Die 107. Auflage der Tour de France ging gleich in mehrerer Hinsicht in die Geschichtsbücher ein. Die Umstände waren einzigartig, der Gesamtsieger war es auch.
Sechs Wochen nach seinem Husarenritt ins Gelbe Trikot begann für Tadej Pogacar eigentlich schon die Mission Titelverteidigung. Der slowenische Shootingstar verfolgte gespannt die Streckenpräsentation der Tour de France 2021 – und war hinterher leicht enttäuscht. „Ich persönlich hätte mir mehr Bergankünfte gewünscht", sagte der 22-Jährige. Tatsächlich ist das Streckenprofil der Großen Schleife im kommenden Sommer nicht gerade auf Kletterkünstler wie Pogacar zugeschnitten. Es stehen zwei Einzelzeitfahren auf dem Programm, nur zwei Tagesabschnitte führen in die Alpen. Insgesamt ist das Profil weniger hügelig und anspruchsvoll als die 107. Auflage, in der Pogacar die Radsport-Welt aus den Angeln gehoben hat. Die Tour ging aber auch aufgrund der besonderen Corona-Umstände in die Geschichte ein. „Der Sieg von Tadej Pogacar ist ein Triumph – genauso wie die komplette Durchführung des Rennens selbst während der Pandemie", schrieb der englische „Telegraph" passend. Beim Grand Dépard in der „roten Zone" Nizza war die Sorge groß, dass das Peleton nicht wie geplant am 20. September in Paris über die Avenue des Champs-Élysées rollen würde. Die Fallzahlen in Frankreich erreichten Rekordhöhen, das Hygienekonzept wurde kritisch hinterfragt, das Fanverhalten an der Strecke war eine große Unbekannte. Und beim obligatorischen Test am ersten Ruhetag wurde ausgerechnet Christian Prudhomme positiv auf Corona getestet. Die Folge: Quarantäne für den Tour-Chef. Doch am Ende muss man feststellen: Die Blase hielt.
„Die Durchführung des Rennens ist ein Triumph"
Zwei Weltkriege hatten die Austragung der Tour gestoppt – Corona schaffte das nicht. Die Verschiebung von Juni/Juli auf September erwies sich als richtig, genau wie die Durchführung trotz großer Bedenken und Risiken. Doch wirklich glücklich war am Ende keiner der Organisatoren, sondern eher erleichtert. Das Volksfest, das über Generationen als fester Bestandteil in Frankreichs Sportkultur verankert ist, fiel größtenteils aus. Das Treiben fühlte sich eher geschäftsmäßig an. Diesmal ging es fast nur ums Business. Ohne die Tour hätten die Sponsoren ihren vertraglich vereinbarten Werbewert nicht generieren können, an den Ausgleichszahlungen wären so manche Teams zerbrochen. So aber waren die Sponsoren zufrieden, weil die Profis allen Corona-Sorgen zum Trotz ein sportliches Spektakel lieferten. Allen voran Tadej Pogacar, der ersten slowenische Sieger und jüngste Champion der Frankreich-Rundfahrt seit 116 Jahren.
Die Art und Weise, wie der Slowene seinem Landsmann Primoz Roglic den sicher geglaubten Gesamtsieg noch abgejagt hatte, war das absolute Highlight der 107. Auflage. Beim entscheidenden Bergzeitfahren in den Vogesen flog der Profi von UAE Team Emirates zwei Tage nach seinem 22. Geburtstag förmlich über den Asphalt. Roglics satter Vorsprung von 57 Sekunden schmolz schnell dahin, am Ende distanzierte der neue Tour-Held seinen Kumpel um 1:56 Minuten. Schon bei seinem Tagessieg auf der achten Etappe am Col de Peyresourde in den Pyrenäen hatte der Tour-Debütant das übrige Fahrerfeld beim 24-minütigen Anstieg mit einer Leistung von 430 Watt deklassiert.
Solche Machtdemonstrationen hat die Radsport-Welt lange nicht gesehen, sie erinnerten an Auftritte von längst gefallenen Radstars aus der dopingverseuchten Ära. „Solche Werte sind von Lance Armstrong, Jan Ullrich, Marco Pantani und zuletzt vom Sky Team erreicht worden, wo bekanntlich auch nicht alles einwandfrei zugegangen ist", sagte Dopingexperte Fritz Sörgel. „Eigentlich geht man davon aus, dass man im Radsport ein bisschen Reife braucht, ehe man zu solchen Leistungen fähig ist." Dass Armstrong Pogacar nach dessem famosen Sieg im Bergzeitfahren zu „einer der besten Leistungen, die wir jemals im Radsport gesehen haben", gratulierte, dürfte dem Slowenen beim Kampf um die Glaubwürdigkeit nicht unbedingt geholfen haben. Pogacar muss damit leben, dass der Verdacht spätestens jetzt bei ihm mitfährt. Doch zu seiner Verteidigung muss gesagt werden: Es liegen bislang keinerlei konkrete Anhaltspunkte für Doping vor. In seinem Umfeld dagegen schon, sein Sportlicher Leiter Andrej Hauptmann wurde im Jahr 2000 wegen überhöhter Blutwerte aus der Tour ausgeschlossen.
