Seit fast 30 Jahren gibt es in Völklingen die Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik der Saarland-Heilstätten. Dort werden jedes Jahr hunderte Patienten stationär, teilstationär und ambulant betreut.
Vor 29 Jahren ging in Völklingen die Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik an den Start. Sie ist eine wichtige Säule im Versorgungsangebot der Saarland-Heilstätten GmbH (SHG). Aufgenommen werden Menschen in seelischen Nöten, etwa Patienten mit Depressionen, Abhängigkeitserkrankungen oder Persönlichkeitsstörungen. Die Altersspanne reicht von 18 bis 99 Jahren, Kinder und Jugendliche werden in der Einrichtung nicht behandelt. Chefärztin Dr. Claudia Birkenheier und ihr Team möchten, dass sich die Kranken in der Klinik wohlfühlen. Bei unserem Besuch steht die Tür zur Station weit offen. Der Teppichboden und die Bilder an den Wänden sorgen für eine wohnliche Atmosphäre. Im Aufenthaltsraum unterhalten sich zwei Patienten. „Dass wir miteinander reden können, macht uns zu Menschen", ist im Eingangsbereich zu lesen. Stationsleiter Thielko Hoedt erläutert das Drei-Säulen-Konzept: Neben Gesprächen und Medikamenten setzt man auf Bewegung.
Gelegenheit, den Kreislauf in Schwung zu bringen, bietet sich im Gymnastikraum. Die Patienten treten auf dem Fahrradergometer in die Pedale oder spielen Tischtennis. „Das hat sich sehr bewährt", sagt Dr. Birkenheier mit Blick auf das Sportprogramm. Bei schönem Wetter geht es raus an die frische Luft. Auf einer Tafel stehen die Angebote: „10.30 Uhr Spaziergang (flott), 11.00 Uhr: Spaziergang (langsam)." Oder wie wäre es mit einer Partie Boule? Die körperlichen Aktivitäten helfen nicht nur, Körper und Seele wieder in Einklang zu bringen. Sie füllen auch den Trophäenschrank der Klinik. Im Büro der Chefin stehen die Pokale, die Mitarbeiter und Patienten bei Fußballturnieren gewonnen haben.
Beim Mannschaftssport wie in der Therapie gilt: Wer an einem Strang zieht, hat die besten Erfolgsaussichten. Schon beim Erstkontakt werden die Weichen gestellt. Eine psychiatrische Krankenschwester empfängt die Hilfesuchenden. Die Probleme, mit denen diese sich vorstellen, sind ganz unterschiedlich. Eine Frau pflegt seit drei Jahren ihre Mutter rund um die Uhr. Jetzt fällt ihr zu Hause die Decke auf den Kopf, sie kann nicht mehr. Ein anderer Patient schläft nicht mehr richtig, fühlt sich verfolgt, arbeitet nur noch langsam. Nun hat er auch noch seinen Job verloren. Beide sind verzweifelt, haben Angst vor der Zukunft. Im ausführlichen Arztgespräch wird den Problemen auf den Grund gegangen, die Mediziner fragen nach der familiären Vorgeschichte und früheren Therapien. Oft sei schon eine Stunde nach der Ankunft eine Entlastung spürbar, berichtet Claudia Birkenheier. Die Kranken merken: Hier wird mir geholfen, ich bin nicht mehr allein.
Wer daheim nicht mehr zurechtkommt, wird stationär aufgenommen. Oder er erhält einen Platz in der Tagesklinik: Sie bietet einen geschützten Raum, in dem die Kranken fit gemacht werden für die Rückkehr in den Alltag. Von 9 Uhr bis 15.45 Uhr läuft das Therapieprogramm, übernachtet wird zu Hause im eigenen Bett. Rund ein Drittel der Patienten kommt ohne vorherigen Krankenhausaufenthalt zur Behandlung in die Tagesklinik. Neben zwei Tageskliniken und zwei Stationen gehört eine Institutsambulanz zum psychiatrischen Zentrum. Sie versorgt Menschen, die wegen der Art, Schwere oder Dauer ihrer Erkrankungen besondere krankenhausnahe Versorgungsangebote benötigen. Damit sollen Klinikaufenthalte vermieden oder stationäre Behandlungszeiten verkürzt werden.
