Ein Demokrat wird neuer Präsident der Vereinigten Staaten – auch wenn sein Vorgänger noch nicht in der Realität angekommen ist. Nach vier Jahren Trump ist der Spuk aber längst nicht vorbei.
Tänze auf den Straßen vieler Großstädte, Hupkonzerte, die Wahl ist gelaufen, Gott sei Dank. Wie immer in den vergangenen Jahrzehnten riefen die US-amerikanischen Medien einen Sieger aus – und nach fünf Tagen geduldigen Wartens können sich Kamala Harris, die nächste Vizepräsidentin, und Joe Biden, der 46. Präsident der Vereinigten Staaten, auf die kommenden vier Jahre im Weißen Haus vorbereiten. Falls der „Vormieter" freiwillig auszieht.
Aus dem Weißen Haus hören amerikanische Journalisten, der Präsident habe eine Art „Schleudertrauma". Eben noch siegessicher am Steuer der größten Demokratie der Welt, wacht er tags darauf im Straßengraben auf, sieht seinen Vorsprung am geliebten Fernsehschirm in Echtzeit dahinschmelzen wie Eis in der Sonne. Was geschieht dort? Natürlich, Wahlbetrug. Hat er das nicht schon 2016, kurz nach seiner Wahl, festgestellt, als es hieß, Hillary Clinton habe insgesamt mehr Stimmen bekommen als er? Eine eilig eingesetzte Kommission, die diesen Betrug aufdecken sollte, wurde wenige Monate danach unter dem Deckmantel der Verschwiegenheit wieder aufgelöst. Sie hatte nichts Schwerwiegendes gefunden.
Und nun das. Donald Trump erkennt den Sieg seines demokratischen Rivalen Joe Biden nicht an. Die Trump-Familie twittert wutschäumend dagegen an. Und wieder heißt es Wahlbetrug. Trumps Anwalt Rudy Giuliani, Ex-Botschafter Richard Grenell und Trump-Kampagnen-Chefin Ronna McDaniel sind die Getreuen, die in Staaten wie Michigan, Wisconsin, Nevada, Georgia und Pennsylvania versuchen, die Vorwürfe ihres Chefs wegen massenhaftem Wahlbetrug zu erhärten. Bisher vergebens. Die angerufenen Gerichte haben die meisten Klagen der Trump-Kampagne abgewiesen, kleinere Erfolge betreffen das Beobachten des Auszählens. Auch das Justizministerium schaltete sich ein – entgegen seinen Gepflogenheiten, eine noch nicht zertifizierte Wahl zu untersuchen. Trump-Vertraute hoffen letztlich auf den Supreme Court, wo immerhin drei Richter ihren neuen Job dem amtierenden Präsidenten verdanken.
Die Anfechtung der Wahl läuft
Und Donald Trump? Bleibt stur bei seiner Behauptung. Das pathologische Verhalten Trumps ist die eine Erklärung dafür. Eine andere jedoch die Aussicht auf eine Republikanische Partei, die trotz 74 Millionen Stimmen für den demokratischen Kandidaten immer noch fast 71 Millionen auf den Amtsinhaber vereinen konnte. Eine Partei im Griff von Donald Trump, die den Demokraten Sitze im Repräsentantenhaus abjagen konnte und die gute Chancen hat, die Mehrheit im Senat zu verteidigen.
Die Hälfte des Landes steht, wohlgemerkt aus sehr unterschiedlichen Gründen, hinter einem latent rassistischen, sexistischen, spalterischen, sozialdarwinistischen politischen Bulldozer – und anders als bei der Wahl 2016 weiß nun jeder Wähler genau, was für ein Schlag Mensch Trump ist. Und jener Teil Amerikas findet ihn wählbar; ihm werden, ungeachtet seiner persönlichen Mehrfach-Pleiten als Geschäftsmann und einer völlig missratenen Covid-19-Strategie mit über 237.000 Toten, immer noch beste Kompetenzen in Sachen Wirtschaft zugeschrieben. Dies, obwohl Trump massiv von der Vorarbeit der Obama-Administration profitierte.
Dass die Republikaner, insbesondere der machtvolle Mehrheitsführer im Senat, Mitch McConnell, entweder schweigen oder sich in der Sache hinter ihrem Präsidenten versammeln, mag als Lackmustest verstanden werden. Die Polarisierung des Landes und die Gewinne, die die Republikaner in dieser Wahl verbuchen konnten, zeichnen einen deutlichen Weg in Richtung Präsidentschaftswahl 2024. Mit einer konservativen Mehrheit im Supreme Court, einer Mehrheit in den Parlamenten der Bundesstaaten und der Senatsmehrheit ist die Machtbasis nicht, wie vor der Wahl befürchtet, geschrumpft, sondern im Gegenteil angewachsen. Folglich funktioniert das System Trump – auch ohne Anerkennung der Niederlage, die aus Parteisicht ohnehin keine war. Kein Grund also, mit dem „Trumpismus", wie manche jene toxische Melange nennen, zu brechen.