Bislang keine Anhaltspunkte für Doping
Pogacars Aufstieg zum Tour-Dominator kam zwar unerwartet schnell, aber keineswegs völlig überraschend. „Man weiß in der Szene seit zwei, drei Jahren, um welches Talent es sich da handelt", sagte Ralph Denk, der Chef des deutschen Teams Bora-Hansgrohe. Experten hätten sich Pogacars Leistungsdaten angeschaut und seien „perplex" gewesen, „wie viel Talent in dem jungen Mann steckt". Auch der dreimalige Tour-Gewinner Greg LeMond, der sich in der Vergangenheit als Doping-Mahner hervorgetan hatte, will daran glauben, dass Pogacars Tour-Märchen 2020 mit rechten Mitteln zustande gekommen ist. „Ich hoffe, dass es keine Zweifel gibt", sagte LeMond. „Für mich ist er ein sehr großer Gewinner der Tour." Pogacar, der Wunderknabe aus dem Dorf Komenda, brauchte eine Weile, um seinen historischen Coup zu verarbeiten. „Ich kann es nicht glauben", hatte er immer und immer wieder in der Stunde des Triumphs gesagt. „Ich bin doch nur ein Junge aus Slowenien", sagte er. „Mein Traum war eigentlich, mitzufahren. Jetzt stehe ich hier. Unglaublich. Ich weiß nicht, wann ich das kapieren werde." Pogacar trug sich als zweitjüngster Tour-Gewinner in die Geschichtsbücher ein, jünger war nur der damals 19-Jährige Henri Cornet beim Triumph 1904 gewesen. Mehr noch: Vor Pogacar war es noch keinem Fahrer gelungen, das Gelbe, Weiße (bester Jungprofi) und Gepunktete (bester Bergfahrer) Trikot in einem Jahr zu gewinnen. Was für ein Triumph!
Auf dem Podium hätte auch Emanuel Buchmann gerne gestanden. Der 27-Jährige hatte das ganze Jahr mit einem Podestplatz gerechnet, insgeheim sogar mit dem Gelben Trikot – umso schmerzvoller fühlte sich der 38. Platz in der Endabrechnung an. „Allzu viel Positives nehme ich nicht mit", sagte der Kapitän des deutschen Teams Bora-Hansgrohe enttäuscht. Gehandicapt von einem Sturz beim Criterium du Dauphine wenige Wochen zuvor konnte Buchmann nicht an die Leistung der Tour 2019 anknüpfen, die er als Vierter beendet hatte. Durch die Folgen des Sturzes hätten ihm „15 bis 20 Watt" gefehlt, die er angesichts der enormen Leistungsdichte in diesem Jahr gebraucht hätte, um in der Spitzengruppe mitfahren zu können. Buchmann will im nächsten Jahr einen neuen Anlauf nehmen: „Es werden auch wieder bessere Zeiten kommen."
Es lief insgesamt aus deutscher Sicht nicht besonders gut bei der diesjährigen Großen Schleife. Die Ausnahme war Lennard Kämna. Der 24-Jährige sorgte in Villard-de-Lans für den einzigen deutschen Etappensieg und glänzte dabei mit einem taktischen Meisterstück. Kämna bringt riesiges Talent mit, viele Experten prognostizieren ihm eine große Zukunft als Rundfahrer. „Irgendwann werde ich es sicher ausprobieren", sagte Kämna. Für einen Mann, der im niedersächsischen Fischerhude aufgewachsen ist, verfügt er über große Kletterkünste. Sein Vorteil ist das Gewicht, Kämna wiegt bei einer Körpergröße von 1,81 Meter lediglich 64 bis 66 Kilogramm. „Das sind gute Voraussetzungen, der Rest ist hartes Training", sagte er. An Motivation mangelt es ihm nicht: „Ich habe großen Bock auf 2021 und will erfahren, was noch alles möglich ist."
Die deutschen Sprinter konnten dieses Jahr nichts reißen
Auch für Maximilian Schachmann verlief die Tour zufriedenstellend. Der Berliner war nach einem Schlüsselbeinbruch mit stark gedämpften Erwartungen an den Start gegangen – doch dafür lief es sehr ordentlich. An seinen Helfer-Qualitäten lag es nicht, dass Buchmann früh den Kontakt zur Spitze verlor. Später suchte Schachmann seine Chancen in Fluchtgruppen, am Puy Mary im Zentralmassiv fuhr er als Dritter nur knapp am Tagessieg vorbei.
Die deutschen Sprinter konnten dieses Jahr nichts reißen. André Greipel (Israel Start-up Nation) plagte sich mit etlichen Verletzungen und Erkrankungen. Derart geschwächt kam der Rostocker meist gar nicht in die Situation, um den Sieg mitsprinten zu können. Für John Degenkolb (Lotto-Soudal) endete die Tour bereits am Startort Nizza, als er auf regennasser Straße stürzte und außerhalb des Zeitlimits die Ziellinie überquerte.
Für Schlagzeilen sorgte Degenkolbs Teamkollege Roger Kluge. Der Mann aus Eisenhüttenstadt kam zwar in Paris an, allerdings als Letzter. Das war einem deutschen Rennfahrer zuletzt 1935 (Willy Kutschbach) „gelungen". Kluge nahm die „Lanterne Rouge" nicht unbedingt stolz, aber mit Würde zur Kenntnis. Schließlich hatte der zweimalige Bahnrad-Weltmeister seine Helfer-Aufgaben für Sprinter Caleb Ewan ausgezeichnet erledigt und sich und den Australier erfolgreich über die Berge bis nach Paris geschleppt.
Ob alle in Paris angekommenen Fahrer auch sauber waren, dafür gibt es keine Sicherheit. Erst recht nicht nach der Nachricht, dass die Staatsanwaltschaft in Marseille Untersuchungen aufgenommen hat, nachdem das Hotel des bretonischen Teams Arkea-Samsic durchsucht worden war. Teamkapitän Nairo Quintana wies für sich und seine Teamkollegen, darunter Bruder Dayer, alle Doping-Anschuldigungen zurück.