Nachdem die Diagnose gestellt ist, wird ein individueller Therapieplan erarbeitet. Er besteht aus verschiedenen Elementen, die ineinander greifen. Psychotherapie und Medikamente gehören genauso zu den Behandlungsmethoden wie die Bewegungstherapie. Das Angebot ist breit gefächert: Es reicht von der Ergotherapie über das Entspannungs-training bis zum therapeutischen Reiten. In der Soziotherapie arbeitet man heraus, wo es zu Hause oder am Arbeitsplatz Probleme gibt, und mit welchen Hilfen diese gelöst werden können. Ein Schlaflabor dient Patienten, die Probleme beim Ein- oder Durchschlafen haben oder über Tagesmüdigkeit und Erschöpfungszustände klagen. Auch auf künstlerische Betätigungen wird Wert gelegt. Beim Malen oder Basteln haben schon viele Kranke bisher schlummernde Talente entdeckt. Ziel ist es, die Menschen zu aktivieren. „Es soll niemand im Bett liegen bleiben", betont Birkenheier. In der Tagesklinik kann auch gekocht werden. Oft müssen die Betroffenen erst wieder lernen, ihren Tagesablauf zu strukturieren. Regelmäßige Mahlzeiten sind dabei wichtig. Manche wissen gar nicht mehr, wie man ein Spiegelei brät.
„Körper und Seele beeinflussen sich wechselseitig"
Eine wichtige Behandlungssäule bildet die Psychotherapie. Sie hilft zum Beispiel bei Angststörungen. Angst ist etwas Natürliches, ohne sie hätte die Menschheit nicht überlebt. Erst wenn sie übermächtig wird und den Alltag bestimmt, wird es problematisch. „Wer sich seiner Angst stellt, kann sie auch besiegen", erklärt Psychologin Katharina Scheurer. Angsterkrankte Menschen seien sehr geschickt darin, Angst auslösenden Situationen aus dem Weg zu gehen. Ein Beispiel: Wer Panikattacken beim Einkaufen befürchtet, bestellt nur noch im Internet. Das Vermeidungsverhalten löst die Probleme aber nicht langfristig, sondern führt zur Verfestigung der Ängste. Ein Konfrontationstraining wirkt dem entgegen. „Man macht ein Rendezvous mit seiner Angst", veranschaulicht Scheurer. Treffpunkt ist vorm Supermarkt. Das erste Mal verabredet man sich zu einer Zeit, in der im Geschäft wenig Betrieb herrscht. Kauft der Patient nur einen Artikel, ist er schnell wieder draußen. Bei der nächsten Runde ist die Einkaufsliste etwas länger. Schritt für Schritt steigert der Kranke die Belastung, irgendwann stellt er sich sogar wieder in die Schlange an der Kasse. Während der Therapie lernt der Betroffene, dass Herzrasen, Zittern und Übelkeit nicht ins Unermessliche steigen. Im Gegenteil: Die Angst nimmt wieder ab. Die Strategie hilft auch Senioren, die wegen der Corona-Pandemie monatelang keine Besorgungen gemacht haben. Sie können sich wieder an den gewohnten Einkaufsalltag rantasten. „Warten Sie ab und lassen Sie der Angst Zeit, von selbst zu vergehen. Bekämpfen Sie sie nicht und laufen Sie nicht vor ihr davon", rät die Psychologin ihren Patienten. Am besten konzentriert man sich darauf, was hier und jetzt geschieht. Und nicht auf das, was im schlimmsten Fall passieren könnte.
„Der Mensch ist ein Gesamtkunstwerk, Körper und Seele beeinflussen sich wechselseitig", betont Claudia Birkenheier. Chronische Schmerzen führen unter Umständen zu Depressionen. Und körperliche Schwächen können Angstzustände auslösen. So schauen viele Herzpatienten sorgenvoll in die Zukunft: Komme ich zu Hause noch die Treppen hoch? Kann ich meine Wohnung weiter selbst putzen? Psychische Erkrankungen sind kein Zeichen von persönlicher Schwäche. „Depressionen kann jeder bekommen", weiß Dr. Birkenheier. Es gibt aber Präventionsmöglichkeiten. Jeder kann selbst viel dafür tun, dass er möglichst gar nicht erst krank wird. Einige Tipps der Expertin: Auf einen geregelten Tag-Nacht-Rhythmus achten, körperlich und geistig aktiv bleiben und – wenn möglich – belastende Situationen meiden. Außerdem sollte man sich nicht in sein Schneckenhaus zurückziehen. „Soziale Kontakte sind eine Quelle der Kraft", weiß die Ärztin für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie.
