Donald Trump hat zwar bestehende Konflikte verschärft, aber den europäischen Partnern auch den Finger in die Wunde gelegt: Von der Außenpolitik des 45. Präsidenten bleibt die Lehre, dass die EU nur mithilfe einer politischen Union fähig zur Weltpolitik wird – bei weiter harten Markt- und Machtbedingungen.
Mit Erleichterung vieler westlicher Beobachter wurde Joe Biden zum Präsidenten der USA gewählt. Doch die Vereinigten Staaten von Amerika sind noch uneiniger geworden selbst im Hinblick auf demokratische Grundwerte und Gepflogenheiten. Bereits vor der Amtsübernahme Trumps war die US-Gesellschaft gespalten. Auch das politische System der USA ist seit Längerem schon polarisiert und blockiert und nicht mehr in der Lage, gravierende Probleme des Landes zu lösen. Vor allem auch wegen der daraus resultierenden Unzufriedenheit und Verdrossenheit vieler Amerikaner mit der etablierten Politik konnte ein Außenseiter wie Donald Trump 2016 überhaupt erst ins Weiße Haus gelangen und wäre bei diesem denkbar knappen Wahlausgang um ein Haar sogar wiedergewählt worden. Trump ist nur ein Symptom tiefer liegender struktureller Probleme, die von ihm seit seiner Amtsübernahme noch verschärft wurden und das Regieren seines Nachfolgers Joe Biden massiv beeinträchtigen werden.
Abgesehen von Trumps Unfähigkeit als Krisenmanager hat die Corona-Pandemie auch die schon seit Längerem bestehenden sozialen und wirtschaftlichen Ungleichheiten in den USA gnadenlos offengelegt. Während viele Amerikaner, vor allem Afroamerikaner und Latinos, ums nackte Überleben kämpfen, feiern die Anleger an den US-Aktienmärkten hingegen weiterhin Höchststände und bleiben bislang von den düsteren Wirtschaftsnachrichten unbehelligt.
Zwar wurde der durch Corona bedingte enorme Einbruch, um ein Drittel der Wirtschaftsleistung im zweiten Quartal, nun im dritten Quartal wieder korrigiert. Wenn eine Katze aus dem 20. Stock fällt, springt sie anscheinend auch noch mal hoch. Ebenso näheren viele kurzfristige makroökonomische Indikatoren, etwa die Einkaufsmanager-Indizes des verarbeitenden Gewerbes (PMIs) oder die wöchentlichen Arbeitslosenmeldungen, immer noch die Hoffnung auf eine V-förmige Erholung. Diese setzt aber voraus, dass die großen Volkswirtschaften nicht gezwungen werden, wieder zu schließen. Angesichts der weiterhin alarmierenden Infektionszahlen, vor allem in den USA, ist es jedoch nur eine Frage der Zeit, bis weltweit die Aktienmärkte die düstere wirtschaftliche Lage der Realwirtschaft widerspiegeln. Auch die US-Notenbank Fed ist besorgt, dass die höheren Infektionszahlen die wirtschaftliche Erholung vereiteln könnten.
Ungleichheit offengelegt
Bisher scheinen die Finanzmärkte noch mit anhaltenden massiven staatlichen Konjunkturprogrammen und der Entdeckung eines Impfstoffs zu rechnen. Die Unfähigkeit der US-Politiker, einen Konsens über künftige Konjunkturmaßnahmen zu erzielen, könnte jedoch die optimistische Marktstimmung dämpfen. Nachdem sich Demokraten und Republikaner im Kongress mit dem Weißen Haus bislang nicht darauf einigen konnten, wie und in welchem Umfang etwa die Arbeitslosenunterstützung verlängert werden kann, verlieren Millionen von US-Haushalten ihre Existenzgrundlage, das Rettungsboot das sie in den vergangenen vier Monaten über Wasser gehalten hatte. Die politische Lage bleibt schwierig, zumal in einer auch künftig „geteilten Regierung" – in der das Weiße Haus und die beiden Kammern im Kongress, das Abgeordnetenhaus und der Senat, voraussichtlich auch nach den Wahlen wieder von unterschiedlichen Parteien regiert werden.
Europäische Entscheidungsträger in Politik und Wirtschaft sollten den Ernst der prekären Lage in den USA und deren Auswirkungen erkennen: Wegen ihrer durch die Pandemie verschärften wirtschaftlichen Notlage und enormen Verschuldung werden die USA – auch in einer künftigen Regierung unter Joe Biden –
umso mehr versuchen, aus der ökonomischen und insbesondere militärischen Abhängigkeit ihrer Verbündeten in Europa und Asien Kapital zu schlagen. Wer sich selbst kein einsatzfähiges Militär leistet, muss wohl oder übel Tribut für die Leistungen der Schutzmacht zollen –
in der Währungs- oder Handelspolitik dafür zahlen. Um das Wohlwollen der USA zu erwirken, dürfen Verbündete etwa „Freiheitsgas" oder amerikanische Rüstungsgüter wie Kampfflugzeuge kaufen und so das Handelsdefizit der USA verringern helfen.
