Christin da Costa Guerreiro gründete 2012 ihren Blog über Vintage-Mode, Retrokleidung und den Stil der 20er- bis 50er-Jahre. Im Interview verrät sie, wie alt ein Kleidungsstück sein muss, damit es „vintage" ist, worin der Unterschied zu Secondhand besteht und wo man Einzelstücke findet.
Christin, was genau versteht man unter Vintage-Mode? Und wie alt muss ein Stück sein, damit es zu „Vintage" zählt?
(True) Vintage Mode bezeichnet alle Kleidungsstücke, die bereits eine Vergangenheit hinter sich haben und aus vergangenen Jahrzehnten stammen. Meist grenzt man diesen Zeitraum von den 20er- bis 80er-Jahren ein. Alles davor bezeichnet man eigentlich schon fast als antik. Manch einer zählt die 90er-Jahre noch zu Vintage. Ich allerdings nicht, weil das bedeuten würde, dass ich selbst schon vintage bin. (lacht)
Worin liegt der Unterschied zu Secondhand?
Secondhand-Mode kann im Prinzip aus der Gegenwart sein – also von einer großen Modekette stammend, vor ein paar Monaten gekauft. Sie kann aber natürlich auch vintage sein, also original alt. Viele verwenden den Begriff Secondhand auch für Vintage-Mode, was verwirrend sein kann. Zusätzlich gibt es auch noch „Deadstock"-Mode (= unverkaufte Ware) und den Begriff „Retro-Mode". Deadstock sind Vintage-Stücke, die früher – zum Beispiel in den 50ern – produziert wurden, aber nie in den Verkauf kamen und aufgehoben wurden. Diese Stücke sind dann streng genommen keine Secondhand-Ware. Während Retro immer neu Produziertes ist, aber angelehnt an alte Zeiten. Ein Beispiel wäre die Schlaghose, die ja auch in den 90ern und jetzt wieder ihr Revival erlebt.
Wie erklärst Du Dir die wachsende Beliebtheit von Vintage-Mode?
Ich denke zum einen mit dem Wunsch nach dem Individuellen, Besonderen. Zum anderen mit dem ökologischen Fußabdruck, worüber sich jeder heutzutage Gedanken machen sollte. Wie viel konsumiere ich, wie kann ich es eindämmen oder vor allem: Wie lange trage ich eigentlich ein Kleidungsstück, bis es auf dem Müll landet? Einen weiteren Teil machen die Vintage-Liebhaber aus, die sich gerne im Stil der 20er- bis 70er-Jahre kleiden, die Musik dieser Jahrzehnte lieben und auch teilweise so wohnen. Bei mir persönlich ist es eine Mischung aus allen genannten Punkten. Ich liebe die 20er- bis 50er-Jahre und habe vor allem die Mode der 40er bis 50er für mich entdeckt. Ich trage sehr viel Secondhand und besitze mittlerweile auch einige True-Vintage-Stücke, die zu besonderen Anlässen getragen werden. Aber ebenso auch welche von kleinen Retro-Labels, die nach Schnittmustern der damaligen Zeit anfertigen. Ich versuche so wenig wie möglich in großen Modeketten zu kaufen und schaue vor einem Neukauf immer erst mal, ob ich etwas Ähnliches nicht auch gebraucht bekomme. Das ist gut für den Geldbeutel und für unsere Umwelt.
Wo bekommt man die besten echten Vintage-Stücke aus vergangenen Jahrzehnten? Wenn man nach Vintage-Bekleidung sucht, entdeckt man ja vor allem Designer und Marken, die vintage-orientierte Mode aus heutigen Stoffen anbieten …
Der größte Markt für True-Vintage-Stücke befindet sich immer noch in den USA und den Mode-Metropolen Frankreichs und Englands. Bei uns in Deutschland wurde gefühlt der größte Teil an Originalen immer wieder umgeändert und umgeschneidert, getragen, bis es auseinanderfiel oder weggeworfen. Vintage-Läden, die nicht nur Secondhand-Modeketten-Ware verkaufen, sucht man bei uns – je nach Gebiet – vergebens. Wer in Berlin wohnt, hat da schon bessere Karten, da die Szene dort größer ist.
