Die Corona-Pandemie zwingt die Parteien, die Digitalisierung voranzutreiben, etwa mit Online-Parteitagen. Darin liegt für sie auch eine Chance: Sie können so jüngere Menschen neu für sich interessieren. Zur Durchführung von digitalen Wahlen müssen aber noch juristische Hürden beseitigt werden.
Am 2. Mai 2020 fand erstmals ein Parteitag von Bündnis 90/Die Grünen komplett online statt. Die etwa 100 Delegierten trafen sich nicht, wie sonst üblich, in einer Veranstaltungshalle, sondern virtuell im digitalen Raum, zu Hause vor dem Bildschirm. Von einer Premiere in der Parteiengeschichte der Bundesrepublik war die Rede.
Vor der Corona-Krise war das Interesse der großen Parteien, Parteitage durch Videokonferenzen zu ersetzen, eher gering. Die Pandemie sorgte für ein Umdenken. Ohne die coronabedingten Einschränkungen hätte man den sogenannten Länderrat im Mai so schnell nicht digital durchgeführt, schreibt der politische Bundesgeschäftsführer von Bündnis 90/Die Grünen, Michael Kellner, in seinem Blog.
Kellner sprach von einem „demokratischen Experiment": Man habe den Raum zur politischen Diskussion trotz Kontaktbeschränkungen öffnen wollen. So sei man aber gezwungen gewesen, innerhalb kürzester Zeit „unbekanntes Terrain" zu betreten. Auch die CDU denkt mittlerweile über einen Online-Parteitag mit elektronischer Abstimmung und schriftlicher Schlussabstimmung per Briefwahl nach.
Sind Online-Parteitage genauso demokratisch?
Der kleine Parteitag im Mai war für die Grünen die Feuertaufe. Nun steht der große Parteitag vor der Tür: An diesem Wochenende verfolgen mehr als 800 Delegierte den digital ausgetragenen Parteitag. Wie schon im Mai verwandelt sich die Berliner Parteizentrale dann in ein Fernsehstudio. Von dort aus werden die Bundesvorsitzenden zu den Delegierten, die zu Hause vor dem Rechner und vor der Webkamera sitzen, sprechen. Die Veranstaltung wird live gestreamt, also übers Internet übertragen. Vor jedem Auftritt der Delegierten werden Ton und Bild von der „Regie" überprüft, bevor die Delegierten dann live geschaltet werden und ihre Rede halten.
Kritiker von Online-Parteitagen führen grundsätzliche Bedenken ins Feld. Entscheidungen über Grundsatzprogramm, Satzung und auch Vorstandswahlen seien der physischen Versammlung vorbehalten. Solche digitalen Ersatzveranstaltungen könnten nicht nach demokratischen Grundsätzen durchgeführt werden, weil die Aufstellung der Bewerber zwingend in einer Versammlung mit Vorstellung der Kandidaten sowie mit Rede und Gegenrede stattfinden müsste.
Dieser Auffassung widerspricht Christoph Bieber. Der Politikwissenschaftler ist wissenschaftlicher Koordinator am Center for Advanced Internet Studies (CAIS) in Bochum. Seine Forschungsschwerpunkte liegen unter anderem im Bereich Digitalisierung und Demokratie.
„Virtuelle Versammlungsformen müssen nicht weniger demokratisch sein als herkömmliche Parteitage, im Gegenteil. Der digitale Raum kennt keine Platzbeschränkung. Theoretisch könnte sich also jedes Parteimitglied von zu Hause aus in die Diskussion einbringen."
Juristische Grauzone
Aus juristischer Sicht jedoch stehen Online-Parteitage auf schwachen Füßen. „Elektronisch durchgeführte Wahlen sind rechtlich sehr problematisch", sagt Sebastian Roßner. Der Kölner Rechtsanwalt ist Experte für Verfassungs- und Parteienrecht. Das Problem dabei ist, dass es technisch nicht so einfach ist, Wahlen digital so zu organisieren, dass das Wahlgeheimnis gewahrt bleibt und das Wahlergebnis einfach und öffentlich überprüfbar ist. Konkret: Die Algorithmen, auf denen die Wahlsoftware basiert, sind nicht für alle Wählenden nachvollziehbar. Diese Intransparenz und angebliche Manipulationsanfälligkeit sind die Hauptgründe, die von den Gegnern von Online-Parteitagen ins Feld geführt werden.
