1983 formierten sich Mitglieder der Berliner Philharmoniker zum Scharoun Ensemble. Sie haben bekannte Werke von Schubert und Beethoven, aber auch weniger Eingängiges im Repertoire.
Dieses Ensemble verdankt seine Existenz einem einzigen Werk: Franz Schuberts berühmtem Oktett für Klarinette, Horn, Fagott, Streichquartett und Kontrabass. Es gilt als eines der wichtigsten Kammermusikwerke schlechthin. Um diese Komposition aufzuführen, taten sich 1983 einige junge Mitglieder der Berliner Philharmoniker zusammen. Natürlich liebten sie es, unter dem charismatischen Herbert von Karajan großformatige Sinfonien zu spielen; zugleich aber vermissten sie die kleinere Besetzung. Also gründeten sie ein neues Ensemble, für das man natürlich einen Namen brauchte.
Die Idee, sich nach dem Architekten Hans Scharoun zu benennen, war ein Volltreffer: Der Name klingt prägnant und stellt zugleich eine Verbindung zum Stammhaus der Musiker her: der Berliner Philharmonie, diesem einzigartigen, von Hans Scharoun entworfenen Konzertsaal. Zugleich fühlt sich das Scharoun Ensemble den Idealen des Architekten verpflichtet: der Verbindung zwischen Tradition und Innovation, der Suche nach neuen Wegen in der künstlerischen Kommunikation.
Das zeigt sich im außerordentlich breit gefächerten Repertoire, das vom Barock über klassische und romantische Werke bis hin zu zeitgenössischen Klängen reicht – dabei werden verschiedene Stile und Epochen in den Aufführungen gern kontrastreich kombiniert. Die Musiker spielen in allen denkbaren Kombinationen; als Trio, Quartett oder Septett. Bei Bedarf werden weitere Kollegen oder auch ein Dirigent dazu gebeten. Das Spiel im Scharoun Ensemble stellt die Musiker vor andere Herausforderungen als beim großen Orchester.
Balance von Bläsern und Streichern
Stets aufs Neue muss die ideale Balance zwischen Streichern und Bläsern gefunden werden. Mal sollen die acht Instrumente homogen verschmelzen, dann wieder im durchsichtigen Klangbild ihre eigenen Charaktere bewahren. Doch die Auseinandersetzung darüber ist für jeden der Musiker auch immer eine Bereicherung. Wer eine Probe mit dem Scharoun Ensemble erlebt hat, merkt, wie demokratisch es darin zugeht: Jeder Deutungsansatz wird ernst genommen und abgewogen.
Mit seinem breiten Repertoire stellt sich das Scharoun Ensemble gegen den derzeitigen Trend hin zur Spezialisierung. Fortwährend entstehen neue Spezial-Ensembles für Alte oder Neue Musik. Allrounder sind jedoch selten.
„Die Oktett-Basis hat sich bewährt, um ein vielfältiges Repertoire abzudecken. Nicht zu klein und nicht zu groß", erklärt Kontrabassist Peter Riegelbauer. „Inzwischen sind wir allerdings zu neunt. Mit drei Geigern können wir bei den Besetzungswechseln flexibler agieren."
Im Lauf der Jahrzehnte wirkten eine ganze Reihe von Philharmonikern im Scharoun Ensemble mit. Zwei der Gründungsmitglieder sind heute noch mit dabei: Peter Riegelbauer und der amerikanische Hornist Stefan de Leval Jezierski.
Die Corona-Pandemie ist auch für die Scharoun-Mitglieder eine schwierige Zeit. Nach dem Frühjahrs-Lockdown arbeiteten die Berliner Philharmoniker bis Ende August in Kurzarbeit. „Wir hatten wirtschaftliche Einbußen, waren aber auch traurig, weil wir uns nicht sehen und miteinander musizieren konnten", erzählt Stefan de Leval Jezierski. „Wir haben auch eine Residency bei den Sinfonikern in Shanghai, die diesmal nur virtuell stattfinden konnte."
Wenigstens konnte im September das Festival im schweizerischen Zermatt über die Bühne gehen, wo das Scharoun Ensemble seit 2005 eine eigene Akademie leitet. „Nach einem Frühling und Sommer ohne Auftritte war das Zermatt-Festival für uns ein besonderer Höhepunkt", meint Stefan de Leval Jezierski. „Wir mussten natürlich Einschränkungen in Kauf nehmen, haben viel getestet und Abstand gehalten. Aber trotzdem wurde es ein sehr schönes Festival."