Die europäischen Verbündeten sollten sich vergegenwärtigen, dass Donald Trump bestehende transatlantische Konflikte in der Sicherheits- und Handelspolitik nur verschärft hat. Bereits in Barack Obamas Amtszeit gab es eine Brandrede des damaligen Verteidigungsministers Bob Gates, der die Europäer davor warnte, dass die US-Bevölkerung und ihre Repräsentanten im Kongress künftig nicht mehr bereit sein würden, die Sicherheitslasten für die Alliierten zu schultern und Europa mehr Verantwortung für Lastenteilung übernehmen sollte.
Um die in den USA parteiübergreifend immer deutlicher artikulierten Forderungen an die Verbündeten nach höheren Militärausgaben zu entkräften und für die eigene Sicherheit zu sorgen, sollten europäische Regierungen den seit 2017 bestehenden Verteidigungsfonds, den European Defence Fund (EDF), aufstocken. Die durch den EDF ermöglichten Rüstungsanstrengungen sollten damit ausgebaut werden – auch in Kooperation mit amerikanischen Unternehmen. So könnten die in Washington gehegten Befürchtungen entkräftet werden, dass Europa bei der Auftragsvergabe die USA diskriminiert, die Fähigkeiten der USA dupliziert und sich damit sicherheitspolitisch von der Schutzmacht emanzipieren will. Sie werden bereits seit Ende der 1990er-Jahre in Washington gehegt und haben durch die verstärkte europäische Zusammenarbeit in Verteidigungsfragen seit 2017 zugenommen.
European Defence Fund aufstocken
Ebenso kritisierte bereits in Obamas Amtszeit die US-Administration China und Deutschland wegen ihrer Exportstärke. Schon auf dem G20-Gipfel in Südkorea im November 2010 scheiterten die USA mit ihrem Vorstoß, exportlastige Volkswirtschaften wie China und Deutschland unter Druck zu setzen und Begrenzungen der Leistungsbilanzüberschüsse (auf vier Prozent des Bruttoinlandsprodukts) festzulegen. Durch geschickte Diplomatie, insbesondere durch den Schulterschluss mit Peking, konnte Bundeskanzlerin Angela Merkel seinerzeit ausnutzen, dass die Welt der Belehrungen der USA überdrüssig war, und daran erinnern, dass es das Finanzgebaren der USA war, welches die globale Wirtschafts- und Finanzkrise 2008 ausgelöst hatte.
Mittlerweile haben sich im Zuge der Corona-Pandemie die ökonomischen Auseinandersetzungen um noch knapper werdende Ressourcen verschärft in eine geoökonomische Rivalität, vor allem zwischen den USA und China – mit massiven Auswirkungen auf Deutschland und Europa. Das geoökonomische Denken in den USA würde auch unter der neuen Biden-Regierung Wirkmacht entfalten: Die US-Regierung wird weiterhin Daten-, Handels-, Energie- und Finanzströme managen oder manipulieren – insbesondere durch (Sekundär-) Sanktionen. Das Spiel der Kräfte auf sogenannten freien Märkten tritt noch mehr in den Hintergrund und wird von den USA nur solange akzeptiert, wie es dem politischen Ziel geostrategischer Dominanz dient.
Im Technologiesektor, zum Beispiel im Fall von 5G/Huawei, werden die USA auch gegenüber ihren Verbündeten unnachgiebig bleiben: In dem Ringen um technopolitische Einflusssphären, bei dem die künftige wirtschaftliche und militärische Vormachtstellung auf dem Spiel steht, werden die USA den Druck auf Drittstaaten wie Deutschland verstärken und sie vor die Wahl stellen, entweder mit Amerika oder mit China Geschäfte zu betreiben. Eine in chinesische und amerikanische Standards und Systeme zweigeteilte Welt ist die Folge.
Äquidistanz zwischen den USA und China oder gar eine stärkere Annäherung an China wären in keinem Fall sinnvolle Optionen, allein schon wegen der Werte-Distanz zu China und der sicherheitspolitischen Abhängigkeit Deutschlands und Europas von den USA.
Deutschland wäre indes gut beraten, im Schulterschluss mit Frankreich Europas Wirtschafts- und Währungsunion durch eine politische Union zu finalisieren. Die Europäische Union ist in besonderem Maße anfällig für die „Teile und beherrsche"-Strategien der Großmächte, allen voran Chinas und der USA. Um ihre politische Anfälligkeit zu überwinden und ihre Handlungsfähigkeit zu verbessern und „weltpolitikfähig" zu werden, sollte die EU in der Außen- und Sicherheitspolitik von der Illusion der Einstimmigkeit hin zu einer realistischeren Konsensfindung in Form einer qualifizierten Mehrheitsentscheidung finden.