Die Wissenschaftlichen Dienste des Bundestages haben die verfassungsrechtliche Zulässigkeit von Online-Parteitagen und elektronischen Abstimmungen geprüft und Ende Oktober eine sogenannte Ausarbeitung dazu veröffentlicht. Daraus geht hervor, dass das Bundesverfassungsgericht den Einsatz elektronischer Verfahren bei Wahlen nicht gänzlich ausschließt, sondern in bestimmten Grenzen erlaubt.
Demnach dürfen die Stimmen nach der Abgabe nicht ausschließlich auf einem elektronischen Speicher abgelegt werden. Nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts sind zum Beispiel Wahlgeräte denkbar, bei denen die Stimmen neben der elektronischen Speicherung auch anderweitig erfasst werden.
Dazu gehören beispielsweise solche Geräte, die zusätzlich zur elektronischen Erfassung ein für den Wähler sichtbares Papierprotokoll ausdrucken. Dieses könnte vor der endgültigen Stimmabgabe überprüft und anschließend zur Ermöglichung der Nachprüfbarkeit aufbewahrt werden.
Parteien könnten für Jüngere attraktiver werden
Wie ein verfassungskonformer elektronischer Ersatz für die Wahlurne in der Praxis aussehen könnte, ist aber unklar. Zwar hat der Gesetzgeber das Bundeswahlgesetz dahingehend gelockert, dass in Zukunft die Aufstellung von Kandidaten ohne Versammlung möglich werden kann, aber nur in einer Ausnahmesituation wie einer Naturkatastrophe. Die Schlussabstimmung bei einer innerparteilichen Wahl dürfte auch in einem solchen Szenario nicht elektronisch erfolgen, sondern nur per Briefwahl. Diese Notfallklausel bedeutet also nicht eine generelle Legalisierung von Online-Wahlen. Nur eine ausdrückliche gesetzliche Regelung würde hier Klarheit schaffen. Das Parteiengesetz könnte so abgeändert werden, dass digitale Wahlen grundsätzlich erlaubt wären. Das digitale Wahlverfahren könnte mit einer Bestätigungswahl per Briefwahl kombiniert werden. Eine auf Open-Source-Basis programmierte Software für digitale Wahlen würde dem Gebot der Transparenz Rechnung tragen, weil die Programmierung so nachvollziehbar würde.
Angesichts der strengen Regeln zur Eindämmung der Pandemie kann die Verlegung von Parteitagen in den digitalen Raum eine praxistaugliche Alternative sein. Die Grünen haben dafür den Beweis angetreten: „In der aktuellen Situation leisten solche digitalen Diskussionsformen einen entscheidenden Beitrag zur Aufrechterhaltung demokratischer Prozesse", sagt der Digitalisierungsforscher Christoph Bieber.
Unabhängig von der Pandemie spricht er sich für die regelmäßige Durchführung von virtuellen Parteitagen aus. So könnten insbesondere jüngere Menschen für die Parteiarbeit begeistert werden: „Mit den neuen digitalen Formaten zur politischen Partizipation wird es für junge Parteimitglieder einfacher werden, sich Gehör zu verschaffen. Das kann für frischen Wind sorgen und hilft, verfestigte Hierarchien innerhalb der Parteien aufzubrechen."
Der nächste Parteitag der Grünen ist für Sommer 2021 geplant. Er soll dann wieder regulär als Versammlung stattfinden können, so die Hoffnung der Grünen, denn die Emotionalität eines Parteitages – mit Publikum und mitreißenden Reden – lässt sich nicht durch eine Videokonferenz ersetzen.