Es war ein schweres Jahr für die FDP. Die Ministerpräsidentenwahl in Thüringen kostete viel Vertrauen, und in der Pandemie dringen die Liberalen kaum durch. Trotzdem geht Parteichef Christian Lindner mit einem neuen Generalsekretär an der Seite auf Kurs Regierungsbeteiligung.
Herr Lindner, bei der letzten Bundestagswahl war eine Einigung auf Jamaika nicht in Sicht. Seitdem hat sich einiges geändert. Die nächste große Veränderung wird die Wahl eines neuen CDU-Chefs. Was vermuten Sie: Wer macht das Rennen?
Es ist Sache der CDU, über ihren Vorsitz zu bestimmen. Armin Laschet ist allerdings aus meiner Sicht ein spannender Kandidat, weil er sich als einziger offensiv für eine schwarz-gelbe Zusammenarbeit einsetzt und in NRW eine erfolgreiche Landesregierung aus CDU und FDP führt. Selbst Friedrich Merz schielt bereits auf ein Bündnis mit den Grünen, ohne hier die inhaltliche Auseinandersetzung zu suchen. So einfach wollen wir es den Grünen nicht machen.
Somit wäre eine Jamaika-Koalition für Sie erst einmal denkbar?
Wir sind jederzeit bereit, Verantwortung für unser Land zu übernehmen. In den Ländern regieren wir in verschiedenen Konstellationen mit CDU, SPD und Grünen. In Schleswig-Holstein arbeitet eine Jamaika-Koalition seit Jahren erfolgreich. Wir haben immer gesagt: Wir wollen regieren, aber dafür müssen die Inhalte stimmen. 2017 gab es von Union und Grünen keine Bereitschaft, selbst auf rudimentäre Anliegen der FDP einzugehen. Das haben auch Spitzenvertreter unserer damaligen Verhandlungspartner später öffentlich eingeräumt. 2021 wiederum werden die Karten neu gemischt. Die handelnden Personen bei den anderen Parteien werden andere sein. Ich glaube auch, dass es dort Lern-erfahrungen aus den Sondierungen 2017 gibt. Frau Merkel wollte nicht in Widerspruch geraten zu früheren Entscheidungen ihrer Kanzlerschaft. Jeder neue Kanzler aber wird den Anspruch haben, ein neues Kapitel aufzuschlagen. Insofern schaue ich mit Zuversicht auf mögliche Verhandlungen. Mein Ziel ist es, die FDP in Regierungsverantwortung zu führen, damit Trendwenden in unserem Land möglich werden.
Wie wollen Sie das erreichen?
Die Themen im öffentlichen Diskurs verschieben sich, die politische Landschaft ist im Umbruch. Auf unserem jüngsten Bundesparteitag haben wir unser Team neu aufgestellt, um auf diese Entwicklungen zu reagieren. Mit Volker Wissing ist ein ausgewiesener Wirtschafts- und Finanzexperte neuer Generalsekretär, der als amtierender Wirtschaftsminister in Rheinland-Pfalz den Regierungsanspruch der FDP bekräftigt und die richtigen Antworten auf die Herausforderungen unseres Landes geben kann. Aus der Gesundheitskrise ist längst eine Wirtschaftskrise geworden. Wir erleben den drastischsten Konjunktureinbruch seit dem Zweiten Weltkrieg. Menschen bangen um ihre berufliche Existenz. Unternehmen steuern auf eine Insolvenzwelle zu. Unser Land gerät in einen Schuldensumpf. Was wir brauchen, ist ein neues Wirtschaftswunder und dafür eine andere Wirtschaftspolitik. Eine Kraft, die Wachstum, Beschäftigung, sozialen Aufstieg und solide Finanzen in den Fokus nimmt, ist also nötiger denn je.
Oft wird darüber gesprochen, dass sich die Gesellschaft zunehmend polarisiert. Gleichzeitig scheinen Autokraten weltweit an Einfluss zu gewinnen. Wie beurteilen Sie diese Entwicklung?
Das sind zwei unterschiedliche Phänomene, die uns gleichermaßen Sorge bereiten müssen. Erstens erleben wir in den westlichen Demokratien eine zunehmende Polarisierung. Auf der einen Seite stehen jene, die sich mit Verschwörungstheorien und völkischer Ideologie gänzlich aus dem gesellschaftlichen Diskurs verabschieden, und auf der anderen Seite diejenigen, die den Diskurs mit linker Moralisierung einengen und dominieren wollen. Hier brauchen wir wieder mehr Respekt und Verständnis für andere Meinungen, denn unsere Demokratie lebt vom freien Ideenwettstreit. Zweitens gerät die Freiheit auch international in Bedrängnis. Demokratien werden destabilisiert. Autokratien sind auf dem Vormarsch. Die Systemrivalen China und Russland agieren zunehmend aggressiver, wie das Nawalny-Attentat oder der Völkerrechtsbruch in Hongkong zeigen. Hoffnung geben mir die mutigen Demonstranten, die in Minsk oder Hongkong für ihre Freiheit kämpfen. Um sich den neuen antidemokratischen Mächten entgegenzustellen, braucht es aber vor allem ein starkes Europa, das geschlossen, mit einer gemeinsamen Außen- und Verteidigungspolitik und mit neuem Selbstbewusstsein für unser Wertesystem eintritt.
Auch aktuell in der Corona-Krise wird wieder häufiger vom „starken Staat" gesprochen, der durchgreifen muss. Liberalismus steht derzeit nicht gerade hoch im Kurs ...
Die Corona-Krise hat für große Verunsicherung gesorgt. Eine überwiegende Mehrheit der Bevölkerung sucht in dieser Zeit Zuflucht beim schützenden und lenkenden Staat. Der Gedanke der Freiheit ist in der Defensive. Aber durch die Krise hilft nicht zuerst ein starker Staat, sondern die Vorsicht im Alltag und die Eigenverantwortung. Auch in der Pandemie bleibt staatliches Handeln an das Grundgesetz gebunden. Grundrechtseingriffe zu hinterfragen darf keine Frage der Mehrheitsmeinung sein, sondern ist ein Gebot unserer Verfassung. Der Staat kann nicht dauerhaft ausfallende Wertschöpfung kompensieren. Stattdessen muss er sich schnellstmöglich wieder aus der Wirtschaft zurückziehen, um Innovation und substanzielles Wachstum zuzulassen. Genau deshalb ist es unser Auftrag als Freie Demokraten, umso energischer für Eigenverantwortung, verhältnismäßige Maßnahmen und solide Ordnungspolitik einzutreten. Freiheit und soziale Marktwirtschaft dürfen der Krise nicht zum Opfern fallen.