Jean Schoving findet als Jugendlicher heraus, dass sein Vater als Nazi-Kollaborateur und Volksverräter hingerichtet worden war. Das prägt das Leben des mittlerweile 76-Jährigen bis heute.
Der Sport war schon ein Ausgleich für Jean Schoving, da wusste er noch gar nicht, wofür. Heute ist er 76 Jahre alt und erzählt noch immer begeistert von Wettkämpfen, die er seit seiner Jugend gewonnen hat und auch von denen, die er erst kürzlich in der letzten Woche noch bestritten hat. Sein Leben ist zum großen Teil dem Sport gewidmet. Noch im vorigen Jahr besiegt er beim Kugelstoßen im Nordosten Frankreichs einen früheren Weltmeister im Gewichtheben. Schon als Jugendlicher läuft er, was das Zeug hält. Er ist jedes Mal stolz, wenn der Name Schoving in den Bestenlisten auftaucht.
Die Mutter sorgt alleine für die beiden Kinder
Ob sein Vater wohl auch stolz darauf gewesen wäre? Schoving weiß es nicht, er hat keine Erinnerung an ihn. Der Vater stirbt 1947, da ist der Sohn gerade drei Jahre alt. Schoving selbst wird 1944 während des Zweiten Weltkriegs geboren, seine Familie ist damals schon seit vielen Generationen in Etzing ansässig, einem kleinen Dorf im heutigen Departement Moselle im Osten Frankreichs. Die Region, in der sein Heimatdorf liegt, hat als Grenzregion zwischen Deutschland und Frankreich eine bewegte Geschichte. Immer wieder wird das Gebiet im Laufe der Jahrhunderte „zwischen Deutschland und Frankreich hin- und hergeschoben", wie Schoving sagt. Allein zwischen 1850 und 1950 ändert sich die Nationalzugehörigkeit der Menschen dort viermal. Es ist eine Instabilität, die die Identität ganzer Generationen ins Wanken bringt, und sich am Ende auch exemplarisch in der Familiengeschichte der Schovings manifestiert. So steht etwa Schovings Großvater im Ersten Weltkrieg als Deutscher an der Front Franzosen gegenüber, das Gebiet ist da gerade dem deutschen Kaiserreich zugehörig. Auch als Schovings Vater in den Wirren des ersten Weltkriegs geboren wird, ist er auf dem Papier noch deutscher Staatsbürger. Erst nach dem Krieg wird er gemäß des Versailler Vertrags zum Franzosen. Die Region erlebt im Anschluss eine Ruhepause, die spätestens im Jahr 1940 endet, als die Wehrmacht die Maginot-Linie an der deutsch-französischen Grenze durchbricht, das Gebiet besetzt und es erneut an Deutschland angliedert. Als Jean Schoving im vorletzten Kriegsjahr geboren wird, ist also auch er offiziell deutscher Staatsbürger. Sein Geburtsname lautet Johann Günther, seine Geburtsurkunde ist auf Deutsch verfasst. Als der Krieg vorüber ist, wird das Gebiet wieder französisch, auf behördliche Anordnung hin wird Schovings Name in die französische Variante umgeändert. Nicht nur die Deutschen sind verhasst, sondern auch ihre Sprache. Schoving heißt jetzt nicht mehr Johann Günther, sondern Jean Gonthier.
Nach dem Tod des Vaters sorgt seine Mutter allein für die beiden Kinder, und sie versucht, als Damenschneiderin und später als Inhaberin eines kleinen Ladens, die Familie über die Runden zu bringen. Über den Vater verliert sie Zeit ihres Lebens kein Wort. Dass in der Nachkriegszeit viele Söhne ohne ihre Väter aufwachsen, ist traurige Realität, aber je älter Schoving wird, desto mehr merkt er, dass bei ihm etwas anders ist. Das Geld daheim ist oft knapp. Heute weiß er, warum. Und er weiß auch, warum er als Jugendlicher häufig der Außenseiter und Prellbock für die anderen Jungen im Ort war. Heute weiß er auch, warum die Mutter letztlich aus dem Dorf, das seine Familie seit Generationen bewohnt hat, in den nächstgrößeren Ort Forbach umzieht. Der Grund: Sein Vater, Hänschen Schoving, wurde als Nazi-Kollaborateur und Volksverräter hingerichtet. Am 26. Juli 1947 starb er im Alter von 29 Jahren durch Erschießen, nachdem er vom Landgericht Metz wegen Verschwörung mit dem Feind zum Tode verurteilt worden war. Eine Tatsache, die der Sohn auch heute noch bei seinen Ausführungen oft in den Vordergrund stellt, ist dabei der Umstand, dass der Vater im Zuge des Gerichtsprozesses der französischen Staatsbürgerschaft für unwürdig erklärt wurde. Der Vater stirbt letzten Endes nicht als Franzose und nicht als Deutscher, sondern als Staatenloser. Infolgedessen bekommen weder Mutter noch Kinder finanzielle Unterstützung vom Staat. Und noch belastender scheint es für Schoving zu sein, dass der Identitätsverlust des Vaters auch ihn selbst der Möglichkeit beraubt, eine Identität zu finden, dass eine Bürde auf ihm lastet, die er nicht selbst verschuldet hat.
