Zehn bis 20 Prozent aller Schwangerschaften enden in einer Fehlgeburt. Für alle Betroffenen bricht dadurch eine Welt zusammen, manche schämen sich sogar. Trotzdem redet kaum jemand darüber.
Die Freude auf das Kind ist groß, werdende Eltern planen das neue Familienglück und dann zerplatzt dieser Traum. Schätzungen zufolge enden zehn bis 20 Prozent aller Schwangerschaften in einer Fehlgeburt. Besonders häufig verlieren Frauen ihr Baby in den ersten drei Monaten. Die häufigsten Fehlgeburten finden bis zur vierten oder fünften Schwangerschaftswoche statt – meist ohne dass die betroffene Frau davon weiß. Hier geht die Medizin von einer Rate von bis zu 50 Prozent aus. Abort nennt man das, die medizinische Bezeichnung für einen Abgang des Embryos oder Fötus. Während etwa 80 Prozent der Aborte in den ersten drei Monaten stattfinden, sinkt ab der 17. Schwangerschaftswoche das Risiko einer Fehlgeburt auf zwei bis drei Prozent. Eine Fehlgeburt bis zur zwölften Schwangerschaftswoche gilt als früher Abort, ab der 20. Woche als Spätabort. Lebendgeborene Kinder, die nach der 24. Schwangerschaftswoche beziehungsweise mit einem Gewicht von über 500 Gramm zur Welt kommen, gelten als Frühgeburten, totgeborene als Totgeburt. Wer betroffen ist, den dürften solche Begrifflichkeiten allerdings kaum interessieren. Denn obwohl die Zahlen bekannt sind und werdende Eltern in den ersten drei Monaten häufig kaum jemandem von der Schwangerschaft berichten, haben sie meist längst damit begonnen, eine Bindung zum Kind aufzubauen.
Früher Abort bis zur zwölften Woche
Model und ehemalige „Germany’s next Topmodel"-Teilnehmerin Marie Nasemann schrieb im letzten Jahr auf ihrem Blog über den Verlust ihres ungeborenen Babys: „Ich bin jung und gesund und habe nicht damit gerechnet, dass es nicht klappen wird." Die Fehlgeburt sei für sie ein „Schock" gewesen, der mit viel Trauer verbunden war. Obwohl sie und ihr Freund damals keinen Nachwuchs geplant hatten, freuten sie sich auf das Kind, machten sich auf die Suche nach einer größeren Wohnung und hatten sich bereits auf Kindernamen geeinigt. Doch in der achten Schwangerschaftswoche stellte sich bei einem Ultraschall heraus, dass Marie Nasemann das Kind verloren hatte. Es folgten eine Operation unter Vollnarkose, die Entfremdung von ihrem Freund, der so ganz anders trauerte als sie, und das Gefühl, mit dem Schmerz alleine zu sein. Sie habe sich im Stich gelassen gefühlt – von Eltern, Freunden, aber auch ihrem Freund: „Ich wollte nicht begreifen, dass ich es versäumt hatte, mir die Hilfe zu holen, die ich gebraucht hätte."
So wie ihr geht es vielen anderen Frauen auch. Trotzdem redet kaum jemand darüber. Ein Grund, warum Marie Nasemann ihre Geschichte öffentlich machte. „Ich möchte das mit euch teilen, weil einem Ärzte sagen, Fehlgeburten seien völlig natürlich und gehören zum Kinderkriegen dazu. Ich wünschte, ich hätte die Geschichten, die mir im Nachhinein Freunde erzählt haben, schon früher gehört", schrieb sie damals. Marie Nasemann ist nach ihrer Fehlgeburt erneut schwanger geworden und hat Ende April ihr Kind zur Welt gebracht. Tatsächlich gebären 85 bis 90 Prozent der Frauen nach einer Fehlgeburt ein lebendes Kind. Wie aber entstehen Aborte oder Fehlgeburten überhaupt? Welche Gründe gibt es, und wie kann man zu einem guten Umgang damit finden? Eine Fehlgeburt kann verschiedene Ursachen haben. Oft sind genetische oder chromosomale Veränderungen der Grund. Solche Veränderungen beim Fötus stellen den häufigsten Grund dar. Hintergrund ist, dass die Erbgutinformationen auf den Chromosomen im Zellkern liegen. Sie setzen sich zur Hälfte aus denen der Mutter und zur Hälfte aus denen des Vaters zusammen. Treten Abweichungen in Anzahl oder Form dieser