Die Politik hat im Kampf gegen Corona wertvolle Zeit verloren
Bilanziert man den Umgang mit der Corona-Pandemie in Deutschland, gibt es nur einen Schluss: Es fehlt eine langfristige Strategie. Stattdessen versucht die Politik, dem Virus mit einer Salami-Taktik beizukommen. Restaurants werden mal geöffnet, mal geschlossen. Kinos, Theater, Fitnessstudios dürfen zeitweise unter Einschränkungen Kunden empfangen, dann müssen sie wieder dichtmachen.
Der Anfang November verhängte Teil-Lockdown hat die exponentiell nach oben schießende Corona-Kurve zwar gebrochen. Doch das relativ hohe Plateau an Infektionen bleibt, es steigt sogar leicht an. Mittlerweile ist ganz Deutschland ein Risikogebiet. Die Zahl der täglichen Corona-Toten ist hoch, die Intensivstationen füllen sich. Städte wie Mannheim oder Nürnberg haben nächtliche Ausgangssperren verhängt.
Bundeskanzlerin Angela Merkel, eine gelernte Physikerin, ahnte wohl, was kommt. „Wenn die Hütte brennt", hatte sie nach den letzten Beratungen mit den Ministerpräsidenten angekündigt, dann werde man schnell wieder über härtere Regeln zur Eindämmung des Coronavirus reden. Jetzt stehen sogar die vorgesehenen Erleichterungen über Weihnachten zur Disposition.
Deutschland zahlt in Corona-Zeiten den Preis für Kuddelmuddel, Zickzackkurs und Kakophonie. Der ziemlich harte Lockdown im Frühjahr hatte die Zahl der Neuinfektionen zunächst deutlich reduziert. Doch dann kam die Welle der Lockerungen. Urlaubsheimkehrer, Schlachthöfe mit fehlendem Sicherheitsabstand für Arbeiter, notorische Partygänger und Familienfeiern mit massenhaftem Publikum trieben die Corona-Kurve nach oben.
Der Flickenteppich des Föderalismus mit begrenzten Kompetenzen des Bundes und relativ großem Handlungsspielraum für Länder, Landkreise und Kommunen hat zu einem Wirrwarr an Auflagen geführt, bei dem am Ende keiner mehr richtig durchblickte.
Ministerpräsidenten wie Bodo Ramelow (Thüringen), Manuela Schwesig (Mecklenburg-Vorpommern), Reiner Haseloff (Sachsen-Anhalt) oder Michael Müller (Berlin) verhielten sich so, als mache das Coronavirus an ihren Landesgrenzen Halt. Insbesondere Ramelow rühmte sich im Sommer, dass viele Landkreise in seinem Beritt keinerlei Ansteckungen verzeichneten und deshalb kaum Einschränkungen bräuchten. Eine merkwürdige Kirchturmpolitik im 21. Jahrhundert. Menschen bewegen sich von Hamburg nach München oder von Essen nach Dresden – und das Virus reist mit. Sollte man diese Erkenntnis bei Landeschefs nicht voraussetzen?
Nicht überzeugt haben auch die selbsternannten Bannerträger der Freiheit, die die Corona-Maßnahmen als unzumutbaren Ballast für Menschen und Wirtschaft ablehnten. Der FDP-Vorsitzende Christian Lindner hat Corona instrumentalisiert, um von eigener Führungsschwäche und Umfrage-Dellen abzulenken. Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller (SPD) beschwor die Verantwortungsbereitschaft der Bürger, als bereits jedem halbwegs aufmerksamen Beobachter klar sein musste, dass die Krise mit Gutzureden allein nicht zu lösen ist.
Die Politik hat in den vergangenen neun Monaten wertvolle Zeit verloren. Der Berliner Physiker und Epidemiologe Dirk Brockmann hat in einem „Gedankenexperiment" aufgezeigt, wie Corona besiegt werden könnte. Seine These: Wenn wir weltweit für einige Wochen komplett auf Kontakte verzichten würden, wäre das Virus weg. Das ist in dieser Stringenz nicht zu realisieren. Aber richtig bleibt: Mit der Verminderung von Kontakten wird dem Virus die Nahrung genommen. Die Politik muss dementsprechende Vorgaben machen, ihre Einhaltung kontrollieren und zur Not auch mit hohen Bußgeldern sanktionieren.
Es lohnt sich, beim Kampf gegen Corona einen Blick auf Südostasien zu werfen. Die dortigen Erfolge lassen sich auf folgende Formel bringen: die konsequente Isolierung von Verdachtsfällen (China), eine befristete App, die die Bewegungsabläufe von Infizierten und Kontaktpersonen lückenlos speichert (Südkorea) und eine strenge Quarantäne (Vietnam).
Nur auf einen Impfstoff zu hoffen wäre kurzsichtig. Noch ist nicht bekannt, wie lange die Immunität durch das Vakzin anhält und welche Nebenwirkungen auftreten können. Bis das medizinische Gegenmittel verlässlich für alle vorliegt, brauchen wir Disziplin, Geduld, und die Bereitschaft zum Verzicht. Zum Schutz für uns selbst und für die Gesellschaft.