Die Rückschau zeigt: Die Zumutungen durch das Virus brachten so manchen Berliner Gastronomen 2020 auf Trab. Ob Onlineshops, Neuausrichtung oder sogar zahlreiche Neueröffnungen im Zeichen von Take-away, Lieferdiensten und erneutem Lockdown – selten dürfte so viel so innovativ und meist auch kurzfristig umgesetzt worden sein.
Was für ein Jahr für die Gastronomie! Wer Anfang 2020 dachte, dass die neue Kassensicherungsverordnung und die Bonpflicht für Bäckereien für die größte Aufruhr im Food-Bereich sorgen würden, wurde bald eines Besseren belehrt. Corona, zwei Lockdowns und so manches Hin und Her bei den Auflagen und Verordnungen in der Pandemie hatten tiefgreifende Auswirkungen auf die rund 19.000 Berliner Gastronomien. Auf Inhaber und Betreiber, auf 110.000 Festangestellte und eine große Zahl an Saison- und Teilzeitkräften.
Wer vor Corona kein klares Konzept oder die Zahlen nicht im Griff hatte, den traf die Krise umso härter. Wer jedoch flexibel und schnell reagierte, sich idealerweise mit anderen verbündete, kam besser durch. Kurzfristige Konzept-Änderungen wie im „Lode & Stijn" vom Casual Diner zum Tante-Emma-Laden im Frühjahrs-Lockdown führten zu viel Sympathie und Solidarität der Gäste. Die wurden Kunden, die etliche Weekend-Boxen mit Vorproduziertem, Gebackenem, Gemüse und Molkereiprodukten bestellten. Selbstgemachte Apfeltaschen, Bitterballen, aber auch Rosenkohlsprossen, Kräuter, Milch und Weine von den regionalen Restaurant-Produzenten und Händlern trugen im „Kaufmannslädchen" dazu bei, dass auch die zweite Reihe hinter der Gastronomie besser überleben konnte.
Statt Dinner-Konzept „Junkfood de luxe" als Alternative
In der in den vergangenen Jahren zunehmend von Gästen, Touristen und vom Erfolg verwöhnten Hauptstadt erfanden sich viele noch einmal anders oder neu. Das Internet wurde – von manchen überhaupt zum ersten Mal – so richtig entdeckt. Onlineshops wurden eingerichtet, Social Media als Vertriebskanäle genutzt. Virtuelle Weinproben oder gemeinsame Fine-Dining-Dinner sorgten nicht nur für Verkäufe, sondern auch für das gemeinsame Erleben via Zoom, Jitsi und Co. Die „Weinhandlung Suff" etwa organisierte Tastings, bei denen jeder ein, zwei eigene Flaschen zu Hause öffnete. Fachfrau Jeanine Rupp half beim betreuten Schmecken, die eigenen Vorlieben besser kennenzulernen und zu benennen.
Dem Kreuzberger „Barkin’ Kitchen" fiel auf, dass hochwertige Fish’n’Chips in der Stadt fehlten. Die Macher stellten mit „Freddy Fey’s Fish & Fries" kurzfristig auf das unkomplizierte, handwerklich gemachte und Take-away-kompatible Brit-Street-Food um. Denn gerade die Gäste für Mittagsangebote blieben in Homeoffice-Zeiten aus. Auch im veganen Restaurant „Maria" führte das zur Profilschärfung – weg vom Dinner-Konzept, hin zu „Junkfood de luxe" wie veganen Burgern und Pommes, Pumpkin Pie und herzhaft belegten Waffeln. Die Kreuzberger „Bar in a Jar" brachte als eine der ersten sogar den Cocktail aufs Lastenrad und lieferte Drinks, Eis und Deko in der Umgebung aus.
„Suff" stellte fest, wie beinahe jede Weinhandlung, dass mehr und teurer gekauft und getrunken wurde. Die Kreuzberger Filiale wurde eine der zahlreichen Auslieferungsstationen für das „Nimm Mahl" des koreanisch-spanischen „Kochu Karu" in Prenzlauer Berg. Die Menüs konnten in den verpartnerten Weinhandlungen abgeholt, passende Weine direkt vor Ort dazugekauft werden. In der Neuauflage des Erfolgs-Take-aways im Herbst wurde auf Pfandgläser gesetzt. Nachhaltigkeit im Weckglas schlägt Pappkarton oder Plastebox. Weggeworfene Pizzakartons entlang der Ausgehmeilen waren die gar nicht so hippe Müll-Spur des ersten Lockdowns, als erst nur wieder außer Haus verkauft werden durfte.
