Multiple Sklerose verläuft schubweise oder chronisch progredient. Nach und nach verschlechtert sich die Situation der Betroffenen. Heidemarie H. und Gabi A. geben Einblick in ihr Leben mit der schweren Krankheit.
Mit Schmerzen im linken Auge fing alles an. Heidemarie H. weilte im Skiurlaub, liebte die schnellen Abfahrten, die schneeglitzernden Berge, die besondere Atmosphäre auf der Piste. Doch 1999 in ihrem heiß ersehnten Skiurlaub war plötzlich alles anders. Die damals 43-jährige sportliche Frau fiel öfters hin, schwankte, fühlte sich schlapp, die Beine waren schnell müde.
„Der Arzt in dem Urlaubsort konnte nichts feststellen. Wegen der Schmerzen in meinem Auge riet er mir, zu Hause meine Augenärztin aufzusuchen. Sie schlug gleich Alarm. Vermutete einen Tumor hinterm Auge. Im Knappschaftsklinikum Püttlingen wurde dann nach einer Liquor-Punktion festgestellt, dass ich Multiple Sklerose habe. Das war am 9. Juni 1999, am gleichen Tag, an dem meine Enkelin geboren wurde."
Für die damals bereits verwitwete Heusweilerin brach die Welt zusammen. „Meine Tochter war zwar schon 23 Jahre alt, aber mein Sohn gerade erst sechs. Er konnte nicht verstehen, warum seine Mama jetzt nicht mehr so schnell und oft mit ihm Fußball spielen wollte. Zumal man mir in den ersten Jahren nicht ansah, dass ich schwer krank bin. Meine Familie und meine Freunde kannten mich als Sportskanone. Ich bin gerne Rad gefahren, habe Tennis und Fußball gespielt, war auf Leistungssport getrimmt. Mein Vater, der sich immer gerne einen Sohn gewünscht hatte, hat mich und meine Schwester als die beiden Erstgeborenen immer angehalten, Sport zu machen. Er hat uns Fußballspielen beigebracht. Diese Liebe zur Bewegung hat mein ganzes Leben angehalten. Und dann mit Mitte 40 dieser Einschnitt."
Nach den Schmerzen in den Augen kamen Schmerzen in den Armen, ein ständiges Kribbeln und Brennen dazu. Der ganze rechte Arm von den Fingerspitzen bis zu den Ohren war betroffen.
In den folgenden Jahren wurde Heidemarie H. mit den gängigen MS-Medikamenten therapiert. Doch die Schübe kamen und gingen, die Bewegungsfähigkeit nahm Schritt für Schritt ab.
Während ihre Tochter sich mit der Krankheit ihrer Mutter schwertat, überschütteten ihre Eltern sie mit Fürsorge. „Meine Mutter wollte mir anfangs alles aus der Hand nehmen. Das wurde mir schnell zu viel. Ich habe dann Klartext mit meinem Eltern gesprochen: ‚Ich bin nicht ansteckend krank, und ich kann mir noch gut selber helfen.‘ Was ja eine lange Zeit auch stimmte. Ich konnte noch bis vor fünf Jahren mit dem Rad kleinere Strecken bewältigen und bis vor vier Jahren noch Auto fahren. Anfangs haben wir in meiner Wohnung in Heusweiler gelebt, dann bin ich zu bei meiner Tochter, danach zu meiner Schwester und zum Schluss zu meinen Eltern gezogen."
2017 konnte die tatkräftige gelernte Schneiderin nur noch am Rollator gehen. Alles fiel ihr schwer. Auch das ungewollte Nomadenleben wurde ihr zu viel. Mit etwas Wehmut zog die damals 61-Jährige in ein Apartment des selbstbestimmten Wohnens der Deutschen Multiple Sklerose Gesellschaft in Saarbrücken ein.
„Eigentlich wollte ich nie in die Stadt ziehen. Ich liebte mein Umfeld in Heusweiler. Doch jetzt bin ich froh, so citynah zu leben. So oft es geht, setze ich mich mit meinem Rollstuhl, auf den ich mittlerweile angewiesen bin, in die Saarbahn oder in den Bus, lasse mich zum Hauptbahnhof kutschieren und genieße dann die Spazierfahrt durch die Bahnhofstraße, über den St. Johanner Markt oder am Staden entlang. In meiner Wohnung bin ich noch weitgehend autark. Alles hier ist behindertengerecht gebaut, die Küche, das Bad, die Türen. Ich kann noch selbst aus dem Rollstuhl aufstehen, alleine ins Bett gehen und aufstehen."
