Die Vorsitzendenfrage ist ungeklärt, damit auch die berühmte K-Frage. Ein neues Grundsatzprogramm, das jetzt eigentlich beschlossen werden sollte, existiert nur als Materialsammlung und Entwurf. Die CDU nach Merkel ist noch ziemlich konturlos.
Für Annegret Kramp-Karrenbauer geht es ungewollt in die Verlängerung. Mindestens bis Januar steht sie weiter an der CDU-Spitze. Die Partei muss sich gedulden, bis klar ist, wer erster männlicher Chef im Konrad-Adenauer-Haus seit zwei Jahrzehnten wird. Spekulationen, ob nicht doch noch eine Frau auf den letzten Drücker vor dem Parteitag den drei bekannten Bewerbern Konkurrenz machen wollte, haben sich als haltlos erwiesen. Das dürfte sich vor dem nächsten Anlauf zur Vorsitzendenwahl im Januar auch kaum ändern. Es ist die wohl bislang bemerkenswerteste Kür, obwohl ja bereits der Showdown AKK/Merz mit allen über Jahrzehnte geübten Traditionen gebrochen hatte.
Zur Jahreswende ins Jahr der ersten Bundestagswahl, bei der sich die amtierende Kanzlerin nicht zur Wiederwahl stellt, steht die CDU ohne Parteispitze, ohne ein neues Grundsatzprogramm und die Union insgesamt ohne Kanzlerkandidaten da.
Dafür macht die CDU zumindest nach außen derzeit einen vergleichsweise ruhigen Eindruck. Die Pandemie und der November-Lockdown dürften überlagern, was hinter den Kulissen abgeht. Die heftigen Reaktionen des Kandidaten Friedrich Merz auf die Verschiebung des für Anfang Dezember geplanten Parteitags und das Votum der Jungen Union (mit deutlicher Mehrheit für Friedrich Merz) wirken da wie das Aufblitzen des Leuchtturms im Dickicht der Corona-Bewältigungsdiskussionen.
Vom Krisenmanagement, das nach wie vor einer Mehrheit der Bevölkerung mitgetragen wird, profitiert die Union als größerer Koalitionspartner. In Umfragen Anfang November lagen die Unionsparteien (CDU und CSU) zwischen 35 und 37 Prozent, damit über dem Ergebnis bei der letzten Bundestagswahl (2017: 32,9 Prozent). Offensichtlich kommt der CDU zugute, dass die Menschen im Land derzeit andere Sorgen umtreiben als die Frage nach dem nächsten Parteivorsitzenden. Aber auch, dass große öffentlichkeitswirksame Castings in diesen Zeiten schlicht nicht angesagt sind.
Die K-Variante Söder ist offen
Die Verschiebung des Parteitags erhöht allerdings den Druck in mehrfacher Hinsicht. Mit der Kür untrennbar verbunden ist die Frage nach der Kanzlerkandidatur. Die SPD hat mit Olaf Scholz schon vor Monaten vorgelegt, was ihr allerdings – zumindest den bisherigen Umfragen zufolge – keine signifikanten Vorteile gebracht hat. Sie hat auch nicht von der öffentlichen Unionsdebatte profitiert, wonach es Scholz womöglich im Bundestagswahlkampf mit Markus Söder zu tun bekäme, weil dem CSU-Politiker unionsintern größere Chancen eingeräumt würden als einem der möglichen neuen CDU-Vorsitzenden.
Diese Diskussion hat allerdings eine neue Wendung durch eine Umfrage Anfang November bekommen. Demnach sprechen sich rund 60 Prozent der CSU-Mitglieder für einen Kanzlerkandidaten aus den Reihen der großen Schwester CDU und nicht für den eigenen Parteichef und bayerischen Ministerpräsidenten aus. Auf den ersten Blick erscheint das für die ansonsten außerordentlich selbstbewussten Bayern irritierend, erklärt sich aber womöglich durch die außerordentlich hohe Zufriedenheit der CSU-Mitglieder mit ihrem Landeschef (90 Prozent), den sie folglich ungern ziehen lassen wollen.
Im Triumvirat Armin Laschet, Friedrich Merz und Norbert Röttgen nimmt Letzterer nur eine Außenseiterrolle ein. Laschet hat sich durch sein Krisenmanagement als nordrhein-westfälischer Ministerpräsident nach anfänglicher Zustimmung im weiteren Verlauf teils heftige Kritik eingefangen und Rückhalt eingebüßt. In der Folge wurde bereits diskutiert, ob er nicht besser Gesundheitsministerminister Jens Spahn den Vortritt lassen sollte. Dass Laschet Spahn für eine Art Co-Kandidatur gewinnen konnte, galt zunächst als geschickter Schachzug. Dass der auch seine Fallstrecke hat, ist in den letzten Monaten immer deutlicher geworden.
