Grenze zu – aber was hat es gebracht? Die Grenzschließungen während des ersten Lockdowns 2020 haben der Idee offener EU-Grenzen schweren Schaden zugefügt. Der „Geist von Schengen" drohte in den nationalen Untiefen zwischen Mosel und Saar zu versinken.
Wohl nirgendwo sonst in Europa als in der Großregion der eng miteinander verflochtenen Nachbarn Deutschland, Frankreich, Luxemburg und Belgien ist der gemeinsame Binnenmarkt sichtbarer und spürbarer. Allein die Zahl von täglich über 200.000 Grenzgängern in Richtung ihrer Arbeitsplätze dies- und jenseits der Grenzen macht die Großregion zur dynamischsten Region Europas überhaupt. Ein gelebtes Europa, wie es sich die Gründerväter der EU wohl in ihren kühnsten Träumen kaum besser vorgestellt hätten. Doch das Virus Sars-CoV-2 hat 2020 gnadenlos aufgezeigt, woran die EU kränkelt: der Rückfall in nationale Denkschemata in Krisenzeiten, eine nur lückenhaft funktionierende europäische Gesundheitspolitik und die unabgesprochene Vorgehensweise der Mitgliedstaaten bei Grenzschließungen – frei nach dem Motto „Das Hemd sitzt näher als die Hose". Der europäische „Geist von Schengen" droht 2020 für die Großregion in den nationalen Untiefen zwischen Mosel und Saar zu versinken. Das Vertrauen der Bürger des Schengen-Raums in ein grenzenloses Europa ist seither arg verwässert und bedarf einer klaren Kurskorrektur, um das Schiff Europa wieder flott zu kriegen.
Januar 2020 – Die Ruhe vor dem Sturm
Als die letzte Rakete zum Jahreswechsel abgeschossen, das letzte Glas Sekt geleert und die Neujahrsempfänge im Saarland, in Lothringen und Luxemburg auf der Agenda stehen, scheint China als ausgemachtes Ursprungsland des Coronavirus noch weit weg. Schon oft gab es angekündigte Viruskatastrophen in den vergangenen Jahren wie die Vogel- oder Schweine-grippe, die aber in der Großregion immer relativ glimpflich abliefen. Warum sollte es dieses Mal anders kommen?
Februar 2020 – Schwere Sturmflut
Das neue Virus ist längst in Europa angekommen und treibt sein Unwesen allen voran in Italien, Spanien und Frankreich. Bilder von überfüllten Krankenhäusern, resignierenden Ärzten und Pflegern sowie verzweifelten Menschen machen Angst, während hierzulande noch Karneval oder in den Winterskiorten Après-Ski gefeiert wird. Auch in Grand Est, vor allem im südlichen Elsass, füllen sich die Krankenhäuser bis über die Belastungsgrenze.
März 2020 – Gekentert
Europa wird zum Hotspot des Corona-virus. Auch im Saarland nehmen seit dem ersten offiziell bestätigten Fall am 3. März die Infektionszahlen zu. Das Auswärtige Amt in Berlin erklärt Luxemburg zum Risikogebiet und kurze Zeit später auch Grand Est mit dem angrenzenden Département Moselle. Das Bundesinnenministerium schließt auf Bitten des Saarlandes und nach Empfehlungen des Robert-Koch-Instituts von einem Tag auf den anderen die Grenzen nach Luxemburg und Frankreich. Die Nachbarn fühlen sich brüskiert und übergangen. Kurze Zeit später erklärt Frankreich Deutschland zum Risikogebiet.
April 2020 – Rette sich wer kann
Steigende Fallzahlen, Lockdown der Wirtschaft, Kontaktverbote werden zum Alltag. In Frankreich dürfen die Menschen ihre Häuser und Wohnungen nur aus triftigen Gründen verlassen. Grenzgänger müssen riesige Umwege in Kauf nehmen, um zur Arbeit zu kommen, da anfangs nur wenige von rund 30 Grenzübergängen zwischen dem Saarland und dem Département Moselle durchlässig sind. Die Bürokratie mit auszufüllenden Formularen, wer, wann, wo, wie und warum das Haus verlassen darf, nimmt in Frankreich neue Dimensionen an. An den Grenzen kommt es zu wüsten Beschimpfungen wie zu längst vergangen geglaubten Zeiten. Während die Grenze zwischen Luxemburg und Frankreich geöffnet ist, bleibt die Grenze zwischen Rheinland-Pfalz und dem Saarland zu Luxemburg geschlossen und wird kontrolliert. Die Luxemburger Regierung Bettel interveniert zunächst erfolglos in Berlin, denn kaum ein europäisches Land ist so stark von europäischen Arbeitskräften abhängig wie das Großherzogtum. Das Schengen-Abkommen ist im Prinzip außer Kraft gesetzt.