Das Behandlungskonzept der Völklinger Klinik hat sich bewährt. „Wir haben wenige Wiederaufnahmen", sagt Dr. Birkenheier. Nur zehn Prozent der Patienten stellen sich im Laufe des Folgejahres nochmals vor. Gerade depressive Menschen haben eine gute Prognose. Die Krankheit sei sehr gut behandelbar, betont die Medizinerin. Etwa ein Drittel ihrer Patienten ist chronisch krank. Nicht nur bei ihnen muss gut überlegt werden, wie es nach der Entlassung weitergeht. Erst zu Hause im gewohnten Umfeld zeigt sich, ob die Menschen ihren Alltag wieder selbstständig meistern können. Deshalb arbeitet die Völklinger Psychiatrie eng mit den niedergelassenen Haus- und Nervenärzten zusammen. Auch der Kontakt zu den Angehörigen ist gewährleistet. Langfristige Strategien helfen, wieder Fuß zu fassen. Manche beginnen direkt, wieder zu arbeiten, andere machen zunächst eine Reha-Maßnahme. Eine ambulante Psychotherapie kann die Rückkehr ins normale Leben erleichtern. Außerhalb der Klinik gibt es ebenfalls Unterstützungsangebote. Der fahrbare Mittagstisch gehört genauso dazu wie Selbsthilfegruppen und Tagesstätten.
„Begleitetes Wohnen in der Familie"
Das „begleitete Wohnen in Familien" hilft ebenfalls, die Balance wiederzufinden. Chronisch psychisch Kranke, deren akute Krankheitsphase abgeklungen ist, die aber im Alltag noch Unterstützung und Begleitung benötigen, werden in Gastfamilien vermittelt. Darum kümmert sich das Zentrum für Psychiatrische Familienpflege. Verläuft der erste Kontakt positiv, gibt ein Probewohnen Gelegenheit, sich näher kennenzulernen. Nicht für jede Familie findet sich direkt der passende Mitbewohner, die Chemie muss stimmen. Ein multiprofessionelles Team betreut zurzeit knapp 30 Gäste. Die Familien, die ein monatliches Entgelt erhalten, bieten einen strukturierten Tagesablauf und schaffen Geborgenheit, der krank machende Stress nimmt ab. Chefärztin Birkenheier spricht von der „heilenden Kraft des Alltags". Das begleitete Wohnen fördert nicht nur die Gesundheit, es rechnet sich auch für die öffentlichen Kassen. Die vollstationäre Pflege ist dreimal so teuer wie die Betreuung in der Familie. Manche Kranke schaffen nach zwei Jahren den Sprung in die Selbstständigkeit, andere bleiben bis an ihr Lebensende. Die kombinierte Hilfe durch Laien und Profis funktioniert, die psychiatrische Familienpflege ist eine Erfolgsgeschichte: Seit dem Start vor über 25 Jahren gab es keinen schweren Suizidversuch, der Medikamentenbedarf nimmt ab, nur noch selten sind Krankenhausaufenthalte nötig. Die Zahl der stationären Behandlungstage sinkt um mehr als 80 Prozent.
Ziel des Teams um Dr. Birkenheier ist es, die Menschen dazu zu befähigen, ihr Leben außerhalb stationärer Einrichtungen weitgehend selbstständig zu gestalten. Eine individualisierte Behandlung unter Einbeziehung der Betroffenen ist heutzutage Standard. Nicht nur in Völklingen, sondern auch in den anderen Psychiatrien. Die Zeiten, in denen die Patienten mancherorts mehr verwahrt als behandelt wurden, sind vorbei. Eine Zahl lässt erahnen, wie sich die Psychiatrie in Deutschland in den vergangenen Jahrzehnten verändert hat. 1975 betrug die durchschnittliche stationäre Verweildauer rund 250 Tage. In der Völklinger Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik sind es heute durchschnittlich 13 Tage.