An der wöchentlich angebotenen Sport- und Bewegungsgruppe nimmt Heidemarie H. regelmäßig teil. Die Hilfsangebote des Pflege-, des Hauswirtschafts- und des Fachdienstes erleichtern den Alltag. „Ich bekomme hier Hilfe in jeglicher Hinsicht: bei der täglichen Körperpflege, beim Ausfüllen von Krankenkassenanträgen bis hin zur seelischen Unterstützung."
Das Positive im Blick: gesunde Kinder und Enkelkinder – und ein starker Gottesglaube
Wobei Heidemarie H. Letzteres nur in Ausnahmesituationen in Anspruch nimmt. „Ich habe mit meinem Schicksal nicht gehadert. Ich habe mir damals gesagt, ich habe 40 gute Jahre gehabt, war immer gesund und fit, habe eine stabile Familie, kann auf zwei gesunde Kinder, drei Enkel und eine Urenkelin blicken, meine Eltern haben mich gut gestützt, ich habe liebe Freunde und einen starken Gottesglauben."
Hierbei schaut sie mit fröhlich blinkenden Augen auf die beiden Engelsfiguren auf dem Wohnzimmerschrank und das Kreuz über dem Türrahmen zu ihrem Schlafzimmer. „Ich fühle mich geborgen in Gottes Hand. Mein Lebensmotto ist bis heute: ‚Wenn Du glaubst, es geht nicht mehr, kommt von irgendwo ein Lichtlein her.‘"
Nach so viel vorgetragenem Optimismus hält die Frohnatur kurz inne. Ein kleiner Seufzer entfährt ihr. Sie denkt kurz nach und gesteht dann, dass ihr bei all den vielen positiven Seiten, die sie über ihr Leben aufgelistet hat, ihr auch manch Bedrückendes in den Sinn kommt. „Aber ich vergesse in letzter Zeit so vieles", sagt sie verschmitzt, um dann doch ernst zu werden. „Vor zwei Jahren waren die Schmerzen in den Knochen so stark, mein gesamter Zustand hatte sich verschlechtert, ich bin ab und zu aus dem Rollstuhl gerutscht. Ich hatte keine Kraft mehr, neue Krankheitssymptome kamen dazu, und ich war mental am Boden. Ich musste einfach mal raus."
Die beantragte Kur führte Heidemarie H. nach Waldbreitbach. Hier blühte sie wieder auf. Fühlte sich schnell wieder gestärkt. „Die Reha war für mich wie Urlaub. Eine wunderschöne Auszeit von meinem Alltag. In der Kur habe ich mir gesagt, ich will die Sprossenwand in der Turnhalle hochklettern. Hat zwar nicht ganz geklappt, aber die ersten vier Sprossen habe ich geschafft. Und ein paar Schritte konnte ich wieder alleine gehen. Ein tolles Gefühl."
Zurück in Saarbrücken hielten die Verbesserungen allerdings nicht lange an. „Schade", meint Heidemarie H. etwas traurig. Doch wenige Minuten später blickt sie wieder fröhlich auf und erzählt von ihrer Idee, den Mitarbeitern vom Fachdienst in der Corona-Zeit eine Freude zu machen.
„Für uns alle war das ja eine schwere Zeit, als am Anfang der Pandemie plötzlich die Besuche eingeschränkt wurden. Da habe ich mir gedacht, ich begrüße die Mitarbeiter jeden Morgen mit einem Muntermacher, sprich einem flotten Musikstück. Ich habe dafür von meinem Handy flotte Musik runtergeladen. Zum Beispiel ‚Perfekt‘ von Ed Sheeran oder ‚Beautiful‘ von James Blunt, das ich dann am Telefon abgespielt habe."
„Wir haben jeden Morgen auf den Anruf von Frau H. gewartet", erzählt Petra Kuhn vom Fachdienst und gesteht, dass vielen dann die Tränen über die Wangen liefen. Wir waren so gerührt, dass eine unserer Bewohnerinnen sich so liebe Gedanken um uns gemacht hat. Meistens mussten wir aber lachen, weil die ausgesuchten Lieder so fröhlich waren."
„Wie zum Beispiel das Lied von Nana Mouskouri", lacht Heidemarie H. „Wie hieß das noch mal?" „Rosen aus Athen?" „Nee, das nicht. Es war doch ‚Guten Morgen, Sonnenschein.‘" „Richtig", stimmt Petra Kuhn zu. „Das will ich auch an meiner Beerdigung hören", sagt Heidemarie H. mit fester und fröhlicher Stimme. Doch bis dahin ist ja noch viel Zeit. „Noch fühle ich mich wohl, nehme am Leben teil, gehe raus in die Stadt und die Natur, telefoniere mit meiner Familie mehrmals am Tag, lade sie zum Kartenspielen bei mir, bin noch aktiv und habe Power."
