Die Corona-Pandemie hat das Leben auf den Kopf gestellt. Kritik an vielen Maßnahmen der Regierung ist berechtigt. Darüber hinaus aber schießen Verschwörungsthesen ins Kraut – ein typisches, auch historisches Krisen-Phänomen, sagt der Sozialforscher Mischa Luy, der unter anderem die sogenannte Prepper-Szene erforscht.
Herr Luy, Sie erforschen an der Ruhr-Universität sogenannte Prepper, was sind das für Personen?
Derzeit arbeite ich an meiner Dissertation zu diesem Thema. Prepper haben ein Bedürfnis nach Sicherheit und Kontrolle und misstrauen dem Staat. Sie bereiten sich schon heute auf den Weltuntergang vor, indem sie zum Beispiel massiv Vorräte anlegen. Diese Corona-Situation ist natürlich Wasser auf deren Mühlen. Aber der Hype um Endzeitszenarien, die Apokalypse und Verschwörungsmythen ist nicht neu, hat nun nur noch mehr Zulauf bekommen.
Wie gehen Sie denn persönlich mit der aktuellen Krise um?
Ich isoliere mich, treffe möglichst wenig Leute und trage die Maske. Generell als wissenschaftlicher Beobachter ist dies für mich aber eine soziologisch interessante Situation, da wir nun sehen, wie sich Menschen im Krisenfall verhalten. Verhaltensweisen, die man aus der Prepper-Szene kennt wie das Hamstern von Vorräten, sind in der breiten Bevölkerung angekommen.
Informieren Sie sich regelmäßig über den Stand der Dinge?
Ja, über die üblichen Qualitätsmedien und deren Onlineformate. Ich schaue mir an, wie der Stand der Zahlen ist und wie sich die Maßnahmen der Regierung verändern. Aus wissenschaftlichem Interesse verfolge ich außerdem das Phänomen der Querdenker.
Beunruhigt Sie das, was sie da sehen?
Ich finde es beunruhigend, wie gesellschaftliche und ökonomische Ungleichheit in der Krise durchschlägt, zum Beispiel in der Eventbranche, im Tourismus und der Gastronomie. Das macht mir Sorgen. Insgesamt bin ich vorsichtig optimistisch, dass es mittelfristig besser werden wird, jetzt, da der Impfstoff gefunden wurde und die Versorgung bald anrollt.
Machen Sie persönlich etwas anders als diejenigen, die auf Querdenker-Demos gehen?
Ich habe als Wissenschaftler ein anderes Verhältnis zu Expertinnen und Experten: mehr Vertrauen in Virologen und all diejenigen, die sich mit der Pandemie beruflich beschäftigen. Sie haben alle mehr Expertise darin als ich, und dieser Expertise vertraue ich.
Wann ist denn das Vertrauen der Deutschen in Experten verlorengegangen?
Das ist schon vor der Krise geschehen. Das Vertrauen in die Politik, in Experten war bei manchen Personen geschwächt, die sich von demokratischen Prozessen entfernt haben und sich abgehängt und im Stich gelassen gefühlt haben. Eine Rolle spielt da auch die Politikverdrossenheit der vergangenen Jahrzehnte. Hier gibt es Überschneidungen, dieser Prozess hat sich unter dem Brennglas von Corona noch einmal beschleunigt. Vor allem das Im-Stich-Gelassen-Fühlen wird in dieser Krise noch einmal wichtig. Manche Maßnahmen der Unterstützung greifen nicht, also gibt es da sicherlich auch berechtigte Kritik. Aber es kommt immer darauf an, wie man diese Kritik äußert.
Vor allem aus dem rechtslastigen Milieu hängen sich nun Gruppierungen an diese Proteste dran: Reichsbürger, Neurechte wie die Identitären oder der Dritte Weg. Haben die Corona-Proteste das Potenzial, dass solche Gruppierungen an das bürgerliche Milieu andocken können?
Ich sehe darin schon großes Mobilisierungs- und Radikalisierungspotenzial. Eine Bewegung wie diese hat immer ein bestimmtes Momentum, ein gemeinsames Ziel, auf das hingearbeitet wird. Ich hoffe, dass sich die Gesamtheit dieser Bewegung nach Beendigung der Krise wieder in ihre Einzelteile auflöst. Aber wir wissen, dass Menschen aus dem neurechten Milieu relativ geschickt darin sind, solche Stimmungen ad hoc einzufangen und auszunutzen. Zu diesen Stimmungen gehört auch das Verschwörungsdenken. Es gibt Studien, die belegen, dass 33 Prozent der Bevölkerung der Aussage „Politiker werden wie Marionetten von dahinterstehenden Mächten gelenkt" zustimmen.
Welche Berührungspunkte haben denn die Gruppierungen wie die Corona-Demonstranten und neurechte Bewegungen?
