Markus Eisenbichler und seine Kollegen müssen sich für die Vierschanzentournee der Skispringer auf ein völlig neues Fluggefühl einstellen. Wegen Corona segeln die Herren der Lüfte in nahezu völliger Stille statt unter ohrenbetäubenden Anfeuerungsrufen zu Tal. Dafür aber fliegt die Hoffnung auf den Gesamtsieg für einen deutschen Adler mit.
Wehende Fahnenmeere, ohrenbetäubender Lärm durch Anfeuerungsrufe aus Zehntausenden Kehlen sowie durch Hörner, Trompeten und Pauken gehörten über 60 Jahre zu einem regelrechten Ritual rund um den Jahreswechsel. Bilder von dieser imponierenden Kulisse ließen die Herzen aller Wintersport-Fans höherschlagen, denn seit jeher herrschte eine solche Atmosphäre stets nur bei der Vierschanzentournee der Skispringer. In Corona-Zeiten allerdings müssen sich bei dem deutsch-österreichischen Megaevent alle – Athleten, Fans und TV-Zuschauer – umstellen: Erstmals finden die vier legendären Springen in Oberstdorf, Garmisch-Partenkirchen, Innsbruck und Bischofshofen wie so viele andere Sportveranstaltungen in den vergangenen Monaten auch ohne Zuschauer und damit ohne eines ihrer Markenzeichen statt. Katerstimmung ist damit schon vor Silvester programmiert. „Das", meinte Vereinschef Peter Fischer vom Neujahrspringen-Ausrichter SC Garmisch bei der Bekanntgabe des Zuschauer-Ausschlusses, „das tut richtig weh".
Aber nicht nur der Verlust der ansonsten fantastischen Atmosphäre im weiten Rund um die Auslaufzonen schmerzt. Denn auch wirtschaftlich bedeutet die letztlich unvermeidbare Entscheidung einen schweren Schlag. Fischers Verein entgeht alleine aus dem Verkauf der in „normalen" Zeiten rund 50.000 Tickets für die Qualifikation am Silvestertag und das Springen am 1. Januar selbst ein Erlös von einer halben Million Euro. Zudem wird auch die Region zu leiden haben, schließlich waren die Hotels in „GAP in der Vergangenheit nicht zuletzt wegen der Schanzen-Party stets restlos ausgebucht. Bislang hat sich der finanzielle Schaden auch noch nicht beziffern lassen. Zu allem Übel stehen den wegbrechenden Einnahmen auch noch steigende Kosten für die Durchführung der „Geister-Wettbewerbe" durch die scharfen Anti-Corona-Maßnahmen gegenüber. „Von Sport redet niemand", sagt Fischer dazu.
Eisenbichler ist die klare Nummer eins
Was so nicht ganz stimmt. Denn auch wenn Weltmeister Markus Eisenbichler und seine Kollegen das Aus für ihre Anhänger natürlich insgesamt bedauern, bleibt für die deutschen Adler eines auch in dieser Saison – wie immer in den vergangenen fast zwei Jahrzehnten: die Sehnsucht nach dem ersten Gesamtsieger aus Deutschland seit Sven Hannawalds legendärem Triumph von 2002. Als erster Kandidat gilt Eisenbichler – und das nicht nur wegen seiner WM-Titel. Der 29-Jährige geht nach einem glänzenden Saisonstart – mit zwei Siegen und einem zweiten Platz in den ersten Weltcup-Springen dieses Corona-Winters sowie dem dritten Platz bei der Skiflug-WM Mitte Dezember in Planica – als klare Nummer eins im Team von Bundestrainer Stefan Horngacher in die Tournee. „Eisei" blickt dem zweiten von ausnahmsweise gleich drei Höhepunkten des vorolympischen Winters – im Februar findet in Oberstdorf die WM statt – mit bayerischer Ruhe entgegen. „Ich mache mir keine Gedanken", beschreibt der Siegsdorfer sein neues Credo. Vorbei sind offensichtlich die Zeiten, in denen Eisenbichler wie auch in der ziemlich verkorksten Vorsaison in seinem ersten Winter als WM-Champion entweder über unberechenbare Winde oder eigene Fehler fluchte und schimpfte wie ein Kesselflicker. Möglich machte den Wandel ausgerechnet die Corona-Krise: „Die lange Pause durch den Abbruch der vergangenen Saison und den Ausfall der Sommer-Springen hat mir in die Karten gespielt, weil Zeit und Ruhe genug da waren, dass ich mir Gedanken über mich selbst machen konnte." Das Ergebnis: „Ich habe mich zu sehr selbst unter Druck gesetzt und war zu perfektionistisch. Jetzt probiere ich es mit ein bisschen Lockerheit."
