Die Kunst wurde als Motor der Demokratie bezeichnet. Diese Maschine wird von der Bundesregierung im Zuge der Covid-19-Pandemie nach eigenem Gutdünken ein- und ausgeschaltet. FORUM wollte von den unterschiedlichsten Stars des Kulturbetriebs wissen, wie sie damit umgehen.
Kunst hat die Fähigkeit, die Menschen zusammenzubringen – jenseits von Nationalität, Identität, Religion oder Politik. Sie ist ein Spiegel der Gesellschaft. In Bayern haben der Schutz und die Förderung der Kultur sogar Verfassungsrang. Es gibt aber auch Stimmen, die sagen, kulturelle Veranstaltungen seien schlicht nicht systemrelevant. Finden sie nicht statt, könne das öffentliche Leben weiter funktionieren, auch wenn es um die Facette der Kultur ärmer wird.
Fakt ist: Die gesamte Veranstaltungsbranche ist in Deutschland der sechstgrößte Wirtschaftszweig. Laut der Interessengemeinschaft Veranstaltungswirtschaft (IGVW) beschäftigt sie rund 1,7 Millionen Menschen und setzt jährlich etwa 130 Milliarden Euro direkt um. Doch im Zuge der Pandemiebekämpfung hat die Bundesregierung Maßnahmen beschlossen, die für viele Künstler faktisch einem Berufsverbot gleichkommen. „In den letzten Monaten gaben Sie uns das Gefühl, weniger wert zu sein als Autos, Flugzeuge und Fußballspieler", heißt es in einem offenen Brief an Verantwortliche der Regierung. Unterzeichnet wurde er unter anderem von Carolin Kebekus, Luke Mockridge, The BossHoss und Peter Maffay. Hart arbeitende Menschen, die befürchten, dass unsere einzigartige Kulturlandschaft den Anti-Corona-Maßnahmen zum Opfer fällt. Was aus ihrer Sicht zu einer geistigen wie finanziellen Verarmung des Landes führen würde.
In diesen neoliberalen Welten gebe es vielleicht einzelne Politiker, die den Beruf des Künstlers als unverzichtbar ansähen, glaubt Konstantin Wecker, aber systemrelevant seien für die Politik eher die Lufthansa, die Auto- und Waffenindustrie. „Viele Politiker sind gar nicht unglücklich darüber, dass mit der Kunst auch kritische Stimmen verschwinden. Die Oper wird weiter gefördert, was ich ihr von Herzen gönne, aber es dürfen keine frechen Kabarettisten mehr auf die Bühne", so Wecker. Für den 73-jährigen Liedermacher aus München eine Tragödie, denn nur über die Kunst entdeckten wir unsere Seele, unser eigentliches Sein, unsere Liebe zu den Menschen.
Auch Peter Maffay war in der Corona-Krise nicht untätig und hat das Album „Peter Maffay und" zusammengestellt. Es enthält neue und alte Duette des Musikers mit rumänischen Wurzeln – mit Udo Lindenberg, Zucchero, Johannes Oerding, Hartmut Engler, Laith Al-Deen, Katie Melua und Karat. 2021 will er wieder auf große Tournee gehen, sofern die Pandemie dies zulässt. Der 71-Jährige hat das Gefühl, dass der Stellenwert von Musik für die Menschen aufgrund der Krise wieder gestiegen ist.
„Musik ist ein Ventil in der Isolation"
„Die Politik hingegen sieht das offensichtlich nicht so, auch wenn sie das anders darstellt", findet Maffay. „Wenn man isoliert ist, ist Musik mit Sicherheit ein Ventil. Sie hilft vielen Leuten, komplexe und schwierige Situationen zu überwinden. Meine Hoffnung ist, dass unsere Musik in erster Linie jemandem ein gutes Gefühl schenkt. Damit wäre das Ziel erreicht."