Chromosomen auf, führt dies zu Fehlanlagen beim Embryo. Infolge dessen ist die Lebensfähigkeit eingeschränkt oder nicht gegeben. Die Frucht stirbt ab, und es kommt zu einer Fehlgeburt. Aber auch Missbildungen des Embryos, Infektionen, Gelbkörperschwäche, Blutarmut oder Immunreaktionen, also Abstoßungsreaktionen des mütterlichen Gewebes gegenüber dem Gewebe der Plazenta, können eine Fehlgeburt auslösen. Daneben können auch Tumore in der Gebärmutter zum Abort führen. Ist die Gebärmutter durch einen Tumor verändert, kann das Kind unter Umständen nicht richtig versorgt werden und es kommt zum Abort. Manchmal kann sich die befruchtete Eizelle dadurch auch nicht richtig in die Schleimhaut einnisten. Risikofaktoren sind zudem das Alter der Frau und die Anzahl der vorherigen Schwangerschaften. In Norwegen etwa sammelt man seit 2008 die Daten zu Fehlgeburten. Das norwegische Institute of Public Health hat diese analysiert und fand heraus, dass die allgemeine Abortrate bei 12,8 Prozent lag. Frauen im Alter zwischen 25 und 29 Jahren hatten mit einer Fehlgeburtsrate von zehn Prozent das geringste Risiko für einen Abort. Nach dem Erreichen des 30. Lebensjahres stieg das Fehlgeburtsrisiko jedoch rapide an und erreichte 53 Prozent bei den Frauen im Alter von 45 Jahren und älter. Außerdem fanden die Forscher heraus, dass das Risiko für eine Fehlgeburt in einer Folgeschwangerschaft um die Hälfte anstieg, wenn es davor eine Frühgeburt, eine Totgeburt, einen Kaiserschnitt oder einen Schwangerschaftsdiabetes gegeben hatte. Nach zwei Fehlgeburten war das Risiko verdoppelt und nach mehr als drei Fehlgeburten war die Zahl viermal so groß. Aber auch mit jeder gut verlaufenen Schwangerschaft kann das Risiko für Fehlgeburten ansteigen. Mediziner führen das vor allem auf eine mögliche Gebärmutterhalsschwäche als Folge vieler vaginaler Entbindungen zurück. Öffnet sich der Gebärmutterhals aufgrund einer Schwäche seiner Muskulatur zu früh, droht eine Fehlgeburt. Der Fötus wird nicht mehr in der Gebärmutterhöhle gehalten. Außerdem können Keime so leichter aufsteigen, was eine Fehlgeburt begünstigt. Die Gebärmutterhalsschwäche ist vor allem ein Risiko für Spätaborte, also bei einer Fehlgeburt im Zeitraum von der 13. bis zur 24. Schwangerschaftswoche.
Risikofaktoren wie Rauchen und Alkohol
Neben den Risikofaktoren seitens der Mutter, gibt es natürlich auch jene beim Vater. Defekte Spermien etwa können das Abort-Risiko erhöhen. Ein sogenanntes Spermiogramm können Aufschluss über Qualität und Quantität der Spermien geben. Dabei werden Aussehen, Anzahl und Beweglichkeit beurteilt. Studien haben gezeigt, dass die Wahrscheinlichkeit für veränderte Spermien mit dem Lebensalter zunimmt. Zudem können auch medizinische Handlungen zu einer Fehlgeburt führen. Strahlungen wie bei der Computertomografie können beispielsweise das Erbgut des Fötus bis hin zum Abort schädigen. Aber auch Medikamente, viele Impfungen und die Narkose während einer Operation erhöhen die Fehlgeburt-Wahrscheinlichkeit. Gleiches gilt für Methoden, mit denen Fehlbildungen des Kindes erkannt werden sollen, etwa der Untersuchung des Fruchtwassers oder des Mutterkuchens.
Auch Rauchen, Alkohol und Drogen zählen zu den gängigen Risikofaktoren, die zu schweren Entwicklungsstörungen oder Fehlbildungen des Embryos, beziehungsweise des Fötus, führen können. Daneben kann Stress das Risiko für Fehlgeburten erhöhen. Eine Studie der Berliner Charité konnte zeigen, dass es dadurch zu einem Ungleichgewicht im Immunsystem und Hormonhaushalt kommen kann. Sie fanden niedrigere Mengen an Hormonen, insbesondere des Hormons Progesteron, die die Schwangerschaft aufrechterhalten und eine Vermehrung von Immunzellen, die eine Fehlgeburt verursachen können.
