Es müssen nicht immer nur Berlin-Mitte, die Museumsinsel, der Kurfürstendamm oder Kreuzberg sein. Spannend auf andere Art wird der Gang durch das attraktive Gründerzeit- und Villenviertel Lichterfelde West.
Das ist ja hier ein richtiger Luftkurort", staunt eine Besucherin, die mit der S1 aus Berlin-Mitte gekommen ist, und atmet erst mal tief durch. Recht hat sie, und die Bauten auf dem Bahnhofsvorplatz erfreuen sie ebenso. Das Emisch-Haus, errichtet von 1892 bis 1895 ist ihr Favorit. Doch beim Parcours durch dieses historische Villenviertel wird sie weitere Traumvillen finden.
Ähnlich muss es vor rund 120 Jahren den Berlinern gegangen sein, die aus dem eng bebauten Zentrum zum Häuser-Begucken anreisten. Die Fahrt nach Lichterfelde West war ein beliebter Sonntagsausflug.
Schon damals konnten sie hier, im Südwesten der rapide wachsenden Metropole, die echt frische Berliner Luft schnuppern. Wo zuvor nur Felder waren, entstand in der Gründerzeit eines der schönsten Villenviertel Deutschlands.
Die Initiative hatte der Kaufmann Johann Anton Wilhelm von Carstenn (1822 – 1896) ergriffen, Sohn eines holsteinischen Gutsbesitzers. 1854 hatte er das Gut Wandsbek bei Hamburg gekauft und es nach englischem Vorbild in eine Villenkolonie verwandelt.
Ähnliches wollte er im boomenden Berlin vollbringen. Also verkaufte er Wandsbek und erwarb 1865 mit dem Erlös die Güter Lichterfelde und Giesensdorf, und los ging’s mit dem Bauen.
Auch ein Bahnanschluss musste geschaffen werden, und das ging damals ruckzuck. Noch 1868 wurde der inzwischen umgebaute Bahnhof Berlin-Lichterfelde Ost eröffnet. Ab 1881 fuhr dort die von Siemens und Halske entwickelte erste elektrische Straßenbahn der Welt.
1872 war auch der Bahnhof Lichterfelde West fertig. Dort fährt nun die S-Bahn durch Berlins Mitte bis nach Oranienburg im Nordosten und Wannsee im Südwesten. Das Bahnhofsgebäude im Tudor-Stil ist ebenso erhalten wie die denkmalgeschützten Bauten auf dem bereits erwähnten Vorplatz.
Bahnhofsgebäude im Tudor-Stil
Von dort führen die Baseler Straße und der Kadettenweg – vorbei an Villen und sonstigen Wohnbauten – zur Kadettenanstalt. Als Preußische Haupt-Kadettenanstalt wurde sie in den Jahren 1871 bis 1878 errichtet. Carstenn hatte sogar den 20 Hektar großen Baugrund dem preußischen Militär geschenkt, um so seine Villenkolonie bekannter zu machen. Namen wie Gardeschützenweg und Kommandantenstraße erinnern an die Präsenz der Soldaten.
Der Gardeschützenweg ist eher von großen Wohnhäusern, gebaut vor 1900, geprägt. Durch die Kommandantenstraße eilen morgens fröhliche Kinder in die historische Gemeindeschule. Weiter nördlich wird ein großer roter Backsteinbau zum Hingucker – das Rother-Stift, errichtet 1896 bis 1898. Dem Hauptgebäude verpasste der Architekt Alfred Koerner sogar einen neogotischen Stufengiebel. Dieser Wohnblock mit Nebengebäuden, geschaffen für Beamten- und Soldatenwitwen, dient nach wie vor als Seniorenheim.
Weniger gut hatte Carstenn für sich selbst gesorgt. Die Schenkung von Grund und Boden ans preußische Militär war sein erster Fehler. Zum Desaster geriet jedoch sein Versprechen, ebenfalls unentgeltlich für den Transport der Baumaterialien zu sorgen. Das und der Gründerkrach von 1873 trieben ihn in den Ruin. Mit herben Verlusten musste er zahlreiche Grundstücke verkaufen. Verarmt und nervenkrank starb er 1896 in einem Krankenhaus in Berlin-Schöneberg.
Die Kadettenanstalt blieb jedoch erhalten. Anbauten erfolgten 1937/38, Neubauten nach dem Zweiten Weltkrieg. Von 1945 bis 1994 waren dort US-Streitkräfte stationiert, nun beherbergen die Gebäude das Bundesarchiv.
