Vor 150 Jahren wurde Adolf Loos geboren. Seine Ideen bahnten der Architektur-Moderne den Weg – und sind heute wieder hochaktuell.
Kaiser Franz Joseph mied den Blick auf den Eisenbeton-Neubau gegenüber der Hofburg. Dessen schnörkellose Fassade sorgte im kuschlig-gemütlichen Wien für einen Skandal: glatte, weiße Wände, rechte Winkel, Fenster ohne Fassung. Und das bereits 1911 – mehr als zehn Jahre vor den ersten „Bauhaus"-Villen.
Das „Looshaus", errichtet für den eleganten Herrenausstatter Goldman und Salatsch, zählt heute zu den Hauptwerken des österreichischen Architekten Adolf Loos.
Vor 150 Jahren kam der Pionier der modernen Architektur und visionäre Stadtplaner zur Welt; er prägte das Motto „Form folgt der Funktion".
Als Sohn eines Steinmetzes wurde Adolf Loos am 10. Dezember 1870 im mährischen Brünn geboren. Ein Studium brachte er nie zum Abschluss; wichtige Anregungen erhielt er jedoch bei einem dreijährigen Amerika-Aufenthalt, bei dem er sich mit verschiedenen handwerklichen Hilfsarbeiten durchschlug.
Als Loos 1896 zurück nach Wien kam, kleidete er sich wie ein Dandy und hatte ganz eigene Vorstellungen von Architektur und Design, die er in scharf formulierten Zeitungsaufsätzen vertrat. Dabei attackierte er die Anhänger der Wiener Secession um Gustav Klimt, und deren Neigung zu Prunk und Dekor. Zu seinen engen Freunden zählten Künstler wie Karl Kraus, Oskar Kokoschka und Arnold Schönberg. „Ornament ist Verbrechen" – ausgerechnet ein falsch zitierter Satz hängt Loos seither an, weil er zum Klischee des Askese-Propheten passt. Dabei trägt sein Manifest eigentlich den Titel „Ornament und Verbrechen".
Nach dem Ersten Weltkrieg, der in Wien für Obdachlosigkeit und illegale Slums sorgte, wurde das Wohnen zum hochpolitischen Thema. Die Stadt, damals fest in sozialdemokratischer Hand, stand vor der drängenden Frage: Wie lässt sich schnell und kostengünstig funktionaler Wohnraum schaffen? In dieser Debatte stritten die bürgerlichen Anhänger des Geschosswohnbaus mit den sozialreformerischen Verfechtern einer Gartenstadt-Idee.
Adolf Loos, der 1923 Chef-Architekt des Wiener Siedlungsamts wurde, lehnte die riesigen städtischen Wohnhausanlagen ab. Er befürwortete Einfamilienhaus-Siedlungen mit Nutzgärten, durch die sich die notleidende Bevölkerung selbst versorgen konnte. Sein Ideal war stets der freie Bürger, nicht der von Wohlfahrt abhängige. So wurde nach seinen Plänen beispielsweise im 17. Bezirk die Siedlung „Am Heuberg" gebaut. Die Zielgruppe: Arbeits- und Obdachlose. Ökonomische Gesichtspunkte standen im Vordergrund, kostensparend wurden die zweigeschossigen Wohnhäuser in Reihenbauweise angelegt. Sein für die Heuberg-Siedlung entworfenes „Haus mit einer Mauer" reichte Loos zur Patentierung ein. „Hier sind nur die Giebelwände gemauert; Fassaden und Decken werden in Holz dazwischen gehängt", erklärt der Wiener Architekt Ralf Bock das für damalige Zeiten neuartige Verfahren. „Dadurch lassen sich die Wohneinheiten flexibel gestalten."
Kartoffeläcker, Fischteiche oder Begegnungsräume sollten gemeinsam genutzt werden. „Loos setzte sich für ein nachhaltiges, kollektives Wohnen im urbanen Raum ein", betont Ralf Bock. „Ganz ähnliche Ideen diskutieren wir heute. Man erkennt bei Loos zahlreiche Vorläufer aktueller Trends: von Urban Gardening und Selbstversorgung bis zum Konzept der Tiny Houses."
Die hitzige Wohnraum-Debatte spitzte sich anlässlich der 1932 eröffneten Werkbundsiedlung zu. An dieser Musterhaus-Siedlung, der damals größten Bauausstellung Europas, beteiligten sich 31 renommierte Architekten aus unterschiedlichen Ländern. Adolf Loos steuerte zwei Doppelhäuser bei, wobei er sein bahnbrechendes Konzept des Raumplans umsetzte: Um den Platz optimal zu nutzen, haben die Räume unterschiedliche Höhe, je nach Funktion und Fläche. Die komplex verschachtelten Ebenen sind durch Gänge und Treppen verbunden, sodass abwechslungsreiche Innenraum-Landschaften entstehen.