Das junge Trio AnnenMayKantereit aus Köln hat dem Lockdown sogar ein besonderes Kunstwerk abgerungen. Ihr aktueller Longplayer „12" ist ein politisches wie emotionales Konzeptalbum, das unter Schock entstanden ist. Henning May singt darauf mit tiefer kratziger Stimme traurige, bittere und tröstliche Songs zur Gefühlslage seiner Band und der Nation. Sein Fazit: So wie es war, wird es nie wieder sein. Der 28-Jährige glaubt, Corona bringe eine grundlegende gesellschaftliche Veränderung mit sich. „Sie ist in wenigen Bereichen positiv, aber im Großen und Ganzen schlimm. Sie reicht von Menschen, die ihren Beruf verlieren bis hin zu Menschen, die sterben. Ganze Branchen werden halbiert". Schon Mitte März konnten AnnenMayKantereit spüren, dass Corona in sechs Monaten nicht vorbei sein würde. Mit ihrem Album will die Band nicht Profit aus der Krise schlagen, sondern unbedingt diese Verzweiflung einfangen. „In den letzten Jahren durften wir unglaublich viel erleben, weshalb wir gerne schnellstmöglich etwas zurückgeben möchten."
Die Kölner mussten das letzte Drittel ihrer diesjährigen Konzertreise notgedrungen absagen, darunter Shows und Festivals in Deutschland, Russland, der Ukraine, Ungarn und der Türkei. Es wäre ihre erste internationale Tour gewesen. „Als Band kann man bestimmte Schritte nicht einfach wiederholen", weiß Henning May. Er habe Mitleid mit all den Newcomern, denen gerade der Weg nach oben abgeschnitten werde. Dazu kommt, dass viele Clubs pleitegehen. „Das führt zu sinkenden Gagen", klagt der Sänger. „Unsere Kultur wird gerade mit der scharfen Klinge abgeschnitten. Wenn man einen Club, dem die Besucher im Lauf der Zeit eine Bedeutung gegeben haben, einstampft, dann bleibt er für immer verschwunden. Ideelle Werte kann man nicht erneuern. Das verstehen viele Politiker nicht."
Henning May wünscht sich, dass die Clubs nicht wie die Fliegen sterben und auch die kleinen Festivals überleben. Ein Festival wie das Open Flair werde nächstes Jahr keine jungen Bands mehr unterstützen können. Er glaubt, dass durch die momentane Entwicklung Musik immer mehr zum Nebenberuf werde.
Auch die Ärzte aus Berlin haben mit „Ein Lied für jetzt" einen musikalischen Beitrag zur Covid-19-Pandemie geliefert. In frechen Zeilen wie „Wichsen ist die beste Medizin" kommt der für das Trio typische schräge Humor zum Ausdruck. Lautet so die Verschwörungstheorie der Band? „Wenn du jung bist – oder auch 56 – und gelangweilt alleine zu Hause sitzt, was machst du dann?", gibt Farin Urlaub alias Jan Vetter breit grinsend zur Antwort. „Du machst die Schuhe sauber!" Wichsen und Musik bezieht sich laut Bela B alias Dirk Albert Felsenheimer (57) auf die Feststellung, dass der erfolgreiche italienische Pornoseitenbetreiber Pornhub im ersten Lockdown seinen kostenpflichtigen Premiumbereich frei gestellt hatte, um ein positives Zeichen zu setzen. „Das hat man eigentlich von Politikern erwartet, aber nicht bekommen", schimpft Bela B. „Und dann bezieht sich der schlüpfrige Spruch natürlich auch auf die Frage, was die Leute eigentlich mit dem vielen Klopapier machen." Wie fühlt es sich eigentlich an, ein neues Album am Start zu haben, aber nicht auftreten zu dürfen? Farin Urlaub: „Lass uns nicht darüber reden!"
Die amerikanische Musikvermittlung Columbia Artists Management war 80 Jahre lang die wohl wichtigste Agentur für klassische Künstler – im Sommer ist sie aufgrund der Pandemie insolvent geworden und hat die Arbeit eingestellt. Welche Folgen hat die Corona-Krise für einen Weltstar wie den Geiger David Garrett? „Wie alle anderen Musiker habe ich gegenwärtig kein Einkommen", erzählt der 40-jährige Crossover-Künstler beim Interview in Berlin. „Mein berufliches Leben basiert auf Live-Konzerten. Dementsprechend generieren wir natürlich auch dadurch unsere Umsätze, die wir seit Monaten nicht mehr haben. Ich bin aber in einer angenehmeren Situation als viele andere, die direkt oder indirekt von der Konzertbranche leben."