Es kommt darauf an, wie sich die Menschen die Gesellschaft erklären. Es gibt definitiv Überschneidungen mit Denkmustern aus dem Populismus, dem Verschwörungsdenken und dem Antisemitismus, die insgesamt einen Scharniermechanismus zwischen diesen Weltanschauungen bilden. Allen gemeinsam ist die Denke, dass Geschichte von starken, machtvollen Gruppen und starken Individuen gelenkt wird. Diese agieren nach einem gewissen Plan aus dem Hintergrund heraus. Es gibt also keine Zufälle. Die Denke dieser Menschen ist stark direkt kausal, also ein direktes Ursache-Wirkungs-Prinzip ohne große Umwege. Es gibt nichts Abstraktes, keine abstrakten Herrschaftsverhältnisse, sondern alles wird personalisiert und mit einer bestimmten Gruppe direkt in Verbindung gebracht.
Geschichte wiederholt sich, Verschwörungstheorien gab es immer wieder. Sehen Sie Gemeinsamkeiten?
All jenen Epochen, in denen Verschwörungsmythen stark wurden, ist gemeinsam, dass sie Krisen beinhalteten: Die Pest beispielsweise fütterte das Narrativ, die Juden in deutschen Städten hätten Brunnen vergiftet. Diese Krisen erzeugen Unsicherheit und eine Unterbrechung der Routine, die einem Menschen Kontrolle und Handlungsmacht entziehen. Dies erzeugt einen Bedarf nach Deutung und Orientierung. Verschwörungstheorien bieten hier ein, wenn auch manchmal abstruses, Erklärungsmuster, an dem man sich festhalten kann. Dadurch kann man verorten, wer denn „Schuld" an all dem ist. Man muss aber auch sehen: Antisemitismus ist ein sehr wandlungsfähiges Phänomen. Zur Zeit der Pest war dieser ein religiös motivierter Antijudaismus, der ein Einzelereignis zu erklären versucht; heute ist es ein politischer Antisemitismus, der die gesamte Geschichte und Weltordnung zu erklären versucht. Heute finden sich viele alte Stereotype wie Bausteine von neuen Verschwörungstheorien immer wieder: Den Vorwurf der Kindermorde gab es im 12. Jahrhundert wie auch heute bei QAnon, ein uraltes antijudaistisches Stereotyp; es geht um Reiche und Mächtige, die alles steuern, damals die jüdischen Pfandleiher, Bankiers und Unternehmer, heute George Soros und Bill Gates.
Was unterscheidet denn letztlich einen Menschen, der an Verschwörungstheorien glauben möchte, von demjenigen, der es nicht tut? Was macht jene Menschen widerstandsfähiger als andere?
Es gibt hierfür kein Patentrezept. Da wäre zum einen eine mündige Medienkompetenz, also das Infragestellen von Quellen. Sozialpsychologische Studien weisen darauf hin, dass sich Verschwörungsgläubige gerne als etwas Besonderes fühlen – denn nur sie haben die große Verschwörung enttarnt, während all die anderen „Schlafschafe" weiterschlafen. Auch gibt es bei vielen Verschwörungsgläubigen eine mangelnde Ambiguitätstoleranz, also die Fähigkeit, Uneindeutigkeit und Unsicherheit auszuhalten. Zudem machen sie kaum einen Unterschied mehr zwischen Laien und Experten. Widerstandskraft gegen Verschwörungsdenken kann auch der Staat entfalten, indem die Menschen sehen, dass er etwas für sie tut, auch hinsichtlich materieller Absicherung. Sie müssen sich auf Experten verlassen können und das Gefühl der Solidarität kennen, sprich, dass man sich auch auf seine Mitmenschen verlassen kann. Ein starkes soziales Netz und psychologische Beratungen sind hierbei auch ganz wichtig. Zudem ist eine politische Bildungsarbeit wichtig.
Und wie kann ich damit umgehen, wenn ein mir naher Menschen solchen Theorien nachhängt? Als Realsatire abtun?
Das ist sehr schwierig. Gut kann man Jugendliche und Kinder auffangen, das weiß ich aus Erfahrung in der Bildungsarbeit. Bei Erwachsenen wird es aber sehr viel schwieriger, wenn es sich zu einem geschlossenen Weltbild verdichtet hat. Darin steckt sehr viel der eigenen Identität, Selbstaufwertung und Selbstverortung in der Welt. Ein Angriff darauf ist also ein Angriff auf die Identität dieser Person, deshalb kommt man hier schwer nur mit Fakten weiter. Man sollte gegenhalten, aber auch aufzeigen, nach welchen Mustern Verschwörungstheorien verfahren, wie sie funktionieren, welche Tricks sie anwenden.
Geht von diesen Menschen eine Gefahr für unsere Demokratie aus? Die Diskussion über den Umgang damit kocht bei jeder Demonstration hoch.
Die Formen von Verschwörungstheorien und die Radikalisierung der Gläubigen sind sehr unterschiedlich. Ich will nicht bagatellisieren, was dort passiert, aber ich denke, es ist nur ein kleiner Teil der Gesellschaft. Wenn auch dort laut geschrien wird. Die Gefahr liegt darin, dass das Misstrauen weiter wächst.