Es gibt also zahlreiche Gründe, die dazu führen können, dass ein Kind nicht weiter wächst und lebend zur Welt kommt. Mediziner erläutern immer wieder, dass Aborte und Fehlgeburten dazugehören und sehen im frühen Abort „einen Schutzmechanismus der Natur". Ein oder zwei Spontanaborte seien ganz normal im Leben einer Frau, und die Wahrscheinlichkeit, danach wieder schwanger zu werden, sehr hoch. Für Betroffene aber ist der Verlust häufig schwierig. Die psychologische Psychotherapeutin von Pro Familia Konstanz, Marja Niklander, schreibt in ihrem Bericht „Das Leben, das endet, bevor es beginnt": „Die Trauer um eine Fehlgeburt wird gesellschaftlich abgewertet: Es werden die Begriffe ‚Embryo‘ und ‚Fötus‘ und nicht ‚Kind‘ verwendet, da diese keinen Status haben. Außerdem wird sie gesellschaftlich tabuisiert, weil das Umfeld die Bedeutung einer Fehlgeburt für die Eltern kleinredet (‚es war ja noch so klein‘) aber auch, weil die Trauer um ein verlorenes Kind als ein reales Ereignis verdrängt wird. Die kurze Existenz des Kindes ist weniger greifbar." Dabei sei der Kinderwunsch eine existenzielle Frage für den Menschen. Mit ihm gingen viele Zukunftswünsche und Visionen einher: Familienglück, Mutter- und Vaterglück, Leben schenken und das eigene Leben im Kind weiterführen. Eine Elternschaft sei sinnstiftend und gebe dem Leben Inhalt und Erfüllung. Zudem ermögliche eine Elternschaft auch eine neue Dimension für eine Partnerschaft. Auch das Kind, das nicht geboren wird, habe das Recht auf eine Würdigung seiner kurzen Existenz, so die Psychotherapeutin.
Rituale können helfen
Niklander beobachtet in ihrer Arbeit, wie Paare mit einem solchen Verlust umgehen. Die Reaktionen beschreibt sie als weitgreifend. Bei Frauen beobachte sie Schock, Trauer, Enttäuschung und Wut, aber auch Schuldgefühle und Scham. „Manche Frauen berichten über das Gefühl, nicht in Ordnung zu sein, defekt zu sein, versagt zu haben oder sozial unerwünscht zu sein. Diese Reaktion wird unterstützt durch die gesellschaftliche Tabuisierung und die mangelnde Information der Frau über die Fakten bezüglich einer Fehlgeburt", schildert Niklander. Auch Ängste vor einer wiederholten Fehlgeburt und vor einer möglichen Kinderlosigkeit spielten eine Rolle. Die Männer trauerten natürlich auch – äußerten dies aber häufig anders. Neben Trauer, Wut, Enttäuschung und Sorge über den Zustand der eigenen Spermien, beobachtet die Therapeutin auch oft den Drang wegzulaufen oder alles zu verdrängen. Manchmal erlebe sie auch Männer, die sich vollkommen hilflos fühlten, weil sie nicht wüssten, wie sie ihrer Partnerin helfen könnten. Männer bräuchten deshalb manchmal klare Anweisungen, wie sie sich verhalten sollen. Für die Frau sei vor allem Unterstützung durch den Partner bei praktischen Dingen wie dem Gang ins Krankenhaus sowie Gespräche und Aufklärung durch Ärzte und Hebamme wichtig. Hier kann es auch helfen, mit Frauen aus dem nahen Umfeld zu sprechen, die ähnliche Erfahrungen gemacht haben. Beide Partner bräuchten Respekt und Akzeptanz für ihre Art zu reagieren und emotionale Sicherheit. Gerade Männern fehle oft die kulturelle Erlaubnis zu trauern, weshalb ihre Trauer schnell übersehen würde. Beide Elternteile sollten die Trauer miteinander teilen. „Wenn der Tod eines Menschen nicht begriffen wird, wird er zu einem Vermissten", so Niklander. Helfen könnten Erinnerungen und Rituale, wie etwa sich das Ultraschallfoto des Kindes anzusehen, eine Pflanze für das Kind zu pflanzen, ein Bild zu malen oder einen Erinnerungsort zu bestimmen. Am Tag der Fehlgeburt oder des errechneten Geburtstermins könne man beispielsweise das Bild mit einer Kerze aufstellen. Auch Gedenkzeiten könnten heilsam sein. Dabei könne man Bilder malen, Gedichte schreiben oder einfach an das Kind denken. Zudem veranstalteten Kliniken zweimal jährlich ökumenische Trauerfeiern.
Wer wieder neuen Mut zu einer Schwangerschaft gefunden hat, sollte sich unbedingt gute medizinische Betreuung suchen, rät die Psychotherapeutin und macht gleichzeitig Hoffnung: „Der positive Zugang zum eigenen Körper und das Vertrauen dazu kann neu gefunden werden."