Parallel gibt es zum Glück aber auch immer mehr Retro-Shops, deren Besitzer sich auf den Verkauf von Kleidung im „Vintage-Stil" spezialisiert haben. In meiner Gegend kann ich drei Lieblings-Geschäfte, geführt von drei wunderbaren Frauen, ans Herz legen: zum einen „Miss Lovett" in Mannheim – Deborah entwirft und näht selbst, verkauft aber auch Retro-Marken im Rockabilly-Stil in ihrem Ladengeschäft wie auch online. In Frankfurt gibt es noch „Peggy Sue" – Angela hat sich ebenso auf Retro-Marken spezialisiert (online wie auch im Ladengeschäft) und zu guter Letzt Nicole vom „Vintage Park" in Offenbach am Main. Bei ihr findet man die ausgefalleneren Stücke von kleineren Labels und besondere Designer-Marken, welche in kleinerer Stückzahl angefertigt werden. Ein Besuch lohnt sich, alle drei beraten super und bringen einiges an Mode-Erfahrung und Wissen zum Thema Vintage mit.
Ist es empfehlenswert, auch in Vintage-Foren, bei Etsy oder Ebay Ausschau zu halten?
Auf jeden Fall lohnt sich Onlineshopping! Meine Favoriten sind immer Ebay-Kleinanzeigen, Vinted (ehemals Kleiderkreisel), Etsy, Instagram und Facebook. Bei Ebay-Kleinanzeigen und Kleiderkreisel sind die Suchbegriffe wichtig, da nicht jeder weiß, aus welchem Jahrzehnt das verkaufte Stück stammt. Bei Instagram gibt es einige Vintage-Blogger und -Influencer, die hin und wieder Sales veranstalten oder ein extra Verkaufsprofil haben. Auf Facebook gibt es super Verkaufsgruppen, die sich nur auf Vintage oder spezielle Jahrzehnte spezialisiert haben. Bei Etsy hingegen findet man alle Originale aus dem Ausland.
Ansonsten gibt es mittlerweile zahlreiche tolle Retro-Shops, die die großen vintage-orientierten Marken vertreiben. Ganz vorne dabei „Top Vintage", toller Service, sehr schneller Versand und eine riesige Auswahl. Leider schummeln sich auch hin und wieder China-Shops unter, die mit Bildern von Retro-Marken werben, diese Kleider aber für ein Drittel des Preises anbieten. Das sind oft nachgenähte Kleider mit schlechter Qualität. Deshalb online immer aufs Impressum achten!
Wie sieht es mit Accessoires wie Taschen, Hüten et cetera aus?
Als Fundort gelten da eigentlich dieselben Quellen. Flohmärkte darf man auch nicht vergessen, vor allem für Accessoires. Bei Hüten erkennt man Originale auch am besten am Etikett oder an den verwendeten Materialien. Es wurde viel genäht. Hutblumen wurden meist genauso aufwendig per Hand in mehreren Schritten hergestellt und angemalt und bestanden fast immer aus Stoff. Nicht zu vergleichen mit den asiatischen Kunstblumen von heute. Die Suche nach den perfekten Vintage-Hüten und Haarschmuck hat mich vor einem Monat dazu veranlasst, meinen eigenen Onlineshop zu eröffnen. Ich verkaufe Originale, die ich mit True-Vintage-Seidenblumen versehe und aufbereite. Auch selbst designte Retro-Hüte und Blumen-Haarschmuck findet man unter www.apeonia.com bei mir.
Worauf muss man bei echter Vintage-Mode achten – fallen zum Beispiel die Größen anders aus als heute?
Wenn man in einem Geschäft kauft, gilt immer die Devise: anprobieren! Viele Vintage-Stücke sind nicht mehr im Besitz ihres Waschzettels/Etiketts oder wurden extra für die Besitzer/den Besitzer angefertigt und haben deshalb individuelle Größen und Maße. Bis Ende der 50er-Jahre hatte jedes Modegeschäft seine eigenen Konfektionsgrößen-Tabellen. Wer online bestellt, hat es schon etwas schwieriger. Hier gilt: Das gewünschte Stück unbedingt ausmessen lassen, bevor man zuschlägt. So kann man am ehesten abschätzen, ob es einem selbst passt. Ansonsten sollte man auf die Nähte achten. Früher wurde mit Umschlag genäht, sodass immer Stoff übrig war zum Auslassen. Metall-Reißverschlüsse deuten oft auf Originale hin und letzten Endes – falls vorhanden – das Etikett.