„Die Wirkung der Raumplan-Idee auf die internationale Architektur-Moderne war enorm und hält bis heute an", sagt Rainald Franz, Kurator einer Ausstellung über Privathäuser von Loos am Wiener Museum für angewandte Kunst. „Loos überwand die Koppelung zwischen Fassade und Geschoss im Innenraum. Damit nahm er die dreidimensionale Konstruktion am Computer vorweg. Heute denken alle Architekten ihre Bauten im digitalen Raum."
Noch heute wohnt man gern in Loos-Bauten
Neben seinen revolutionären Siedlungsprojekten entwarf Loos aber auch Privathäuser für eine bürgerliche, oft jüdische Klientel, sowie für Künstler. Dabei war es sein Hauptanliegen, ein möglichst geräumiges Hausinneres zu schaffen, das zugleich einen schützenden Rückzugsort vor der Außenwelt bieten sollte. In diesem Sinne schuf er 1912 für Gustav Scheu, dem Wiener Gemeinderat für Wohnungswesen, ein aufsehenerregend geradliniges Gebäude: das erste Terrassenhaus mit Flachdach in Mitteleuropa. Ein Hingucker auch seine Pariser Villa für die Tänzerin Josephine Baker mit schwarzweiß gestreifter Fassade. Dem Bauunternehmer František Müller errichtete Loos in Prag eine würfelförmige Luxusvilla, die heute als Museum besucht werden kann. Die äußerliche Schlichtheit seiner Wohnhäuser geht aber nicht mit schmucklosen Innenräumen einher. Als Innendesigner schuf Adolf Loos luxuriöse und überaus behagliche Gegenwelten zur puristischen Hülle: mit kostbaren, hochwertig verarbeiteten Naturmaterialien wie Marmor, Mahagoni, Edelmetall oder Leder. Außen radikal, innen klassisch – diesen Kontrast spielte Loos immer wieder genüsslich aus.
Noch heute werden seine Siedlungen und Häuser gern bewohnt. Sogar etliche seiner Inneneinrichtungen sind nach wie vor im täglichen Gebrauch. „Je länger ich hier wohne, desto wohler fühle ich mich", sagt etwa der Glaskünstler Johannes Holländer, der inmitten der von Loos entworfenen Eichenholz-Einbaumöbeln in dessen Terrassenhaus wohnt. Von der nachhaltigen Beliebtheit der Loos-Interieurs zeugt auch die denkmalgeschützte „American Bar". Das glamouröse und zugleich heimelige Lokal mit seinen dunkelgrünen Ledersofas, holzgetäfelter Decke und verspiegelten Wänden ist im Normalfall jeden Abend rappelvoll.
Trotz seiner spektakulären Bauten hängt Österreich das Loos-Jubiläum aber nicht gerade an die große Glocke. Das liegt nicht zuletzt an einem Pädophilie-Prozess gegen den Architekten. 1933 wurde Loos zu vier Monaten Arrest verurteilt. Er soll drei Mädchen in seiner Wohnung nackt skizziert und „unsittlich berührt" haben. Erst 2008 tauchten die verschollenen Prozess-Akten wieder auf.
Was genau damals im Hause Loos vor sich ging, lässt sich allerdings nicht exakt rekonstruieren. Gutachter hielten die widersprüchlichen Aussagen der Kinder für unglaubwürdig. Umso mehr vermisst man anlässlich des Jubiläums eine umfassende und zugleich kritische Loos-Ausstellung, die sich auch der Debatte zum Verhältnis zwischen Kunst und Moral stellt: Was ist tatsächlich vorgefallen? Wie ist es zu bewerten? Und wie verändert sich dadurch der Blick auf Loos’ Schaffen?
Der Architekt Ralf Bock führt das Desinteresse am Jubiläum aber auch darauf zurück, dass der Meister sich keiner Bewegung zuordnen lässt. „Loos steht mit seinen Ideen zwischen den Fronten, den Avantgardisten ist er zu traditionell, den Konservativen zu modern." Dabei lässt sich seine Bedeutung für nachfolgende Architekten kaum überschätzen. Da viele seiner Anhänger ins Exil gingen, wurden seine Ideen auf der ganzen Welt weiterentwickelt. In seiner privaten Bauschule unterrichtete Loos spätere Berühmtheiten wie Leopold Fischer, der für das Bauhaus eine Reihenhaussiedlung in Dessau plante; oder Richard Neutra, der den modernen kalifornischen Stil entwickelte. Und auch zum Geschosswohnbau, bei dem auf wenig Grundfläche viele Wohnungen untergebracht sind, sich viele Menschen „ballen", hatte Loos seine Meinung. Wie formuliert es Architekt Ralf Bock?
„Loos wusste bereits: Ausschließlich auf Rendite konzentrierter Wohnungsbau ist gefährlich. Die Bewohner müssen sich wohlfühlen und entfalten können. Sonst baut man heute die sozialen Probleme von morgen."