente die Pandemiemaßnahmen beschließen und keine Exekutivrunde aus Kanzlerin und Landeschefs.
Folgt die FDP-Bundestagsfraktion ihrem ersten Geschäftsführer in seiner Argumentation? Erleben wir Debatten über die Maßnahmen in den Parlamenten, die zu konkreten Beschlüssen führen? Für die Freien Demokraten würde dies bedeuten, dass sie plötzlich zusammen mit der AfD Maßnahmen der Bundesregierung ablehnen. Das würde dem Fraktions- und Parteichef Christian Lindner dann doch zu weit gehen. Denn bei allem neu erwachten Oppositionsgeist, Lindner bleibt äußerst bemüht, Fraktion und Partei von der AfD strikt abzugrenzen. Allein der Umstand, dass seine Fraktion im Plenum des Bundestages schon direkt neben der „Alternative" sitzen muss, ist für ihn Zumutung genug.