Jean Schoving hat die Geschichte seiner Familie in zwei Büchern niedergeschrieben. Es ist eine Geschichte, die zwei Seiten hat. Darin geht es um sein eigenes „Leben als Sohn eines Unwürdigen", so der Titel des Buches, um das Finden einer eigenen Position in einer Generation von Nachkriegskindern, der er gleichzeitig doch nicht angehört. In seinen Ausführungen wandert er zwischen seinen sportlichen Erfolgen, mit denen er den eigenen Namen wieder positiv besetzen will, Erinnerungsfragmenten aus seiner Kindheit und der Geschichte seines Vaters hin und her. Warum er schreibt? Um auf sich aufmerksam zu machen oder vielleicht, um sein Kindheitstrauma aufzuarbeiten, sagt er.
Aufarbeitung der Geschichte in zwei Büchern
Lange Zeit bleibt vieles für ihn unaussprechlich. Als er als Jugendlicher die Umstände herausfindet, unter denen der Vater gestorben ist, schämt er sich. Er wählt zunächst den Weg der Mutter und schweigt. „Meine Mutter hat mir nie von meinem Vater erzählt, vermutlich aus Scham, aber vielleicht auch aus Wut, dass ihr Ehemann sie aus selbstverschuldeten Gründen alleine gelassen hatte", schreibt er in seinem Buch und er erinnert sich, wie auch er sich lange um klare Worte windet. „In der Realschule oder im Gymnasium war der meistgefürchtete Moment für mich das Nachfragen nach meinem Vater und den Ursachen seines Todes. Was sollte ich sagen? Dass er verstorben war, hingerichtet wegen geheimer Verbindungen zum Feind? Es war schrecklich." Daher sagt er bis zu seinem 30. Lebensjahr immer nur: „Il est mort des suites de la guerre – Er ist infolge des Krieges umgekommen." Ob sich heute rückblickend eine Schuldfrage beantworten lässt, darüber ließe sich diskutieren. Es ist ein schwieriges Thema, das anhand von anderen Fällen auch bis in die jüngste Vergangenheit immer wieder thematisiert und aus vielen Blickwinkeln besprochen wird. Laut Schoving stand sein Vater damals vor einer Wahl, die, wie der Sohn sagt, keine echte Wahl war. Hätte er nicht zugestimmt, als Übersetzer für den Sicherheitsdienst in Metz zu arbeiten, wäre er, wie viele andere auch, als Soldat an die Ostfront geschickt worden. Offiziell arbeitete er als Dolmetscher. Dass er auch vertrauliche Informationen über die Fluchtpläne von Franzosen lieferte, war der inoffizielle Teil seiner Tätigkeit. „Er wollte seine Familie nicht in Gefahr bringen", sagt der Sohn. Nach seiner Verurteilung titelt eine Zeitung: „La mort pour Schoving, dénonciateur de résistants – Tod für Schoving, Denunziant von Widerstandskämpfern". Seit vielen Jahren setzt sich Schoving aktiv mit seiner Identität auseinander. Er hat die Geschichte seiner Heimat in sich aufgenommen, auch beruflich. Nach dem Schulabschluss studiert er Germanistik in Straßburg und arbeitet lange als Übersetzer für Peugeot in Saarbrücken, wird zum Grenzgänger. Auch seine Bücher hat er in deutscher Sprache verfasst. Zum Saarland hat er enge Verbindungen, auch wegen des Sports. Neben seiner Karriere als Läufer in Frankreich, wo er etwa in den 60er- und 70er-Jahren Lothringen-Meister über 5.000 Meter und Elsass-Meister im Crosslauf wird, oder den Elsass-Rekord über 2.000 Meter auf der Bahn verbessert, schafft er es auch, für Saar 05 Saarlandmeister im Waldlauf zu werden oder süddeutscher Vizemeister in der Mannschaftswertung Marathon. Es zieht ihn auch wieder nach Frankreich, er wird erfolgreicher Leichtathletiktrainer, seine damalige Ehefrau Ingrid stellt die erste französische Frauenbestzeit im Marathon auf. Obwohl er mittlerweile die meiste Zeit des Jahres in der Ardèche verbringt, besucht Schoving seine Heimat noch regelmäßig. Heute sieht er sich nicht als Franzose oder Deutscher, sondern als Lothringer, als Sohn ebendieses Landstrichs am Rand Frankreichs.