Das Projekt „Kinder lesen Katzen vor" im Tierheim Berlin ist ein Renner bei den kleinen Tierfreunden. Leseschwächen werden dabei nachweislich verbessert.
Katzendame Luna sitzt still und aufmerksam in ihrem Wohnzimmer. Der Glaskubus ist ausgestattet mit Kuschelteppich, Kratz- und Kletterbaum und einem Schlafkörbchen mit Katzenleiter. Die schneeweißen Barthärchen umspielen die ebenso weiße Zeichnung um ihr Schnäuzchen. Das gibt ihr den Anschein, als ob sie lächeln würde. Die Katze ist ein kleiner Star. Sie gehört zu einer Gruppe von „geeigneten Vorlesekatzen" im Tierheim Berlin. Normalerweise sitzen immer donnerstags und freitags kleine Menschen in ihrer Box und lesen ihr oder anderen ausgewählten Samtpfoten im Halbe-Stunden-Takt Geschichten vor.
Die Plätze sind heiß begehrt
Bei der im Sommer 2019 von Annette Rost, Leiterin Kommunikation, Marketing und Fundraising, initiierten Aktion „Kinder lesen Katzen vor", ist Luna die Lieblingskatze der Sieben- bis Zwölfjährigen. Ursprünglich kommt die Idee aus Amerika. Das Projekt wurde gut angenommen, die Plätze waren begehrt. Bis zu zwölf Kinder mit Leseschwierigkeiten lasen den Katzen aus einem selbst ausgewählten Buch vor. Klassiker wie „Die drei Fragezeichen" kennen die Ehrenamtler, die die Kinder in die gläsernen Katzenstuben geleiten, noch aus der eigenen Kindheit. In der Box aber bleiben die Kinder alleine. Je konzentrierter sie mit dem Lesen beschäftigt sind, umso aufmerksamer hören die Katzen zu, und auch schüchterne Vierbeiner fassen Vertrauen. Stimm-Melodie und Sprachrhythmus wirken auf die Katzen beruhigend. Wie langsam, schnell, laut oder leise vorgelesen wird, ist dabei egal. Zum Vorlesen kommen keine jungen „Bücher-Verschlinger", sondern Kinder mit Leseproblemen. Es hilft, viel zu üben – am besten außerhalb der Schule, ohne Druck und vor allem ohne Eltern, Lehrer oder andere reglementierende Erwachsene. Im Tierheim lesen die Kleinen deutlich konzentrierter in ihrem eigenen Tempo, und verbessern so nachweislich ihre Lesefähigkeit. Nach jedem Termin gibt’s einen Pfötchen-Stempel auf einer Zehner-Karte, am Schluss erhält das Kind eine Urkunde.
Umso trauriger waren die jungen Besucher, als das Projekt zu Beginn der Corona-Krise im März eingestellt wurde. „Viele Kinder riefen besorgt beim Tierheim an", erzählt Annette Rost sehr gerührt über das generelle Engagement und Interesse der Kinder. Manche investieren sogar ihr Taschengeld oder wünschen sich zum Geburtstag eine Patenschaft. Andere haben Tiere zu Hause und geben etwas von der Liebe ab. Die Verantwortung, selbst ein Tier zu halten, muss länger reifen – es handelt sich nun mal nicht um Spielzeug. Vielen bleibt auch wegen Allergien oder anderen Gründen der Wunsch verwehrt, eine eigene Katze zu adoptieren. Im Fokus stehe aber das Lesen, erklärt Annette Rost und zeigt auf einen rot-weiß gestreiften Kater in ihrem Regal. Das Bild hat der elfjährige Florian gemalt: ein Gewinner des Malwettbewerbs – der wurde während der Überbrückungszeit ausgeschrieben – mit reger Teilnahme und sehr kreativen Ergebnissen. Parallel wurde dann relativ zügig das Vorlese-Projekt digital umgestellt. Die Kinder lernten, ihre Leseübungen zu filmen, auch eigene Geschichten wurden verfasst. So konnten die Vorleser ihre Lieblingskatzen wenigstens online doch noch beglücken.