Ob „Monella", „Gazzo", „Futura", „Il Pizzaiolo" oder „Da Michele" – wer beim klassischen italienischen Mitnehm-Essen was auf sich hielt, bemühte sich um Abfall-Sorgsamkeit. Läden, die wie „Monella" überarbeitet wiedereröffnet oder wie „Da Michele" kurz vor dem ersten Lockdown gerade erst neu eröffnet hatten, profitierten vom schnellen Umschlag und vor allem von der Möglichkeit, Tische und Stühle in einem weitaus höheren Ausmaß als sonst sowie auf Abstand nach draußen stellen zu dürfen. Wer eine Terrasse sein Eigen nannte, konnte häufig über den Sommer zumindest einen Teil des verlorenen Umsatzes aufholen.
Selten gab es mehr Hausmannskost zu kaufen als 2020: Das „Bricole" stieg mit seinem „Feinkostwirtschaft"-Konzept vom Casual Dining auf eingeglaste Klassiker zum Liebhaben und Mitnehmen um. Es verkaufte Königsberger Klopse, Bouillabaisse, Karamellbutter und ausgesuchte Weine zu fairen Preisen. Für den zweiten Lockdown waren Fabian Fischer und sein Team gerüstet; die „Feinkostwirtschaft" eröffnete sofort wieder. Christopher Kümper vom „Christopher’s" eröffnete im Herbst gleich seinen eigenen „Hofladen". Er entdeckte das Backen neu: Macarons erfreuten sich großer Beliebtheit. Knuspriges Kartoffelbrot sowie Aufstriche, Suppen und Snacks sorgten für hausgemachte Abwechslung und Vorrat im Schrank. Die Tellergerichte im Take-away und Delivery blieben. Philipp Vogel vom „Orania" ließ seine Peking-Ente à la Kreuzberg so richtig fliegen. Der „Xberg Duck" flatterte als Soul Food fürs Sofa in Burger verwandelt, auf Pizza gelegt oder als in Entenfett frittierte Luxus-Pommes zu den Gästen.
Gerade eröffnet, schon improvisiert
Die „Berlin Food Week", das herbstliche große Food-Festival, trat trotz zeitiger Absage mehrfach in Erscheinung. Die „BFW" machte Restaurants, Patisserien und Brauereien im Frühjahr trotz Schließung sichtbar. Auf den sonst leeren Großflächen plakatierte sie „Das größte Kochbuch der Welt" mit appetitanregenden Fotos und Rezepten zum Nachkochen und -backen aus den Lokalen. Der US-Partner „Delicious Food USA" stellte im Herbst auch ohne das übliche „Food Week"-Programm seine Produkte für einen vorweihnachtlichen kulinarischen Pop-up-Markt im Bikini Berlin zur Verfügung. „The Grand", „Bonvivant", „Black Apron Bakery", „Nihon Mono" oder „Irma la Douce" fertigten und verkauften dort ihre Leckereien.
Das Geld ging ohne Abschläge an die Gastronomen. Das Frühjahrs-Festival, die „Eat! Berlin", konnte dagegen Ende Februar, Anfang März 2020 gerade noch so über die Bühne gehen. Für den kommenden Spätwinter gibt sich Organisator Bernhard Moser erneut optimistisch: Die 2021er-Edition vom 25. Februar bis zum 7. März ist im Vorverkauf; nicht wenige Veranstaltungen sind ausgebucht. Die Event-Gastronomie zählte 2020 dagegen zu den riesengroßen Verlierern. Die „Palazzo"-Shows im Spiegelzelt am Zoo etwa fielen ersatzlos aus. Nichtsdestotrotz startete der Ticketverkauf für das Enten- und Dinner-Theater mit Hans-Peter Wodarz und Kolja Kleeberg zuversichtlich im Weihnachtsgeschäft in die nächste Saison ab November 2021. Selbst lange geplante oder kurzfristig umgesetzte Neueröffnungen gab es das ganze Jahr über. Nicht jeder Plan und Betreiber lässt sich aufhalten! Einige hatten das richtige Konzept oder gar gleich einen idealen Ort für Gastronomie unter Corona-Bedingungen. Als „Möllers Köttbullar", der Imbiss mit frisch gemachten Schwedenklopsen, nach längerer Suche einen Laden nahe dem Schlesischen Tor fand, konnte es nach dem ersten Lockdown rasch losgehen. Die kleinen Bierbank-Garnituren auf dem Bürgersteig waren ständig besetzt. Zur Auslieferung durch den, ebenfalls neu auf dem Markt agierenden, finnischen Lieferdienst Wolt, eigneten sie sich perfekt.