So lebensbejahend und fröhlich wie Heidemarie H. von ihrem Schicksal erzählt, ergeht es nicht allen MS-Patienten. Nur wenige Zimmer weiter wohnt Gabi A. Sie ist auch 64 Jahre alt, doch ihr Lebensweg verlief anders.
Bei ihr brach im Alter von 24 Jahren MS aus. „Ich lief immer Schlangenlinien, manche unserer Freunde meinten, ich sei betrunken. Mein Hausarzt wusste sich keinen Rat und überwies mich in die Winterbergklinik. Dort wurde mir nach einer Rückenmarkspunktion gesagt, dass meine Krankheit unterschiedliche Ursachen haben könne. Dass es MS sei, wurde mir nicht mitgeteilt. Ich vermute, der Arzt wollte mich schonen. Weiß es aber nicht so genau. Im Nachhinein hätte ich mir gewünscht, mir wäre von Anfang an reiner Wein eingeschenkt worden. Ich denke, ich hätte mich dann besser auf meine Krankheit einlassen können. So dauerte es ein paar Jahre, bis Ende 20, bis ich Klarheit hatte. In all den Jahren kämpfte ich gegen meine Unsicherheit beim Gehen. Mein Mann meinte damals: ‚Es wird schon besser, mach dir keine Sorgen.‘ Eines Tages bekam ich dann heftige Schmerzen im Auge. Ich wurde daraufhin von einem Neurologen untersucht, der lapidar sagte: ‚Bei ihrer Erkrankung gehört das halt dazu.‘ Als ich fragte: ‚Bei welcher Erkrankung?‘, sagte der Neurologe: ‚Na bei MS.‘ Da war ich wie vor den Kopf gestoßen. Er hat mir knallhart die Diagnose ins Gesicht geschleudert. Trotzdem war ich froh, dass ich endlich wusste, was ich habe. Denn dieses ständige unerklärliche Schwanken war kein schöner Zustand. Später hat der Arzt, der mich Jahre zuvor untersucht hatte, gemeint, er hätte schon damals vermutet, dass ich Multiple Sklerose habe."
Über die Jahre schlägt die Krankheit unerbittlich zu
In den Folgejahren macht sich die Krankheit bei Gabi A. kaum bemerkbar. Mit ihrem Mann baut sie ein Haus, macht sogar den Führerschein, wenn auch für ein Automatikauto. Anfang 30 wird sie frühverrentet. Ihren Kinderwunsch stellen sie und ihr Mann jedoch zurück, was für die gelernte Kinderkrankenschwester besonders schmerzlich ist. „Doch die Ärzte hatten mir abgeraten. Die Schwangerschaft oder die Geburt könnten einen neuen Schub auslösen. Das wollten mein Mann und
ich nicht riskieren." 20 Jahre lang lebt Gabi A. vermeintlich glücklich mit ihrem Mann zusammen. Doch dann verlässt er sie – ausgerechnet am 20. Hochzeitstag. „Ich habe das überhaupt nicht verstanden, geschweige denn geahnt. Doch er meinte, er könne so nicht mehr weiterleben."
Gabi A. beschäftigt die Trennung bis heute. Nachdem das gemeinsame Haus verkauft ist und die Krankheit nun zunehmend ihre Beweglichkeit einschränkt, zieht sie mit 53 Jahren in die Anlage des selbstbestimmten Wohnens der MS-Gesellschaft in Saarbrücken. Zu diesem Zeitpunkt geht die hochgewachsene Frau bereits am Rollator. Unerbittlich schlägt die Krankheit mit jedem weiteren Jahr nun zu. Immer neue Einschränkungen machen ein Leben in Selbstständigkeit unmöglich. Mittlerweile ist sie auf den Rollstuhl angewiesen, wird teilweise über eine Magensonde ernährt, spricht leise, aber nicht verbittert.
Die Tage überbrückt sie mit Fernsehe schauen. Ein Buch halten zum Lesen kann sie nicht mehr. Ihre vertraute Freundin Sylvia ist vor fünf Jahren verstorben. Mit ihrer Mutter telefoniert sie einmal im Monat, zu ihrer Schwester hält sie regelmäßig Kontakt, erfreut sich an deren Kindern und Enkelkindern.
„Ich bin nicht wütend. Ich kann mein Schicksal ja nicht ändern. Hätte mir gern ein anderes Leben gewünscht, doch es ging halt nicht. Ich hätte so gerne Kinder gehabt, wäre gerne mit meinem Mann verreist, wäre gerne Tanzen gegangen. Heute wünsche ich mir nur noch, besser essen zu können."