Herrlich ist schon die Anreise in das autofreie Bergdorf Zermatt: Das Bähnli schiebt sich das immer schmaler werdende Mattertal hinauf bis auf 1.600 Meter Höhe. Endlich taucht hinter einer Kurve das Matterhorn auf. Unter dem markanten, spitzen Gipfel des Viertausenders breitet sich eine Bilderbuch-Idylle mit verwitterten Almhütten und glocken-behängten Kühen aus.
Im Winter tummeln sich hier die Skifahrer; im Sommer wird gewandert. Den September, eigentlich Nebensaison, bereichert das Scharoun Ensemble mit dem Festival. Dessen Vorgeschichte reicht allerdings weiter zurück: Schon in den 50-ern lud ein ortsansässiger Hotelier den berühmten Cellisten Pablo Casals ein, der am Fuß des Matterhorns Konzerte und Meisterkurse gab.
Jährliche Akademie am Matterhorn
Nach einem Gastspiel, das die Scharoun-Mitglieder vor 16 Jahren in der Kapelle auf der Riffelalp oberhalb von Zermatt spielten, wurde ihnen klar: Sie hatten ihr Paradies gefunden. Schon lange wollten sie eine Akademie gründen, um zu musizieren und ihre Erfahrungen an den Nachwuchs weiterzugeben. Beim Zermatt-Festival liefen sie offene Türen ein.
Wobei die kleine Kapelle auf der Riffelalp, hart an der Baumgrenze gelegen, sich kaum als Heimstatt für ein eigenes Festivalorchester eignet. Also stieg man hinunter ins Dorf, wo es allerdings auch keinen richtigen Konzertsaal gibt. Die Proben und Veranstaltungen finden in den Kirchen oder Hotel-Tagungssälen statt. Und es gibt nicht nur Konzerte. Das Scharoun Ensemble gibt hier auch seine Erfahrungen an junge Musiker und Kammermusikgruppen weiter. Gemeinsam mit dem künstlerischen Nachwuchs werden Kammerkonzerte einstudiert, man tritt zusammen als Zermatt Festival Orchestra auf. Die Profimusiker geben hier die Stimmführer; der Nachwuchs sitzt an den hinteren Pulten. So war es jedenfalls, bevor die Pandemie ausbrach – denn im vergangenen September gab es keinen Auftritt.
Daheim in Berlin ist der Kammermusiksaal der Philharmonie zum wichtigsten Ort für das Scharoun Ensemble geworden. Hier haben die Musiker im Laufe der Jahre zahlreiche Auftragswerke uraufgeführt. Peter Riegelbauer spricht von der „großen Entdeckerlust". Man habe eine andere Herangehensweise als Spezialensembles, die ausschließlich zeitgenössische Musik spielen, erklärt der Kontrabassist. „Wir bringen auch in die Neue Musik die Klangqualität und Ausdrucksstärke der Klassik und Romantik ein."
Erleben konnte man das zum Beispiel im Oktober beim „Wochenende Neue Musik" mit Martina Gedeck als Gast. Die Schauspielerin lieh ihre Stimme dem kryptischen Text von „Riss" aus der Feder der türkischen Komponistin Zeynep Gedizlioğlu. Das kontrastreich zerrissene Werk entstand im Auftrag der Stiftung Berliner Philharmoniker.
Solch weniger eingängigen Klänge kombiniert das Scharoun Ensemble gern mit bekannteren Stücken des 18. und 19. Jahrhunderts. So ist Beethovens „Septett in Es-Dur op. 20" ein Renner im Programm. „Beethovens Septett gehört neben dem Schubert-Oktett zu unserem Kernrepertoire", erzählt Hornist Stefan de Leval Jezierski. „Wir haben es im Laufe der Zeit bestimmt schon 200-mal aufgeführt. Während das Schubert-Oktett emotional ein harter Brocken ist, wirkt das Beethoven-Stück fröhlich und kurzweilig; das ist ein Superspaß."
Schon zu Beethovens Lebzeiten war das Septett so beliebt, dass es dem Komponisten manchmal sogar auf die Nerven ging. Jetzt, nach knapp drei Wochen „Lockdown light", hofft das Scharoun Ensemble auf eine „neue Normalität" im Musikbetrieb. „Derzeit zögern die Veranstalter bei der Planung, weil die Situation so ungewiss ist", sagt Stefan de Leval Jezierski. „Die Kammermusik hat es besonders schwer, da sie häufig bei kleineren Veranstaltern stattfindet, die nicht unbedingt öffentlich gefördert werden."