Wenn ein Moment der Vergesslichkeit den Blick fürs Wesentliche schärft
Ich bin kurz vor einer Panikattacke! Verflixt, wo ist mein Handy? Ich werde es doch nicht daheim vergessen haben?! Nervös fahre ich rechts ran und fummele in meiner Tasche. Ganz ehrlich: Ich bin drauf und dran umzukehren. Aber ich bin schon zu weit weg, das wäre jetzt wirklich Quatsch. Sagt mein Verstand. Aber unterwegs ohne Handy?! Schreit mein Bauch. Niemand kann mich erreichen! Und ich kann niemanden erreichen! Und das für mindestens zwei bis drei Stunden!
Andererseits: Kann ja wohl nicht so schlimm sein, wenn man einmal sein Handy nicht dabei hat. Früher ging das ja auch ohne. Bei der Parkplatzsuche stellt sich plötzlich ein überraschendes Gefühl der Freiheit ein. Irgendwie auch klasse, dass mich niemand erreichen kann. Beschwingt parke ich ein, hole mein Kleid vom Rücksitz und stelle fest, dass ich die Adresse von dem Secondhandladen, zu dem ich will, nicht genau weiß. Nur die Straße, aber keine Hausnummer. Und diese Straße ist ziemlich lang. Mist.
Jetzt könnte ich mein Handy rausholen und im Internet nach der Adresse suchen. Ein bisschen verloren schaue ich mich um, krame in meiner Erinnerung, weil ich vor einigen Jahren schon mal in diesem Laden war. Ja, genau, da vorne an der Ecke. Selbstbewusst marschiere ich los. Da ist er nicht mehr. Na super. Ich schaue hilflos meine Tasche an. Wo ist nur dieses verflixte Handy, wenn man es wirklich mal braucht? Ich stoppe den Gedanken und folge einer Eingebung. Was, wenn ich einfach jemanden frage? So wie früher?
Ich komme mir regelrecht verwegen vor, als ich in die Kneipe laufe und mich bei der Bedienung nach dem Secondhandladen erkundige. Sie weiß es nicht, aber ihre Kollegin. Prima. Binnen weniger Minuten hab ich ihn gefunden. Na also, geht doch. Danach fahre ich in die Innenstadt. Wenn ich schon mal da bin, kann ich auch ein bisschen bummeln gehen. Unterwegs befällt mich wieder dieses mulmige Gefühl. Was, wenn mein Mann mir jetzt eine Nachricht schickt mit dem superwichtigen Hinweis, dass ich zum Beispiel Butter mitbringen soll? Und dann all die Whatsapp-Nachrichten meiner Freunde, die lustigen Videos oder die Frage, wie es mir so geht. Und ich reagiere nicht. Die wundern sich bestimmt, was mit mir los ist!
Ich verdränge die Gedanken und laufe durch die Fußgängerzone. Bei meinem Lieblings-Eiscafé gönne ich mir meinen Lieblings-Eisbecher zum Mitnehmen. Ich setze mich gemütlich auf die Stufen eines Brunnens, löffele das Eis und beobachte die Leute. Ich schau mich um, mein Blick schweift über den kleinen Platz. Was mir so alles auffällt! Was es alles zu entdecken gibt! Richtig schön. Normalerweise hätte ich wohl jetzt schon das kleine flache rechteckige Ding in der Hand und würde darauf rumtippen. Einfach so. Weil ich gerade hier sitze und nichts zu tun habe, außer das Eis zu essen, was ja keine wirkliche Beschäftigung ist. Würde jetzt meine E-Mails abrufen, durch Whatsapp scrollen, Nachrichten beantworten, selbst welche schreiben, vielleicht mein Eis fotografieren.
Stattdessen geht mein Blick in die Umgebung, hinaus in die Welt. Klingt pathetisch, ist aber so! Wie früher, denke ich. Denn ich gehöre zu den sogenannten Digital Imigrants, also zu den Menschen, denen das Handy nicht schon kurz nach der Geburt in die Wiege gelegt worden ist. Die zu einer Zeit geboren wurden, als Kinder noch im Wald Cowboy und Indianer spielten und wacklige Baumhäuser bauten oder sich gegenseitig auf Rollschuhen über die Straße jagten. Keine Angst, ich blase jetzt nicht in das „Früher war alles besser"-Horn. Nicht besser. Nur anders.
Als ich nach Hause komme, kann ich dann doch nicht anders, als sofort zum Handy zu greifen, das ganz unschuldig und nichts ahnend am Ladekabel hängt. So ganz frei bin ich halt doch nicht. Warum auch? Sind eben andere Zeiten. Als ich sehe, dass weder jemand angerufen noch eine Nachricht geschickt hat, fühle ich mich kurz erleichtert. Und finde es gleichsam blöd, dass ich erleichtert bin. Da kämpft wohl mein 80er-Jahre-Ich mit meinem Digitales-Zeitalter-Ich. Beide haben recht, und beide dürfen bleiben. Mein modernes Ich freut sich, dass es wieder mit dem Handy rumspielen darf. Meinem 80er-Jahre-Ich verspreche ich, dass ich das Handy demnächst mal wieder zu Hause vergesse.