Mit Grand-Prix-Sieg Nummer 91 hat Lewis Hamilton auf dem Nürburgring Michael Schumacher eingeholt, acht Tage später in Portimão die Formel-1-Ikone überholt und jüngst in Imola noch einen Triumph draufgesetzt.
Der seit Imola 93-malige Grand-Prix-Sieger Lewis Hamilton kann sich am Sonntag beim coronabedingt hineingerutschten 14. Saisonlauf in der Türkei (11 Uhr RTL/Sky) zum siebten Mal zum Formel 1-König krönen – aus eigener Kraft. Dann steht er auf dem Zenit mit der lebenden Legende Michael Schumacher. Mehr geht in 71 Jahren F1-Geschichte nicht. Mit seinem Triumph und Platz zwei von Teamkollege Valtteri Bottas in Imola hat das Stern-Duo seinem Mercedes-Team auch vorzeitig den siebten Konstrukteurs-Titel in Folge beschert.
Um Hamiltons Bestmarken zu erklären, müssen wir noch den vorhergehenden Portugal-Grand-Prix aufarbeiten. Über seinen eingestellten Schumacher-Rekord von 91 Siegen auf dem Nürburgring hatten wir bereits ausführlich berichtet. Nur eine Woche später, am 25. Oktober 2020, mussten die Geschichtsbücher umgeschrieben werden – Lewis Hamilton hatte F1-Historie geschrieben: 92. Grand-Prix-Sieg. Alleinige Bestmarke nach Formel-1-Triumphen. Der Vollständigkeit halber: Zweiter der erstmals gastierenden Formel 1 auf der Tal- und Achterbahn von Portimao an der Südküste der Algarve wurde Valtteri Bottas gefolgt von Max Verstappen (Red Bull) und Ferrari-Jungspund Charles Leclerc (Startplatz vier). Sein Teamkollege Sebastian Vettel verbesserte sich immerhin von Startposition 15 auf den letzten Punkterang zehn und wurde noch mit einem WM-Zähler belohnt. Der Hesse gestand, dass Teamkollege Leclerc derzeit auf einem anderen Level unterwegs ist. Vermutungen, Ferrari lasse Vettel fallen, wiegelt er ab: „Wir bekommen gleiches Material. Ich vertraue dem Team und den Leuten in der Garage. Am Ende verrät die Stoppuhr die Wahrheit." Der von Ferrari zum Saisonende Geschasste räumt zwar ein, dass seine Art zu fahren nicht unbedingt zu seinem Auto passt. „Dann muss ich mich eben anpassen", bekennt er selbstkritisch. „Und damit tu ich mich gerade schwer."
Ganz im Gegensatz zu Lewis Hamilton. Mit seinem 92. Grand-Prix-Sieg hat der 35-jährige Brite der Königsklasse seinen Stempel aufgedrückt. Er dominiert die Formel 1 nach Belieben, fährt in seiner eigenen Liga. „Diesen meinen 92. Sieg zähle ich zu den ganz, ganz großen Momenten. Jeder einzelne Sieg hatte bestimmte Eigenschaften und jedes Mal war es eine andere Reise", so die Erkenntnis des neuen GP-Rekordinhabers. „Ich fühle mich einfach überglücklich und gesegnet", so Hamilton, dem „die Worte fehlen" und einige Zeit brauche, um alles zu verarbeiten.
Lob vom Chef: „Lewis steckt einfach alles in diesen Sport"
Worte des Dankes fand er dennoch. Und zwar für sein ganzes Team, wobei er auch ausdrücklich Stallgefährte Bottas erwähnte. „Es ist eine phänomenale Zeit für uns alle. Und ich bin auch Valtteri unglaublich dankbar dafür, dass er als Herausforderer mich und die Mannschaft nach vorne treibt. Wir sind Konkurrenten, aber es ist ein Privileg, mit ihm zusammenzuarbeiten", so die Lobeshymne Hamiltons auf seinen ärgsten Rivalen im Titelkampf. Der Finne selbst geizt aber auch nicht mit Lob: „Lewis hat eine herausragende Leistung vollbracht. Er hat jeden Sieg verdient, Hut ab." Sebastian Vettel zollt seinem Konkurrenten höchste Anerkennung: „Ich hab Lewis vor dem Rennen gesagt, er soll die 92 holen, und das hat er geschafft. Glückwunsch! Man kann es nicht genug anerkennen, auch wenn man von außen jetzt sagt, das ist alles einfach mit dem Auto. Aber trotzdem, die Konstanz über die Jahre muss man erst mal bringen." Altmeister und Dreifach-Champion Jackie Stewart gratulierte Hamilton zu einem „bemerkenswerten Erfolg und einer beeindruckenden Leistung seiner Karriere." Lassen wir noch seinen Chef, Rennleiter Toto Wolff, zu Wort kommen. „92 Siege: Wer hätte das gedacht, als wir 2013 in dieses Projekt gestartet sind? Das ist beinahe eine surreale Anzahl an Siegen. Lewis steckt seine Leidenschaft, seine Energie und einfach alles in diesen Sport. Sein Talent und seine Fähigkeiten stechen heraus. In diesem Jahr ist mir zum ersten Mal aufgefallen, dass sich Lewis im Lauf der Wochenenden gezielt steigert. Er geht viel in sich, lernt viel", so der Österreicher. Doch jetzt genug der Lobeshymnen und -hudeleien auf den neuen Grand Prix-König der Formel 1 – und zur aktuellen Situation.