Friedrich Merz stand mangels Amt und Funktion in der Krise etwas abseits des Spielfelds, hat sich aber in seiner unnachahmlichen Art zurückgemeldet. Die Verschiebung des Parteitags als taktische Maßnahme des Partei-Establishments gegen seine Kandidatur zu werten, war ein gezielter Stilbruch, ein Weckruf für die Anhänger und Irritation für alle anderen. Merz provoziert mit großer Leidenschaft. Seine klare Sprache ist sein Markenzeichen, gleichzeitig auch sein großes Manko.
Das alles ist bekannt. Was aber zu weiten Teilen unklar ist, ist die Frage, wofür die Partei eigentlich steht. In ihrem vorletzten Wahlkampf genügte Angela Merkel für die Antwort ein kurzer Satz: „Sie kennen mich". In der Nach-Merkel-Ära ist deutlich, dass die Union eine programmatische Leerstelle hat, der Text unter plakativen Überschriften der Selbstbeschreibung fehlt. Dessen ist sich die Partei durchaus bewusst, schließlich sollten auf dem jetzt verschobenen Parteitag eigentlich die Debatte und die Verabschiedung eines neuen Grundsatzprogramms stehen. Nach dem ursprünglichen Fahrplan, wie er noch im Februar kurz nach der Rückzugsankündigung von AKK geplant war, hätte die Neuwahl bereits im April über die Bühne gehen sollen. Der neue Chef hätte somit in der Erarbeitung des Programms seine Handschrift eintragen können.
Die Grundlagen dafür hat AKK in ihrer unerwartet kurzen Zeit als Generalsekretärin gelegt. Mit einem breit angelegten Brainstorming auf einer „Zuhör-Tour" kam die Basis zu Wort. Nach den Jahren, in denen alles auf die Kanzlerin zugeschnitten war, ein ungewohntes Signal mit so mancher Überraschung für die Parteizentrale, was denn ihre Basis so bewegt. Am Ende stand ein erster Entwurf für ein neues Grundsatzprogramm, das eigentlich in diesem Jahr auf „Antwort-Tour" in die Gliederungen gehen sollte. Die Pandemie hat die Planungen zunichtegemacht.
Weiter Basteln am Programm
Das derzeitige Programm stammt noch aus 2007 und sollte „die CDU für die nächsten 15 Jahre inhaltlich ausrichten". Bereits in den Vorbereitungen eines neuen Programms trägt die Partei der Erkenntnis Rechnung, dass der Lauf der Dinge an Tempo zulegt. Diesmal soll das Programm die Partei „für die kommenden zehn Jahre ausrichten" und dabei die Wertvorstellungen definieren, von denen sich die Partei bei der Beantwortung aktueller Fragen leiten lässt. Nach den ganz auf Angela Merkel zugeschnittenen Jahren sollte die Parteibasis ran unter dem Motto „Mach es zu deinem Programm". Pandemiebedingt wurde daraus nichts mehr, es blieb bei Materialsammlung und Entwurf.
Die derzeit dreifache Leerstelle Parteivorsitz, Kandidat und Programm macht zunächst nicht den Eindruck, als gehe da eine Partei gut aufgestellt in einen Bundestagswahlkampf. Allerdings hat sich die CDU auch noch selten als ausgesprochene Programmpartei verstanden oder hervorgetan. Eher waren der Wille zur Macht und Pragmatismus kennzeichnend. Gerade Letzteres könnte mit eine Erklärung für die derzeit guten Umfragewerte sein in einer Zeit, in der die Pandemie alle Lebensbereiche dominiert. Das wird im kommenden (Wahl-)Jahr auch so bleiben. Wenn – so die Hoffnung – mit einem Impfstoff wieder mehr Normalität möglich wird, werden sich die Folgewirkungen des Lockdown-Jahres 2020 erst richtig zeigen. Pragmatische Weichenstellungen für einen wirtschaftlichen Wiederaufschwung dürften die meisten Menschen mehr interessieren als intensiv diskutierte, fundierte Grundsatzprogramme.
Problematischer sind da eher schon die nicht entschiedenen Personalfragen. Von einer Merz-CDU ist anderes zu erwarten als unter Laschet. Womöglich spielt die aktuelle Corona-Situation zum Jahresbeginn eine wichtigere Rolle bei der Personalentscheidung als langfristigere inhaltlich-strategische Ausrichtungen. Das könnte wiederum die Chancen einer Wahl unter Krisenmodus sogar begünstigen. Eine Antwort auf die Frage, wie es mit der Volkspartei nach der Ära Merkel und unter Herausforderungen, die das letzte Grundsatzprogramm nicht einmal geahnt hat, weitergehen soll, bliebe weiter unbeantwortet.