Die Pandemie hat der Fashion-Branche nicht nur erhebliche Umsatzeinbußen beschert, sondern auch interne Schwächen und Irrwege offengelegt. Doch deren Überwindung könnte die Modewelt von Grund auf ändern. Daher wirkte Corona als Beschleuniger des Fashion-Wandels.
Nicht sonderlich modeaffine Zeitgenossen könnten leicht den Eindruck gewinnen, dass die Fashion-Branche die Corona-Krise bislang relativ glimpflich überstanden haben müsste. Hat man doch selbst in den Printmedien gewohnt ausführliche Berichterstattungen darüber vernommen, dass die vier großen Fashion Weeks sowohl in den Monaten Februar/März als auch im September/Oktober durchgeführt werden konnten.
Bei der Terminierung hatten die Veranstalter Glück im Unglück. Die erste Eventfolge fand unmittelbar vor dem großen Pandemie-Ausbruch in ganzEuropa statt und die zweite Eventfolge lag vor dem massiven Aufschlagen der zweiten Welle. Bei den Schauen in New York und London Anfang 2020 wurde Corona noch als fernes chinesisches Problem angesehen. In den Menschenansammlungen gelegentlich gesichtete Atemschutzmasken wurden noch als modischer Gag bewundert. Auch Mailand wurde trotz erster Schreckensmeldungen aus der Lombardei noch ganz plangemäß vor dicht mit Promis, Influencerinnen oder Pressevertretern besetzten Reihen durchgeführt. Einzig Giorgio Armani schien der Ernst der Lage zu dämmern, weshalb er seine Damenkollektion für den Winter 2020/2021 nur per Livestream ohne Publikum vorgestellt hatte. In Paris tauchten zwar erstmals Desinfektionsmittel auf, aber auf die übliche Bussi-Begrüßung wurde nicht verzichtet. Chanel sorgte für Aufsehen, weil das Traditionshaus seine Show aus dem Grand Palais erstmals auch via Livestream mit der Welt teilte.
Einige Schauen fanden noch statt
Als die Zahl der Corona-Kranken und -Toten wenig später exponentiell nach oben schnellte, war an weitere Veranstaltungen mit Publikumspräsenz wie Pre-Fall, Haute Couture oder Capsule nicht mehr zu denken. Die für Juni und Juli angesetzten Menswear-Modewochen in Mailand und Paris wurden zwar noch als Digital Fashion Weeks durchgezogen. Aber kaum nachvollziehbar war dann die Entscheidung des obersten französischen Modeverbandes vom Juni 2020, die Pariser Fashion Week für Ladys-Prêt-à-Porter zur Sommersaion 2021 vom 28. September bis 6. Oktober mit Besuchern zuzulassen. Der größte Konkurrent Mailand sollte dem fragwürdigen Pariser Beispiel folgen, während New York und London den Besucherzustrom möglichst durch einen gestrafften Schauenplan, Open-Air-Events, Vorführung vorab aufgezeichneter Kollektionspräsentationen, Runway-Shows ohne Publikum, Verwendung von Lookbooks oder kleinen Showrooms mit strengen Gästelisten in zeitlich stark limitiertem Rahmen minimieren wollten. In Mailand und Paris hatte man sich hingegen für eine Event-Variante entschieden, die eher an typische Modeschauen erinnerte, sogenannte phygitale Fashion Weeks, bei denen neben rein digitalen Veranstaltungen mit Filmen oder Livestreams auch echte Shows mit Publikum stattfanden. Dior begrüßte beispielsweise in einem Zelt stolze 350 Gäste. Insgesamt 18 Labels, darunter Traditionshäuser wie Chanel, Hermès oder Louis Vuitton, hatten sich dafür entschieden, ihre Sommerkollektionen 2021 auch in physischer Form, teils unter freiem Himmel, vorzustellen. Die Marke Yves Saint Laurent hingegen hatte sämtliche für 2020 geplanten Präsentationen gecancelt.
Die schon vor Beginn der Corona-Pandemie gestartete Diskussion darüber, ob klassische Fashion Weeks im digitalen Zeitalter überhaupt noch Sinn machen, wurde durch die Krise zusätzlich befeuert. Es wurden auch ökologische Bedenken geäußert und folglich berechnet, dass allein für den Transfer der Fashion-Crowd zu den vier Mode-Metropolen jährlich 241.000 Tonnen CO2 zu Buche schlagen. Nicht gerade förderlich für das Image der Textilbranche, die ohnehin als zweitgrößter wirtschaftlicher Umweltverschmutzer gilt.
Grundsatzdiskussion über den Sinn von Modeschauen
Verteidiger der Fashion Weeks verwiesen darauf, dass es sich bei ihnen auch um bedeutende kulturelle Events handele und dass Einkäufer auf die Begutachtung der Kleidung vor Ort nicht verzichten könnten. Erste Studien kamen tatsächlich zu dem Ergebnis, dass Marken, die sich nicht allein auf die Online-Vorstellung ihrer Kollektionen verlassen hatten, in den sozialen Medien wesentlich mehr beachtet wurden. Für die Zukunft könnte das bedeuten, dass die optimale Verknüpfung von analogen Shows mit neuesten digitalen Kommunikationsmöglichkeiten das Mode-Event-Erfolgsmodell wird. Dem Thema Nachhaltigkeit, das ebenfalls in Corona-Zeiten zusätzlich an Brisanz gewonnen hat, wird somit Rechnung getragen.