„Gesamte Branche hängt in der Luft"
Gerade für diejenigen, die an der Seite der Künstler im Musikbusiness arbeiten – wie Techniker und Crews –, sei es sehr schwer, den Alltag finanziell zu bewältigen. „Viele Millionen Menschen habe momentan Existenzängste. Es gibt zu wenige kleine Fortschritte. Wir brauchen Zielsetzungen. Momentan hängt die gesamte Branche in der Luft, und niemand weiß, was wann wieder wie funktionieren und möglich sein wird. Bei vielen Kollegen macht sich Hoffnungslosigkeit breit, und genau das darf nicht sein", sagt Garrett.
Die Situation in New York, wo der Deutsch-Amerikaner einen Zweitwohnsitz hat, sei noch viel schlimmer als hierzulande. Die letzten sieben Monate war Garrett zwar nicht mehr dort, hat aber von Freunden gehört, dass der Big Apple wie eine Geisterstadt wirke. „Die meisten Restaurants sind geschlossen. Es ist alles sehr surreal."
Zurück zur Frage nach der Systemrelevanz von Kultur. Bei diesem Thema lohnt es sich sogar für einen 78-Jährigen noch zu rebellieren.
Der große Kabarettist Gerhard Polt findet den Ausdruck „systemrelevant" ungeheuerlich, noch dazu vorgetragen von höheren Stellen. „Spielen hat für die nicht den Wert von Arbeit", ärgert sich der selbsternannte Brettlkünstler beim Interview in München. Seit 1975 hat Polt alle Preise, die es hierzulande in der Sparte Kabarett gibt, eingeheimst. „Und auf der anderen Seite die große Klappe von der Solidarität. Systemrelevante Solidarität ist ein Paradoxon! Nicht nur Künstler und Musiker, es gibt so viele Leute, die von der Politik als nicht systemrelevant eingeschätzt werden. Die Reisebranche gehört nicht dazu, die kriegt drei Milliarden."
Und wie gehen die Sangesstars der Klassik mit der Problematik um? Gerade Opernsänger achten ja besonders auf ihre Stimme und haben Angst vor Ansteckungen aller Art. „Jetzt fühlen alle Menschen, was wir Sänger unser ganzes Leben fühlen", erzählt der in Paris lebende mexikanische Tenor Rolando Villazón (48). „Jemand hustet oder niest, und man denkt: Vorsicht! Aber ehrlich gesagt bin ich als Sänger im Moment nicht wichtig. Es ist viel wichtiger, dass wir als Menschen Solidarität zeigen und diejenigen unterstützen, die jeden Tag 20 Stunden im Krankenhaus arbeiten oder die ganze Zeit alleine sein müssen."
Der produktive Sänger, Autor und Regisseur hat während der Krise bereits den Roman „Amadeus auf dem Fahrrad" und das Album „Serenata Latina" veröffentlicht. Er sagt: „Keine Angst zu haben, ist nicht der richtige Weg, wir sollten Angst um den anderen haben. Also deshalb lieber zu Hause bleiben, das ist für viele gar nicht so schlimm."
Das sieht Gerhard Polt ganz anders: „Der Lockdown ist ein Eldorado für Denunzianten", stellt er fest. „Bei der Geburtstagsfeier einer Dame waren offensichtlich zwei Leute zu viel beim Grillen im Garten. Schon hat ein Nachbar die Polizei angerufen. Dann wurde der Grill gelöscht. Wahrscheinlich hat der Nachbar sich höllisch darüber gefreut."
Einen Vorwurf hört man von namhaften Künstlern immer wieder: „Warum spricht die Politik nicht mit uns und bestimmt stattdessen über unsere Köpfe hinweg?" Bleibt zu hoffen, dass die Kunst, von der die gesamte Gesellschaft profitiert, die laut UN größte Krise seit dem Zweiten Weltkrieg überlebt.