Eine Neuerung hinterließen die Amerikaner: die Asphaltierung des Kadettenwegs, eine Ausnahme in diesem Gründerzeitviertel. Denn dort stehen nicht nur Häuser auf der ellenlangen Denkmalliste des Bezirks, sondern auch das historische Kopfsteinpflaster. In der Steinäckerstraße ist es medaillenverdächtig. Langsam fahren ist jedoch im gesamten Villenviertel nötig, High Heels sind es nicht.
Gepflegte Gärten mit altem Baumbestand
Auch der visionäre Entwickler von Lichterfelde ist nicht vergessen. Seinen Namen trägt die Carstennstraße, die in der 2.300 Meter langen, von hohen Kastanien gesäumten Ringstraße ihre Fortsetzung findet. Wie auf einer Perlenkette reihen sich die Gebäude, auch oft stattliche Doppelwohnbauten und Mietshäuser mit aufwendigen Fassaden. Die meisten entstanden um 1900 in nur ein bis zwei Jahren Bauzeit. Doch auch Grünflächen und kleine Parks hatte Carstenn von vornherein eingeplant. Einige werden gerade restauriert. Aufmerksamkeit erregt auf der Ringstraße die Johanneskirche von 1914, entworfen von Otto Kuhlmann. Ein ziemliches Stück entfernt, in der Ringstraße 2-3, schimmert das leuchtend rote Lilienthal-Gymnasium von 1896 durch die Bäume. Benannt ist es nach dem Flugpionier Otto Lilienthal, der bekanntlich bei seinen Versuchen nahe Berlin tödlich verunglückte. Die Lichterfelder Bürger haben ihm im nahen Bäkepark ein hohes Denkmal gewidmet.
Für Entdeckungsfreudige sind jedoch die kleineren Straßen und Sträßchen mit ihren fantasievollen Villen und gepflegten Gärten mit altem Baumbestand noch reizvoller. Echte Bau-Beautys, sämtlich fein saniert, lassen sich zwischen dem Bahnhof Lichterfelde West und der Finkensteinallee entdecken.
„O diese hübschen Türmchen", schwärmt nun die Besucherin. Die zieren kleine und große Häuser, waren einst ganz „in" und sind es bis heute. Am Haus Kadettenweg 69, errichtet 1891 bis 1893 von der Deutschen Volksbaugesellschaft, das vorher keinen Turm besaß, wurde kürzlich einer seitlich aufgesetzt.
Zum Aha-Erlebnis geraten jedoch die Bauten von Gustav Lilienthal (1849 – 1933), dem Bruder des Flugpioniers. Gustav war ebenfalls vom Fliegen begeistert, studierte aber Architektur in Berlin. Von den 30 Häusern, die er in Lichterfelde errichtete, sind 22 erhalten. Das größte Erstaunen erregen seine Bauten von 1894 bis 1895 in der Paulinenstraße Ecke Weddigenweg.
„Die sehen ja aus wie im Mittelalter", wundern sich dort fast alle Besucherinnen und Besucher. Mit ihren Zinnen und Türmchen erinnern sie tatsächlich an jene Zeit und haben den Spitznamen „Lichterfelder Burgen" erhalten. Sie sind jedoch vom englischen Tudor-Stil inspiriert, der im 19. Jahrhundert wieder in Mode kam.
Als Protzhäuser für Reiche hatte sie Gustav Lilienthal nicht geschaffen. Drinnen sind sie eher schlicht und funktional. Für Familien mit schmaler Brieftasche waren sie gedacht, hatten aber schon Doppelfenster und Warmluftheizung. Die Türmchen der „Burgen" sind zumeist verkappte Schornsteine.
Ein ähnliches Doppelhaus baute Gustav Lilienthal schon 1893 in der Marthastraße 5 für sich und seine Familie, begnügte sich aber mit dem linken Gebäudeteil. Seine Enkelin, Anna Sabine Halle, die gern mit Neugierigen plauderte, lebte noch als 93-Jährige in diesem Haus, bis zu ihrem Tod im Jahr 2014.
Trotz seiner besonderen Bauten und bautechnischen Entwicklungen wurde Gustav Lilienthal – auch Erfinder des berühmten Anker-Steinbaukastens – kein reicher Mann. Stattdessen bereicherte er Lichterfelde West durch seine außergewöhnlichen Bauwerke, die nach wie vor, mitunter schmunzelnd, bewundert werden.