Generell war zu beobachten, dass sämtliche branchenimmanente Probleme in bislang ungewohnter Offenheit, befeuert durch die Corona-Krise, auf den Tisch gekommen waren. Neben Umweltverschmutzung oder Nachhaltigkeit mit Schlagwörtern wie Consciousness oder Upcycling waren das beispielsweise die Überproduktion von Kleidung, die viel zu schnelle Rabattierung in den Läden, der ständige Kollektionswechsel, die übervollen Warenlager, die viel zu kurzlebigen Trends, das weitgehende Fehlen hochwertiger und langlebiger Kleidungsstücke im Kampf gegen Fast Fashion, die bislang nur unzureichend geschaffte Inklusion oder die gesellschaftlichen Missstände in vielen bettelarmen Produktionsländern. Letztlich wurde sogar das grundlegende Denkmuster der Fashion-Industrie komplett infrage gestellt: „Je mehr Mode immer schneller, effizienter und in immer höheren Stückzahlen produziert und an möglichst vielen Orten verkauft wird, desto schneller wächst der Umsatz", wie die „Neue Zürcher Zeitung" die oberste bislang gültige Maxime der Modebranche exakt beschrieben hatte.
Als schärfster Kritiker sollte sich ausgerechnet ein viel bewunderter Insider namens Giorgio Armani erweisen. Der hatte Anfang April vergangenen Jahres in einem öffentlichen Brandbrief an das US-Magazin „Women’s Wear Daily" so etwas wie eine Fundamentalabrechnung mit der aktuellen Modeindustrie präsentiert. Die Überproduktion und Vertriebslogistik der Luxusbranche bezeichnete er darin als „absurd" und „kriminell". Der Niedergang der Modewelt hat Armani zufolge begonnen, „als das Luxussegment die Vertriebsmethoden der Fast Fashion übernahm und deren endlose Lieferzyklen imitierte, in der Hoffnung, mehr zu verkaufen, und dabei vergaß, dass Luxus Zeit braucht, um erreicht und geschätzt zu werden. Diese Krise ist eine Gelegenheit, zu entschleunigen und sich neu auszurichten." Luxus könne nun einmal nicht schnell sein: „Es macht keinen Sinn für meine Jacken oder Anzüge, wenn sie bloß drei Wochen im Laden hängen, bevor sie überholt sind und durch neue Produkte ersetzt werden, die sich kaum unterscheiden." Für ihn sei die künftige Lösung eine zeitlose Eleganz, die dafür gemacht sei, langlebig zu überdauern. Damit appellierte Armani natürlich auch an ein neues Konsum- und Shopping-Verhalten der Kunden, die künftig wieder mehr auf Qualität und weniger auf billige Trendteile setzen sollten.
Viele Läden bangen noch mindestens bis März
Schlagworte wie „Kaufscham" machten schnell die Runde in Richtung Konsumzurückhaltung. Unterstützung erhielt Armani ganz im Sinne einer modischen Entschleunigung von Virgil Abloh, einem der Jung-Designer-Stars der Szene mit seinem Label Off-White und als Chefdesigner der Louis Vuitton-Menswear: „Wie viele T-Shirts können wir noch besitzen, wie viele Kapuzenpullover, wie viele Turnschuhe? Es gibt so viele coole Kleidung in Vintage-Läden, man muss sie nur tragen."
Die Corona-Pandemie mag vielleicht eine große Chance für einen grundlegenden Neuanfang in der Fashion-Welt sein. Selbst ein neuer Markt von großen Online-Kleidertauschbörsen oder Secondhand-Portalen wird im Sinne der Nachhaltigkeit schon vorhergesagt. Aber ob der Zeitpunkt wirklich so ideal dafür ist, mag angesichts massiver Umsatzeinbrüche und Existenzängste vieler Marken und Einzelhändler doch bezweifelt werden. Im Luxussegment, dessen Anteil an der auf global 1,3 Billionen Euro taxierten Bekleidungsindustrie rund 590 Millionen Euro beträgt, wird für 2020 mit Umsatzrückgängen von 20 bis 35 Prozent gerechnet. Nicht zuletzt deshalb, weil China als inzwischen weltweiter Hauptabsatzplatz für Luxuswaren monatelang ausgefallen war. Auch die drohenden Schließungen stationärer Läden, in denen vor Corona rund 80 Prozent des Fashion-Umsatzes gemacht wurden und die durch den florierenden Onlinehandel neben der übermächtigen Konkurrenz durch die Fast-Fashion-Ketten dürfte der Modebranche große Kopfschmerzen bereiten. Für 2021 geht der „State of Fashion 2020"-Report zwar wieder von einem Umsatzwachstum der globalen Modeindustrie zwischen zwei und vier Prozent aus, aber welche Unternehmen davon profitieren werden, steht derzeit in den Sternen. In Deutschland geht der Warenkreditversicherer Euler Hermes für die Textilbranche für 2020 von einem Umsatzrückgang von 19 Prozent aus. Das entspricht einem Verlust von zwölf Milliarden Euro. Dem steht ein Umsatzplus des E-Commerce-Handels von stolzen 18 Prozent gegenüber. Ohne ein gutes Weihnachtsgeschäft dürften hierzulande viele Läden die Saure-Gurken-Zeit von Januar bis März 2021 kaum schadlos überstehen können.