Wissenschaftlern ist es gelungen, ein natürliches Antibiotikum mit modernster Biotechnologie herzustellen. Es ist zum Einsatz gegen multiresistente Tuberkuloseerreger vorgesehen, ein Nachfolgewirkstoff zur Entzündungshemmung bei überschießenden Immunreaktionen wie bei Covid-19.
Viele der heute verfügbaren Antibiotika verlieren nach und nach ihre Wirksamkeit. Denn immer mehr Krankheitserreger haben dagegen Resistenzen ausgebildet. Laut Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation WHO werden 2050 rund zehn Millionen Menschen an resistenten Keimen sterben. Kein Wunder, dass die medizinische Forschung unter Hochdruck auf der Suche nach neuen Wirkstoffen ist. Fast drei Viertel aller klinisch relevanten Antibiotika sind Naturstoffe, produziert von Bakterien. Die Fähigkeit, diese Substanzen oder Stoffwechselprodukte herzustellen, ist aber unter Bakterien nicht gleichmäßig verteilt. „Sie ist vor allem in Mikroorganismen mit komplexen Lebensweisen zu finden, einer ungewöhnlichen Zellbiologie und großen Genomen", so Prof. Christian Jogler, Spezialist für Mikrobielle Interaktionen von der Friedrich-Schiller-Universität Jena. „Solche Organismen produzieren antibiotische Verbindungen und setzen sie im Kampf um Nährstoffe und Lebensräume gegen andere Bakterien ein." Für die Wirkstoffsuche stehen weniger als ein Prozent der bekannten Bakterienarten zur Verfügung, der Rest wird bislang gemeinhin als unkultivierbar angesehen und ist daher noch kaum erforscht.
Meere bieten viel Potenzial
Den größten Lebensraum der Erde, nämlich die Meere, haben die Wissenschaftler auf ihrer Antibiotika-Forschungstour bislang ziemlich vernachlässigt. Dabei dürften gerade in den Tiefen der Ozeane Lebewesen zu finden sein, mit deren Hilfe man die dringend notwendigen neuen Antibiotika entwickeln könnte, zumal die Zahl der neu zugelassenen Medikamente in den letzten 20 Jahren stetig gesunken war. Das mag womöglich auch damit zusammenhängen, dass die Arbeit der Antibiotikaforschung, einem spezialisierten Grenzgebiet zwischen den Disziplinen Chemie, Mikrobiologie, Pharmakologie und Medizin, in den letzten Jahren immer aufwendiger und teurer geworden ist. In den Ozeanen betrachtet die Forschung beispielsweise die Meeresschwämme als mögliche Quelle für Metaboliten mit antimikrobiellen oder antiviralen Wirkungen. Prof. Jogler hat mit seinem Team die sogenannten Planctomyceten ins Visier genommen, weil sie „außergewöhnlich komplexe Lebensweisen besitzen und über das Potenzial verfügen, neue Antibiotika produzieren zu können."
Joglers deutscher Kollege, Prof. Thomas Brück von der Technischen Universität München, dessen Spezialgebiet die Synthetische Biotechnologie ist, hat sich in Sachen Antibiotika-Forschung den natürlichen Konkurrenten der gewebelosen Meeresschwämme zugewandt, nämlich den Korallen. Ein aus ökologischer Sicht fraglos heikles Feld, das bislang nur von der Kosmetikindustrie für Hautcreme-Luxusprodukte trotz des Artenschutzes betreten wurde. Wobei die Beauty-Branche sich vor allem ein entzündungshemmendes Molekül der Weichkoralle Antillogorgia elisabethae namens Pseudopterosin zunutze gemacht hat, dem auch schon ein möglicherweise wirksamer Einsatz in der Krebsmedizin attestiert wurde.
Die vom Klimawandel in ihrer Existenz stark bedrohten Korallenriffe dürften sich kaum als großes Reservoir für mögliche medizinische Wirkstoffe eignen. Was natürlich Prof. Brück voll und ganz bewusst ist, der als begeisterter Hobbytaucher schon in seiner Jugend eine besondere Vorliebe für diese Naturwunder entwickelt hatte. Wobei es ihm vor allem die schon genannte Hornkoralle namens Antillogorgia elisabethae vor der Küste der Bahamas angetan hatte: „Ihre polypenbedeckten, violetten Verästelungen bewegten sich sanft in der Strömung. Ein faszinierendes Lebewesen!" Da gerade diese Weichkoralle verschiedene biologisch aktive Substanzen enthält, hat sich der Biochemiker mit der Enthüllung der Biosynthese ihrer Wirkstoffe befasst. Brück: „Korallenriffe speichern das Klimagas Kohlendioxid und schaffen eine sehr hohe Biodiversität. Wenn wir die Riffe der Welt schützen wollen, müssen wir solch biologisch aktiven Naturstoffe, die medizinisch nutzbare Aktivitäten besitzen, auf nachhaltige Weise herstellen."
