Nein, die Pandemie wird die Weltwirtschaft nicht deglobalisieren. Trotzdem werden sich die wirtschaftlichen Machtverhältnisse verschieben, glaubt Prof. Dr. Gabriel Felbermayr, Leiter des Kieler Instituts für Weltwirtschaft. Im Fokus bleibt dabei die Wirtschaftsmacht Asiens.
Die Corona-Krise hinterlässt deutliche Bremsspuren in der Weltwirtschaft. Alle Volkswirtschaften kämpfen mit einem Rückgang des Bruttoinlandsprodukts, wenn auch in höchst unterschiedlichem Maße. Im Vergleich zur Finanzkrise 2009 könnte der Aufschwung nach dieser Pandemie aber schneller vorankommen, vorausgesetzt, ein harter Lockdown wie im Frühjahr bleibt aus. Doch eine Deglobalisierung aus Gründen der Lieferkettensicherung, wie man meinen könnte, werde es nicht geben. Im Gegenteil. Die wirtschaftlichen Machtverhältnisse werden sich voraussichtlich verschieben und insbesondere den Mittelstand als Rückgrat der deutschen Wirtschaft vor große Herausforderungen stellen. Das prognostiziert Prof. Dr. Gabriel Felbermayr. Der Wirtschaftswissenschaftler ist Präsident des Kieler Instituts für Weltwirtschaft, Lehrstuhlinhaber für Volkswirtschaft an der Universität Kiel sowie Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie. Er war Mitte November gemeinsam mit dem Finanz- und Wirtschaftsjournalisten Stefan Wolff aus Frankfurt Online-Gast des saarländischen Arbeitskreises Wirtschaft.
An China wird in der Weltwirtschaft in den nächsten 20 Jahren kein Weg vorbeiführen, so Felbermayr. Das dürfte kaum verwundern, schon angesichts der nur geringen Verluste durch die Corona-Krise beim Bruttoinlandsprodukt der ostasiatischen Länder, allen voran China. Neuen Aufschwung erlebt der Pazifikraum zudem durch das kürzlich abgeschlossene asiatisch-pazifische Freihandelsabkommen RCEP, das umgerechnet 30 Prozent der Wertschöpfung in Dollar der Weltwirtschaft ausmacht –
mehr als jedes andere Freihandelsabkommen. Im Zeitraum 2020 bis 2035 werde China die USA in der Kaufkraftparität klar überholen, so Felbermayr. Trotzdem könnten die USA und die Europäische Union zusammengenommen wirtschaftlich stärker sein, wenn sie wollten und könnten. „China wird wichtiger, aber nicht besser als die transatlantische Wirtschaft zusammen." Und die USA und Europa werden sich auch arrangieren, gibt sich der Präsident des Instituts für Weltwirtschaft optimistisch, vorausgesetzt, der „Sittenverfall" im Welthandel werde gestoppt.
„Sittenverfall" im Welthandel stoppen
Gerade die westliche Welt habe sich in den letzten Jahren bei Importbeschränkungen durch Zölle, Exportrestriktionen durch Sanktionen und staatliche Subventionen nicht gerade mit Ruhm bekleckert. Das Beispiel der konkurrierenden Flugzeugbauer Airbus und Boeing macht deutlich, wie achtlos auf beiden Seiten politisches Kapital verbrannt wurde. Diese Brandherde nutzt China konsequent aus. Eine Einsicht werde auf beiden Seiten des Atlantiks zur Vernunft führen, hofft Felbermayr auf eine klare Annäherung, selbst wenn eine Neuauflage des amerikanisch-europäischen Freihandelsabkommens TTIP wohl ins Reich der Fabeln gehöre. Ob deutsche Unternehmen aber von einem groß angelegten Infrastrukturprogramm oder einer möglichen Energiewende in den USA unter der Regierung Biden profitieren werden, bleibt dahingestellt. Erste Hinweise auf Joe Bidens Wahlplattform lassen eher das Gegenteil vermuten.
China jedenfalls verfolgt konsequent neue Strategien wie seine Neue Seidenstraße, die im Verlauf des Klimawandels eisfreie Arktisroute und eine Stärkung seines Militärs und Raumfahrtprogrammes. Aber jenes scheinbar unendliche Wachstum stößt auch in diesem Land an seine Grenzen, dann nämlich, wenn der demografische Wandel durch die Einkindpolitik in China ihre Spuren zeigt. Schließlich ist China kein Einwanderungsland wie USA oder europäische Länder. Dessen ist sich die Führung in Peking bewusst: Schon vor fünf Jahren beendete sie ihre rigide Einkindpolitik.