„Ein besonderes Herzensding"
Streicheleinheiten zu ersetzen, sei natürlich alternativlos. „Es ist erstaunlich, wie ernst die Kinder das Vorlesen nehmen." Das konnte Clara Schwarz bei der analogen Wiederaufnahme über die Sommermonate beobachten. Die Anfang-20-Jährige unterstützt das Tierheim im Rahmen eines Freiwilligen Sozialen Jahres. Hierbei können junge Menschen bis 27 Jahre in einem Projekt ihrer Wahl Erfahrungen im Natur- und Tierschutz sammeln. Über die Stiftung Naturschutz hatte Clara die Stelle gefunden und sich beworben. Mit Glück: Von über 100 Bewerbern wurde sie ausgewählt. Das Vorstellungsgespräch fand online per Zoom statt. Clara Schwarz lernt das organisatorische Innenleben des Tierheims kennen, hat Aufgaben in Verwaltung, Marketing und Öffentlichkeitsarbeit. Bis zum letzten Lockdown war sie auch mitverantwortlich für das Katzen-Kinderprojekt, das wegen coronabedingter Risiken über den Winter – bis auf weiteres – nun ganz ausgesetzt wurde. Durchgängig weiter laufe aber die interaktive Kinderkonferenz und -Akademie – im spielerisch geprägten Online-Format mit kindgerecht aufbereitetem Grundwissen über den Tierschutz. Zehn Kinder können sich pro Einheit anmelden und austauschen. Auch der Tierschutzunterricht, der sonst in Schulklassen vor Ort stattfand, musste alternativ digitalisiert werden. Über Zoom-Konferenzen können Kinder und Jugendliche in zwei Altersklassen von sieben bis 16 Jahren mit dem Tierheim in Kontakt bleiben und vieles über Tierschutz zu lernen. Das Tierheim ist sogar mit einer deutschen Schule in New York City – der German International School – in Kontakt. Interaktive Unterrichtselemente laden die Kinder zum Mitmachen ein. Neben den 800 Ehrenamtlern unterstützen auch Jugendtierschutz-Praktikanten wie Saskia die Arbeit im Tierheim. Die ebenso Anfang-20-Jährige studiert an einer Hochschule für Medientechnik, wollte früher mal Tierärztin werden und hat als begleitendes Pflichtpraktikum das Tierheim gewählt. Für die Öffentlichkeitsarbeit müssen die Inhalte visuell ansprechend aufbereitet werden. Als Katzen-, Hunde-, ja eigentlich Alle-Tiere-Liebhaberin empfindet sie den illegalen, im Netz kursierenden Welpen-Handel als besonders schlimm oder auch das immer noch weit verbreitete Animal Hoarding. Dabei horten Menschen Tiere wie Sammelstücke zu Hause und sind dann irgendwann überfordert.
Wenn die Tiere Glück haben, werden solche Fälle entdeckt. Meist in erbärmlichem Zustand landen die Tiere dann im Heim. Was da draußen mit vielen Tieren durch Menschenhand passiere, komme im Tierheim mit viel Liebe und Einsatz wenigstens ein Stück wieder ins Gleichgewicht. Besonders gut gefällt Saskia das Gehege für die wilden Katzen im hinteren Teil der Anlage – das sei „so Zen", sagt sie. Clara und Saskia sind begeistert von den Aktionen für den Tierschutznachwuchs. Sind sie doch selbst seit ihrer Kindheit große Tierfreundinnen. „Das Kinder-Vorleseprojekt ist für mich ein besonders großes Herzensding, verbunden mit viel unbefangener Freude zwischen Kind und Katze. Die Kleinen zeigen viel Respekt vor dem Tier", so Saskia.
Gerade hat sie mit Clara einen kleinen Film abgedreht, der als Dankeschön in der Weihnachtszeit an die Lesekinder geschickt wird, die sich freuen, so bald wie möglich wieder vorbeikommen zu dürfen. Die Vermittlung hat immer Vorrang, und wenn Luna in der nächsten Runde nicht mehr da sein sollte, weil sie ein Zuhause gefunden hat, wäre das auch für ihre Kinderfreunde ein Grund zur Freude.