Gesagt, getan, denn Brück ist es gemeinsam mit seinem Team vom Werner Siemens-Lehrstuhl für Synthetische Biotechnologie gelungen, finanziell unterstützt durch das Bundesforschungsministerium und die Werner Siemens Stiftung, im Labor einen der zentralen Wirkstoffe der Hornkoralle künstlich nachzubilden, ohne dass dafür ein einziger Riffbewohner sterben musste. Bei dem Wirkstoff handelt es sich um das Molekül namens Erogorgiaene, das bei ersten Bioaktivitätstests seine Fähigkeit als Antibiotikum zur Bekämpfung von multiresistenten Tuberkuloseerregern offenbart hatte. Die Hornkoralle enthält nur winzige Mengen dieser Substanz, daher wäre eine Nutzung des Lebewesens als Rohstoffquelle weder wirtschaftlich sinnvoll, noch ökologisch vertretbar. Laut Brück wäre die Herstellung der Substanz mit klassischen chemischen Verfahren zwar möglich, aber aufwendig, verbunden mit toxischen Abfällen, und sehr teuer. Ein Kilogramm würde rund 21.000 Euro kosten. Ganz anders sieht es durch Verwendung modernster und nachhaltiger Biotechnologie aus. „Mit biotechnologischen Methoden lässt sich die Erogorgaene schneller, umweltfreundlicher und erheblich günstiger herstellen", so Brück. „Die Produktionskosten pro Kilo würden mit diesem Verfahren nur noch bei etwa 9.000 Euro liegen."
Bei der Produktion entsteht keinerlei Abfall
Das neue Verfahren, das er gemeinsam mit internationalen Kollegen entwickelt hat – den Teams von Dr. Bernhard Loll von der Freien Universität Berlin, von Prof. Russel G. Kerr von der University of Prince Edward Island (Kanada) und von Prof. Gary Schenk von der University of Queensland (Australien) – besteht nur aus zwei Schritten. Die Hauptarbeit erledigen dabei gentechnisch optimierte Kolibakterien, die sich von Glycerin ernähren, einem Reststoff aus der Biodiesel-Produktion. Die Kolibakterien bilden ein Molekül, das sich anschließend mithilfe von Enzymen in den gewünschten Wirkstoff verwandeln lässt. Bei dem gesamten Prozess entsteht keinerlei Abfall, da alle Nebenprodukte in einem geschlossenen Kreislauf wiederverwendet werden können. Das innovative Verfahren, das in einem im Juli im Fachjournal „Green Chemistry" veröffentlichten Beitrag vorgestellt wurde, wurde sogleich zum Patent angemeldet. „Die neue Technologieplattform zur Produktion von Naturstoffen mithilfe biotechnologischer Verfahren erfüllt sämtliche zwölf Kriterien der Grünen Chemie", so Brück. „Außerdem erfüllt sie vier der UN-Nachhaltigkeitsziele: gesundes Leben für alle, Bekämpfung des Klimawandels und seiner Auswirkungen, Bewahrung und nachhaltige Nutzung der Ozeane und der Meeresressourcen sowie Bewahrung des Lebens an Land."
Inzwischen arbeitet Brücks Forschungsteam bereits an der biotechnologischen Herstellung eines weiteren Korallen-Wirkstoffs. Nach dem Vorbild der Natur soll das Molekül Erogorgiaene im Labor in den oben schon genannten Wirkstoff Pseudopteropsin umgewandelt werden.
Auf diesen setzen Mediziner große Hoffnungen als Entzündungshemmer. Er wird als potenziell erstklassiger Kandidat für die Therapie von überschießenden Immunreaktionen gehandelt, beispielsweise bei Infektionen durch Viren oder auch bei altersbedingten chronischen Entzündungen.