Diese neue Gelassenheit erwuchs in Zeiten, wo Trainingsörtlichkeiten geschlossen waren und keine Möglichkeit zur gemeinsamen Saisonvorbereitung mit den Mannschaftskameraden bestand, abseits der angestammten Plätze und durch die Unterbrechung jahrelang eingeschliffener Abläufe. Eisenbichler hielt sich auf seinem selbst umgebauten Hof fit, ging Wandern und Klettern, stieg aufs Rennrad, Mountainbike oder auch ins Kajak. Die Veränderungen machten den Kopf offenbar frei. Damit einher ging eine für seine Verhältnisse bahnbrechende Erkenntnis, die Eisenbichlers Umgang mit unvermeidlichen Rückschlägen nunmehr prägt: „Ich kann es doch eh nicht ändern." Der Wandel wirkte fast Wunder, möchte man meinen. War sein Saisonstart vor Jahresfrist als Letzter beim Auftaktspringen in Wisla noch ein einziges Desaster und letztlich bereits ein Fingerzeig für einen nur mäßigen Winter, setzte Eisenbichler nunmehr im vergangenen November an gleicher Stelle gleich zu Beginn des Weltcups ein machtvolles Ausrufezeichen. „Das war eine Duftmarke", wertete denn auch Ex-Bundestrainer Werner Schuster Eisenbichlers tatsächlich erst zweiten Weltcup-Erfolg als wichtigen Wirkungstreffer: „Die Konkurrenten haben die Ansage bekommen: ‚Wenn Ihr mich schlagen wollt, müsst Ihr schon etwas ganz Besonderes machen.‘"
Zu den größten Aufgaben des Polizisten selbst gehört in dieser Saison gleichwohl eine ungewohnte Formsteuerung für eine Saison mit gleich drei Höhepunkten in vergleichsweise kurzer Zeit. Ein wenig aber richtete Eisenbichler seinen Fokus schon über die Vierschanzentournee hinaus auf das für ihn sicherlich wichtigste Ereignis des Winters: die WM in Oberstdorf. Den Titelkämpfen praktisch vor der eigenen Haustüre fieberte der Oberbayer jedenfalls schon vor dem Saisonstart entgegen. „Eine Heim-WM werde ich in meinem Skisprung-Alter wohl kaum noch einmal erleben", betonte Eisenbichler den hohen Stellenwert der WM für sich persönlich. Druck empfindet der deutsche Vorflieger deswegen nicht und bleibt vielmehr seinem neuen Motto treu: „Ich gehe das ganz locker an. Ich habe ja schon fünf WM-Medaillen, die mir keiner mehr nehmen kann."
Saison mit gleich drei Höhepunkten in kurzer Zeit
Was Eisenbichler noch nicht hat, ist der Gesamtsieg bei der Vierschanzentournee. Vor zwei Jahren war der deutsche Meister als Zweiter hinter dem damals überragenden Japaner Ryoyu Kobayashi zwar schon einmal ganz nahe dran am großen Wurf, doch nach seinem neuen Credo geht Eisenbichler ohne überhöhte Erwartungen in den diesjährigen Wettbewerb: „Natürlich wäre ein Gesamtsieg schön, erst recht nach so langer Zeit. Aber ich weiß auch, dass bei vier Springen viel passieren kann, und manches auch vom Zufall abhängt." Dennoch werden die deutschen Fans, die in den vergangenen fünf Wintern bei der Siegerehrung nach Bischofshofen immerhin fünf verschiedene Deutsche auf dem Podium bejubeln konnten, aber seit 18 Jahren keinen deutschen Gewinner mehr, vor allem auf ihn schauen und hoffen. Und auf den Vorjahres-Dritten Karl Geiger, der in Wisla als Zweiter zunächst auch stark startete, dann Anfang Dezember noch mit seiner Konstanz kämpfte, ehe er bei der Skiflug-WM in Planica sensationell zum WM-Titel flog. Olympiasieger Andreas Wellinger sucht nach seiner Pause in der gesamten Vorsaison wegen eines Kreuzbandrisses erst noch wieder den Anschluss zur Weltspitze, und Ex-Weltmeister Severin Freund flog zuletzt im Weltcup nur vereinzelt in die Punkteränge.
Aufgrund des Zuschauerverbots kann Eisenbichler jedoch nicht auf beflügelnde Jubel-Orkane bei seinen Flügen in die Tiefe zählen. Wenn die Herren der Lüfte in die gähnend leeren Täler segeln, wird nahezu absolute Stille herrschen. Sogar die Lautstärke der Seilkamera-Anlage für spektakuläre Flugimpressionen am Bildschirm wird wegen der besonderen Umstände auf ein Minimum reduziert, damit die Konzentration der Athleten nicht durch ansonsten nicht einmal wahrzunehmende Nebengeräusche gestört wird. Eisenbichler nimmt es, wie auch anders, gelassen: „Natürlich pushen Zuschauer, aber ich schätze auch Ruhe. Ich werde versuchen, die Fans vor dem Fernseher zu begeistern."