2040 wird China den Wachstumshöhepunkt erreicht haben, schätzt Felbermayr. Doch das Dilemma der nächsten 20 Jahre wird erst einmal durch eine verstärkte Rivalität zwischen dem Westen und China geprägt sein. Das Abschotten des eigenen Marktes, die politische Divergenz und der verstärkte Versuch Chinas, mit Direktinvestitionen Fuß in anderen Ländern zu fassen, nehmen zu. Deutschland ist gerade bei Letztgenanntem ein lukrativer Markt, wie das jüngste Beispiel des chinesischen Batterieherstellers Svolt zeigt. Direktinvestitionen könnten für Unternehmen vor Ort durchaus lohnenswert sein, aber wohl weniger für die jeweilige Volkswirtschaft oder die Finanzpolitik. Ein nicht zu unterschätzender Player aus dem ostasiatischen Raum sei übrigens auch das aufstrebende Vietnam. Der neue Tigerstaat der Weltwirtschaft könnte sein Bruttoinlandsprodukt zwischen 2015 und 2025 verdoppeln.
Ein Trend hin zu mehr lokaler Produktion, ein Rückgang des exponentiellen Wachstums beim Güterwarenverkehr und eine deutliche Zunahme des digitalen Dienstleistungsbereichs – so sieht Felbermayr die nächsten Jahre im Welthandel. Diese Faktoren sprechen deutlich gegen eine Deglobalisierung, wie vielleicht von einigen erwartet oder herbeigeredet. Trotz des zeitweiligen Einbruchs bei internationalen Lieferketten wie im Frühjahr dieses Jahres zeigt sich die Resilienz der Weltwirtschaft in einer erstaunlich robusten Verfassung. Allein die Tatsache, wie schnell und erfolgreich weltweit an Impfstoffen geforscht wird, spricht klar für die offene Marktwirtschaft. Die Motivation, im Wettbewerb Erster zu sein sowie Geld damit zu verdienen, sei die Antriebsfeder schlechthin. Von Marktversagen wie in der Finanzkrise 2009 könne in der Corona-Krise keine Rede sein.
Gegen Steuererhöhungen
Trotzdem: Wie die deutsche Exportwirtschaft und die Eurozone mit den wirtschaftlichen Trends umgehen werden, bleibt abzuwarten. Besonders die bisher erfolgreichen mittelständischen Unternehmen als Rückgrat der deutschen Wirtschaft stehen vor großen Herausforderungen. Wenn der Industriesektor weiter an Bedeutung verliert und der digitale Dienstleistungsbereich zunimmt, stellt sich unweigerlich die Frage nach der Wettbewerbsfähigkeit deutscher Unternehmen. Allein die Alterung der deutschen Bevölkerung, im Gegensatz zu USA oder Israel, die geringe Risikobereitschaft, die zu wenigen Start-ups, der schleppende Wissenstransfer aus den Unis in die Wirtschaft, die marode Infrastruktur, die nur humanitär ausgerichtete Migrationspolitik, die oft hemmenden gesetzlichen Rahmenbedingungen bereiten ihm Sorge. „Deutschland muss den Hebel schnell umlegen, aber es geht eben nicht schnell", sagt Prof. Felbermayr. „Solche Prozesse brauchen Zeit und die haben wir nicht und auch keine Strategie." Der Pool, aus dem sich Talente rekrutieren lassen, die sich für die Digitalisierung starkmachen, wird in Deutschland zunehmend kleiner. „Wir müssen attraktiver werden und Migration anders denken", so seine dringende Empfehlung. Denn die Erwerbsbevölkerung geht in Deutschland mittelfristig zurück.
Wenn die langfristigen Prognosen aufgrund der genannten Umstände für Deutschland nicht ganz so rosig aussehen, so ist die deutsche Wirtschaft insgesamt bisher allerdings besser durch die aktuelle Krise gekommen als andere Länder. Das zeigen jüngste Zahlen des Ifo-Instituts. Gründe dafür sieht Felbermayr vor allem in der guten Eigenkapitalausstattung vieler Unternehmen und in der Offenheit der deutschen Wirtschaft. Zudem gebe es hierzulande keine Probleme mit den Banken und auch kein schlechtes Krisenmanagement. Die Schwierigkeiten in der Industrie, vor allem im Automotive- und im Stahlbereich, seien schon vor der Pandemie aufgetreten. „Corona hat das nur verstärkt."
Auch spricht sich Felbermayr gegen Steuererhöhungen zur Bewältigung der Corona-Krise aus, trotz der erheblichen Finanzspritzen in Milliardenhöhe an die deutsche Wirtschaft. „Wir bekommen die Verschuldung in den Griff", ist er sicher. Obwohl er das Steuerrecht für reformbedürftig hält, muss aus seiner Sicht selbst an der Schuldenbremse ab 2022 nicht unbedingt gerüttelt werden. Zehn Milliarden Euro Tilgung pro Jahr seien verkraftbar.
Wichtig ist Felbermayr die wirtschaftliche Verfassung Europas. Er erteilt den Vorschlägen Frankreichs mit einem Mehr an Zentralismus und staatsgelenkter Wirtschaft eine Absage. Europa müsse sich auf die eigenen Stärken besinnen. „Die Wertegemeinschaft ist nachhaltig." Mit Sorge blickt er auf den Brexit sowie nationalistische Tendenzen in den Mitgliedstaaten. Sein klares Plädoyer: Europa braucht mehr Globalisierung und Diversifizierung, um im Welthandel künftig eine wichtige Rolle zu spielen.