Von Portugals Südküste machte sich der rasende Wanderzirkus auf direktem Weg nach Norditalien auf. In Imola, etwa 32 Kilometer südöstlich von Bologna, stand der 13. Saisonlauf als Großer Preis der Emilia Romagna auf dem Programm. Nach 13 Jahren Abstinenz erlebte die Traditionsstrecke ein F1-Comeback. Im Autodromo Enzo e Dino Ferrari wurde von 1980 bis 2006 der Große Preis von San Marino ausgefahren. Letzter Sieger: Michael Schumacher im Ferrari. 2020 bestreitet der Grand-Prix-Zirkus corona-bedingt bereits das dritte Rennen nach Monza und Mugello und den 100. WM-Lauf auf italienischem Boden.
Imola wird immer und ewig verbunden werden mit dem „Todeswochenende" 30. April/1. Mai 1994. Es war das bisher schwärzeste F1-Wochenende. Im Freitagstraining ist der Brasilianer Rubens Barrichello (21) dem Tod gerade noch von der Schaufel gesprungen. Sein Jordan-Bolide hob über einen Randstein ab, überschlug sich mehrfach und schlug wie eine Bombe mit 240 km/h in die Reifenmauer ein. Bis auf eine gebrochene Nase überstand Barrichello den Horror-Unfall. Samstags hatten die Schutzengel von Roland Ratzenberger dienstfrei. Im Zeittraining verunglückte der Österreicher (33) tödlich. Der Frontflügel an seinem Simtek hatte sich gelöst, das Auto krachte in eine Begrenzungsmauer. Tod durch Genickbruch. Einen Tag später verlor die Formel 1 ihren „König der Rennfahrer". Ayrton Senna (34) hatte in Rennrunde sieben bei Tempo 321 die Kontrolle über seinen Williams-Renault verloren und war in der Tamburollo-Kurve mit 214 km/h ungebremst in die Mauer eingeschlagen. Das Auto zerschellte, ein Teil der Radaufhängung bohrte sich durch den Helm in den Kopf des Brasilianers. Der dreimalige F1-Champion hatte keine Überlebenschance. Für Sennas Freund Gerhard Berger war es der Tag, an dem „die Sonne vom Himmel fiel."
Erinnerungen an Senna und Ratzenberger
26 Jahre später sorgt Mercedes auf der „Todesstrecke" für einen historischen Erfolg. Der Erfolgsrennstall sicherte sich nach dem Doppelerfolg von Hamilton und Bottas zum siebten Mal in Folge den Konstrukteurs-Titel (seit 2014) und ist alleiniger Rekordhalter vor Ferrari, das sechsmal hintereinander die Team-WM gewann (1999-2004). Beim Imola-Comeback der F1 auf der flüssigen Berg- und Talbahn strahlte einmal mehr der Mercedes-Stern über allem. Und Lewis Hamilton bleibt das Maß aller Dinge. Der Überflieger feierte seinen 93. GP-Sieg, den neunten in dieser Saison. „Das Rennen hat Kraft gekostet. Es ist unglaublich, sieben Konstrukteurstitel, davon werde ich irgendwann mal meinen Enkeln erzählen. Es ist nicht einfach, Woche für Woche zu liefern", so Hamilton.
Beim fünften Doppelsieg der Saison, der 58. insgesamt, profitierte Mercedes allerdings vom Pech Max Verstappens. Ein Reifenplatzer am Red Bull bedeutete das Aus des bis dahin Zweitplatzierten. Als Dritter komplettierte Daniel Ricciardo (Australien/Renault) das Podium. Ferrari-Jungstar Charles Leclerc, von Platz sieben gestartet, beendete das Rennen als Fünfter hinter Daniil Kwjat (Russland/Alpha Tauri). Für Ferrari-Altstar Sebastian Vettel ist es nach Startplatz 14 überraschend rund gelaufen, er lag sogar auf Rang vier. Bis zum Boxenstopp in Runde 41. Am rechten Vorderrad verkantet der Schlagschrauber. Ewige 13,1 Sekunden anstelle der üblichen zwei steht Vettel hilflos an der Box. Nach diesem verkorksten Stopp war Platz zwölf das ernüchternde Ergebnis. Zum siebten Mal in 13 Saisonrennen hat er die Punkteränge verfehlt. Typisch für seine Seuchen-Saison.
Mit 88 Punkten Vorsprung auf seinen einzig verbliebenen Titelrivalen Bottas (285:197) ist Hamilton in die Türkei gereist. Auf dem Istanbul Park Circuit kann Hamilton-„Nimmersatt" seinen siebten Fahrertitel aus eigener Kraft perfekt machen. Verlässt er die Türkei mit 78 Punkten Vorsprung, ist er nicht mehr von der Spitze zu verdrängen. Sieg-Erfahrung auf der 5,338 Kilometer langen Strecke hat Hamilton schon: 2010 gewann er im McLaren-Mercedes den Türkei-GP. Erster Sieger war 2005 der heutige F1-Veteran Kimi Räikkönen (41) ebenfalls in einem McLaren-Mercedes, letzter Sieger 2011 Sebastian Vettel im Red Bull-Renault. Es wurde sein zweites Jahr als Weltmeister.