Der US-Politikwissenschaftler Henry Farrell schrieb: „Demokratie funktioniert, wenn Verlierer anerkennen, dass sie verloren haben." Wörtlich genommen funktioniert also die US-Demokratie nicht mehr, sondern ergeht sich in einem bitterlich polarisierten Machtkampf, getrieben maßgeblich vom unendlichen Ego des Noch-Präsidenten.
Was geschieht also nun? Auf der rein technischen Ebene müsste das Weiße Haus in den kommenden Tagen den „transition process" einleiten – die Machtübergabe von Präsident zu Präsident. Die zuständige General Service Administration hat diesbezüglich noch keinerlei Anweisungen gegeben, teilt das Nachrichtenmagazin „Politico" mit. Die Vorbereitungen dazu seien eingefroren. Und dies inmitten einer wirtschaftlichen Schieflage durch eine unkontrollierte Pandemie, teils gewalttätigen Ausschreitungen wegen Polizeigewalt und gewaltigen Herausforderungen aufseiten des Klimaschutzes, die Donald Trump durch seine Anti-Regulierungs-Politik noch größer gemacht hat. Eile wäre also geboten. Stattdessen bremst die Trump-Administration bewusst. Es gibt keine „concession speech", also ein Anerkennen der Niederlage und Glückwünsche an den Sieger, die Partei selbst hält sich bis auf die wenigen Trump-Kritiker wie Senator Mitt Romney, Ex-Präsidentschaftskandidat Rick Santorum und Ex-Senator Jeff Flake ebenfalls damit zurück.
Trump wird zum Königsmacher
Trumps Anwälte unter Führung von Rudy Giuliani bringen derweil in zahlreichen Bundesstaaten eine Flut von Klagen ein, unterstützt vom Zorn der Trump-Wähler und dem Getwitter des Präsidenten. Dieser spürt ganz genau, dass die Kernwählerschaft noch immer an seiner Seite steht, und gießt weiter Öl ins Feuer: Laut der unabhängigen Nachrichtenseite „Axios" plant er wahlkampfähnliche Veranstaltungen, um den Zorn der Basis weiter anzufachen – mit einem einzigen Thema: Wahlbetrug. Außerdem plant er, neben Verteidigungsminister Marc Esper weitere offizielle zu feuern.
Auf der politischen Ebene bringen sich bereits neue Köpfe der Republikaner ins Gespräch. Ex-UN-Botschafterin Nikki Haley will dabei helfen, die Senatsstichwahlen in Georgia zu gewinnen – und unterstützt Trumps Verlangen nach dem „Auszählen jeder legalen Stimme", ohne auf die Vorwürfe von Wahlbetrug einzugehen. Senator Tom Cotton (Arkansas), einer der eifrigsten Trump-Verteidiger, will sich dort ebenfalls blicken lassen. Floridas Gouverneur Ron DeSantis fungierte als eine Art Ersatz-Trump im Bundesstaat, organisierte Geld und die berühmten „Rallies", also Zusammenkünfte von Fans, auf denen der Noch-Präsident seine Fans aufstachelte.
Genau für jene Köpfe könnte Trump in den kommenden Jahren zum Königsmacher der Partei werden. Denn weder er noch die Ansichten seiner Wähler werden in vier Jahren verschwunden sein. Derzeit ringt die Republikanische Partei mit sich selbst: Gibt sie dem Drängen Trumps, mit allen Mitteln eine zweite Amtszeit zu erzwingen, aus machttaktischen Gründen nach oder wendet sie sich von ihm sanft genug ab, ohne ihn und seine Machtbasis für die kommende Wahl 2024 zu verprellen? Die Möglichkeit auf noch einmal vier Jahre Trump bestehen ohnehin bereits. Die US-Verfassung verbietet nicht ausdrücklich, dass ein nach einer Amtszeit abgewählter Präsident vier Jahre später noch einmal antritt. Gehandelt wird als möglicher Kandidat auch Sohn Donald Jr., der sich als unermüdlicher Vortänzer der „Make-America-Great-Again"-Bewegung hervortut. Gehandelt wird aber auch Tochter Ivanka, die Verkörperung eines scheinbar samtigeren „Trumpismus".
Egal, wie sich die Republikanische Partei entscheidet, sie wird durch Trumps Linse in die Zukunft sehen. Denn das schonungslose Offenlegen der gesellschaftlichen Wunden, in denen der Präsident genüsslich herumbohrte, hat eines gezeigt: Das lückenhafte demokratische System der Vereinigten Staaten, die extreme politische Polarisierung arbeitet für sie. Von einer Wiedervereinigung sind die Vereinigten Staaten also noch meilenweit entfernt.