Die Weinbar „Der Weinlobbyist" profitierte bei ihrer verspäteten Eröffnung im Juni von ihrem exklusiven Innenhof. Der italienisch anmutende Hof erwies sich an der Schöneberger Kolonnenstraße bis weit in den Oktober hinein als Publikumsmagnet. Der „Hummus Room" in der Knesebeckstraße hatte gerade einmal eine knappe Woche Zeit für einen ersten Praxistest vor Lockdown zwei. Alsbald als möglich soll mit der unorthodoxen Kreuzung von Kichererbsenpaste und südamerikanischen Einflüssen mindestens mit Take-away-Boxen durchgestartet werden.
Björn Swanson machte mit seinem ersten eigenen Restaurant, dem „Faelt", ab Anfang Oktober aus dem Stand heraus erfolgreich im Schöneberger Akazienkiez auf sich und sein neungängiges Menü aufmerksam – die legendäre Karamellbutter inklusive. Arne Anker eröffnete sein „Brikz" in Charlottenburg mitten im November-Lockdown mit hochklassigen Drei- und Viergang-Take-away-Menüs. Das „12 seasons" hatte seinen Umzug von Mitte nach Charlottenburg lange vorbereitet. Das monatlich wechselnde „Lockdown-Menü" gab es zum Abholen oder Liefernlassen. Das Team eröffnete parallel den „Markt 12" mit hausgemachtem Eingemachten und Eingekochtem vor dem Restaurant. Es machte so auf sich und auf das, was nach der „richtigen" Eröffnung kommen soll, aufmerksam.
Manch einer blieb auch auf der Strecke
Glück hatte auch das „Rutz Zollhaus", in das sich nach der Übernahme von Herbert Beltle die „Rutz Weinbar" umtopfen konnte. Damit wurde im „Rutz"-Stammhaus an der Chausseestraße Platz gewonnen, um das Fine-Dining-Restaurant vom ersten Stock ins Erdgeschoss, in den ehemaligen Weinbar-Space, zu erweitern. Der Platz wurde dringend gebraucht: Eine gute Woche vor der Schließung wurden das „Rutz"-Team und Chef Marco Müller mit ihrem dritten Michelin-Stern ausgezeichnet. Der Ansturm auf Server und die gerade einmal 24 Plätze war enorm. Berlin hat nun sein erstes Dreisterne-Restaurant – das zur enormen Nachfrage nach dem frischen Stern erst einmal einen Lockdown kassierte.
Nicht immer reichten Bekanntheit, hohe Qualität und Auszeichnungen fürs Überleben. Das „Savu" von Sauli Kemppainen, 2019 erst mit einem Michelin-Stern bedacht, schloss im Oktober 2020 endgültig. Für das ebenso ambitionierte „Cell" kam nach einem fantasievollen Außer-Haus-Verkauf im ersten Lockdown dennoch kurz danach das Aus. Die Zeiten waren und bleiben vorerst hart und für manche sehr bitter. Dennoch ist Berlin wohl nach wie vor die Stadt Nummer zwei, die auch kulinarisch niemals schläft. Wo, wenn nicht hier, gab und gibt es ein so riesiges Angebot und offene Experimentierfelder für Neuerungen, Noch-nie-Dagewesenes und Nischen-Konzepte?
Die Gäste jedenfalls hatten im Corona-Jahr 2020 keinen Grund zu klagen. In vielen, vielen Restaurants, Bars, Cafés und Läden taten und tun Gastronominnen und Gastronomen, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ihr Möglichstes, um auf jedem nur denkbaren Level und für so ziemlich jeden Geldbeutel weiterhin großartiges Essen und Trinken bereitzuhalten. Jeder gekaufte Gutschein, jedes Schmankerl-Glas, jeder Glühwein to go und jede Bestellung zählten und werden noch eine ganze Weile zählen. Damit nächstes Jahr um diese Zeit die lieb gewonnenen Orte für Kulinarik, Genuss und gute Produkte immer noch da sind und weiterhin ihre Gäste erfreuen können.