Mai 2020 – Rettungsmanöver
Die Fallzahlen steigen zwar weiter, aber langsamer. Das Herunterfahren der Wirtschaft scheint Wirkung zu zeigen. Die Schlagbäume zu Frankreich und Luxemburg bleiben geschlossen. Den saarländischen Geschäften entlang der französischen Grenze, die während des Lockdowns öffnen durften, fehlt spürbar die französische Kundschaft. Aus der Erkenntnis heraus, dass das Coronavirus keine Grenzen wahrnimmt, formiert sich „Widerstand" in den europäischen Grenzregionen und Institutionen. Einige Grenzstationen werden wieder geöffnet, aber weiterhin kontrolliert. Ins jeweilige Nachbarland darf nur, wer einen triftigen Grund hat. Im Saarland werden französische Patienten in Krankenhäusern behandelt.
Juni 2020 – Land in Sicht
Die Fallzahlen sinken in Europa, Lockerungen werden sukzessive umgesetzt, und auch die Bundespolizei zur Grenzsicherung zieht ab – für die Grenze zu Luxemburg etwas früher als zu Lothringen. Auf der symbolischen Brücke der Freundschaft in Kleinblittersdorf/Grosbliederstroff versprechen alle lokalen und regionalen Politiker am 15. Juni, dass es nie wieder Grenzschließungen geben darf.
Juli 2020 – Durchatmen
Obwohl Luxemburg wegen steigender Infektionen erneut zum Risikogebiet erklärt wird, bleiben die Grenzen zu Deutschland trotz Reisewarnung des Auswärtigen Amts geöffnet. Es beginnt die Ferienzeit in Europa, aber unbeschwertes Reisen sieht anders aus.
August 2020 – Dunkle Wolken
Im klassischen Ferienmonat, besonders in Frankreich, warnen Fachleute bereits vor Reiserückkehrern aus Risikogebieten. Doch nach der langen Durststrecke im Frühjahr wollen die Menschen Erholung.
September 2020 – Heißer Herbst
Die Fallzahlen steigen wieder überall an. Reiserückkehrer, zu frühe Lockerungen, aber auch unvernünftiges Verhalten der Menschen werden dafür verantwortlich gemacht. Die Angst vor einer zweiten und schlimmeren Welle geht um.
Oktober 2020 – Zweite Welle
Die zweite Welle nimmt ihren Lauf. Luxemburg, Lothringen und das Saarland vermelden steigende Infektionen. Auch die französischen Krankenhäuser füllen sich wieder zunehmend mit Corona-Patienten.
November 2020 – Nebel
Seit Anfang November gilt in Deutschland ein Lockdown light. In Frankreich fallen die strengen Corona-Maßnahmen mit Ausgangssperre wie im Frühjahr aus. Luxemburg verhängt wie die Franzosen eine nächtliche Ausgangssperre und einen Teil-Lockdown. Schulen und die meisten Unternehmen bleiben aber geöffnet. Die Zahl der Infizierten steigt auch im Saarland auf neue Höchstwerte, aber die Grenzen bleiben offen. Ins Nachbarland darf man allerdings nur aus triftigem Grund, im Prinzip eine Grenzschließung light. Das Saarland nimmt wieder französische Corona-Patienten auf. Die Politik fährt im herbstlichen Corona-Nebel auf Sicht, aber die Bugwelle scheint zumindest gebrochen. Frankreich kündigt erste Lockerungen an.
Dezember 2020 – Prinzip Hoffnung
Die Hoffnung auf zuverlässige Impfstoffe nährt den Wunsch auf ein baldiges Ende der Pandemie. Doch zuvor explodieren erneut die Zahlen, es kommt zum harten Lockdown. Was bleibt, ist die Hoffnung, dass Europa die richtigen Lehren aus der Gesundheitskrise zieht und den „Geist von Schengen" wiederbelebt.
Das Fazit:
Grenzschließungen und erst recht nationale Alleingänge sind kein adäquates Mittel zur Bekämpfung des Virus. Drei Länder, drei Strategien. Eine transparente und gemeinsame Informationspolitik in der Großregion in Krisenzeiten wäre wünschenswert, würde vieles erleichtern und mehr Verständnis bei den Bürgern erzeugen. Die grenzüberschreitende Zusammenarbeit auf dem Gesundheitssektor ist dringender denn je geboten.