Wie viel sollte man maximal für ein Stück ausgeben?
Das muss in erster Linie natürlich jeder für sich selbst entscheiden beziehungsweise überlegen, was einem ein Original-Stück wert ist. Generell kann man aber sagen: True Vintage muss nicht teuer sein. Ich gebe eigentlich nie mehr als 100 Euro für ein Teil aus. Kleidungsstücke, die man eventuell noch selbst aufarbeiten muss, die schon sehr unter den Jahrzehnten gelitten haben, sollten natürlich auch günstiger sein als zum Beispiel Deadstock-Artikel, die nie getragen oder benutzt wurden.
Welche Vintage-Kleidungsstücke und -Accessoires sind Deine liebsten, welche Deine außergewöhnlichsten und wertvollsten und wo hast Du sie ergattert?
Meist die, welche einen emotionalen Wert haben. Ich habe ein 50er-Jahre-Kleid von meinem Mann zur Hochzeit geschenkt bekommen und einige schöne Stücke in den USA und während Paris-Urlauben gekauft. Und dann gibt es noch vererbte Stücke, die mein Opa früher genäht hat und über Kostümkisten dann den Weg zu mir fanden.
Was hast Du beobachtet: Was hat sich bei den Trends im Bereich Vintage in den letzten Jahren verändert?
Ich würde sagen die Trennung zwischen Rockabilly und True Vintage ist mittlerweile klarer. Früher wurden Rockabilly und die Rock’n’Roll-Szene immer gleichgesetzt mit True Vintage. Petticoat-Röcke sind im Original eigentlich zum Beispiel Unterwäsche, die man nicht sehen sollte. Mittlerweile sieht man auch immer mehr die Abspaltung von den einzelnen Jahrzehnten wie beispielsweise den 20er-Jahren, was vor allem auch durch die Party-Kultur wie der Boheme Sauvage aufkam. Generell trauen sich die Leute mehr, individuell zu sein und zu ihrem Modestil zu stehen, was wirklich toll ist.
Wie kann man alten Stücken neues Leben einhauchen?
Möbel freuen sich oft über einen neuen Anstrich, Kleidungsstücke über eine Abänderung. Vielleicht sieht ein altes Kleid, welches im Oberteil nicht mehr zu retten ist, noch wunderschön aus, wenn man es zukünftig als Rock trägt? Ein bisschen Kreativität und Geschick (oder auch die Hilfe einer/eines Schneiderin/Schneiders) genügen meist schon um ein besonderes Teilchen zu retten.
Hast Du Tipps für nachhaltigen Vintage-Stil?
Definitiv Secondhand kaufen. Kleidertausch-Abende mit Freundinnen veranstalten (oft gibt es auch moderne Mode, die man Vintage stylen kann!) und alles so lange tragen, wie es geht, und ausbessern. Und falls sie nicht mehr tragbar sind (weil zu klein/groß), dann sollte man sie entweder verkaufen, verschenken oder spenden. Die Mülltonne sollte erst dann ein Gedanke sein, wenn wirklich untragbar weil kaputt. Aber, man sollte sich nicht schlecht fühlen, wenn man sich ab und zu ein neues hübsches Teil kauft. Man sollte es dann aber auch genauso schätzen und seinen Konsum ab und zu hinterfragen. Oft hat man Schrankleichen, die man ein Jahr und länger nicht getragen hat. Die sollten meiner Meinung nach eine Seltenheit sein.
Was erwartet uns als Nächstes auf Deinem Blog?
Ich möchte demnächst wieder mehr kleine Labels vorstellen und gerne wieder mehr Artikel schreiben, die zum Nachdenken anregen. Momentan liegt der Fokus aber noch auf meinem Shop, der benötigt auch gerade viel Pflege und Liebe.