Nach der Spanischen Grippe 1918 erlebt Lulu Vazquez mit der Corona-Krise schon die zweite Pandemie. Die rüstige Spanierin erfreut sich guter Gesundheit. Zu ihrem Geburtstag bekam sie eine besondere Überraschung.
Gerade mal acht Jahre alt war Luisa Vazquez aus Pontevedra, die dort jeder nur „Lulu" nennt, als 1918 die berüchtigte Spanische Grippe über die Welt hereinbrach und auch in ihrer Region erhebliche Opfer forderte. An die verheerende Influenza-Pandemie, die wahrscheinlich im Zuge des Ersten Weltkrieges aus den USA nach Spanien überschwappte, hat Lulu kaum noch Erinnerungen: „Ich war ein kleines Mädchen und erinnere mich nicht sehr gut daran. Ich weiß, dass Menschen meiner Familie gestorben sind, aber ich zum Glück nicht", sagte die Spanierin anlässlich ihres 110. Geburtstages, den sie im März dieses Jahres in Corona-Quarantäne feiern musste. Auch diesmal konnte das Virus der betagten Lulu bisher nichts anhaben.
Sie hat auf jeden Fall Glück gehabt, denn die drei Wellen der eigentlich falsch benannten Spanischen Grippe forderten laut WHO zwischen 20 und 50 Millionen Tote, manche Schätzungen gehen sogar von bis zu 100 Millionen Opfer aus. Lulu Vazquez dürfte damit weltweit einer der wenigen Menschen sein, denen eine schlimme Pandemie zweimal nichts anhaben konnte.
„Gesundheit fürs Alter aufgehoben"
Langlebigkeit hat in der Familie von Lulu Vazquez Tradition: Ihre Mutter erreichte das stolze Alter von 101 Jahren und die Großmutter soll sogar noch ein Jahr älter geworden sein. In ihrer Kindheit musste Lulu allerdings eine Reihe von Krankheiten überwinden. „Als ich klein war, wäre ich fast gestorben. Ich hatte Masern, die kompliziert wurden, und ich bekam eine Lungenentzündung, dann Keuchhusten und ich erbrach alles, was ich gegessen hatte", blickt sie zurück. Auch seien ihr im Alter von zehn Jahren die Haare am Kopf ausgefallen. Aber sie war und ist immer noch eine Kämpferin. Von einer Grippe ist sie aber nach Angaben ihrer Angehörigen bis heute verschont geblieben. „Sie hat sich ihre Gesundheit eben fürs Alter aufgehoben", glauben ihre Verwandten. Bei all den vielen Lebensjahren hat Lulu auch einen Nachteil des hohen Alters entdeckt. „Man muss sehen, wie die Freunde gehen. Alle meine Freunde sind jünger als ich, die meisten sind schon gestorben." Umso bedrückender ist es daher jetzt, wegen der Corona-Pandemie in ihrem Bewegungsradius eingeschränkt zu werden und auf Besucher verzichten zu müssen: „Es ist ein bisschen langweilig, denn ich war schon länger nicht mehr draußen", bedauert Lulu, die in Pontevedra längst eine Institution ist. Vor allem, dass sie ihren 110. Geburtstag nicht mit ihrer Familie und den zahlreichen Freunden feiern konnte, machte ihr schwer zu schaffen. Obwohl sie längst verwitwet ist und keine Kinder hat, hätte sie an ihrem Festtag viele Verwandte, darunter allein 87 Großnichten und -neffen, um sich scharen können. Großnichte Paloma hatte sich jedoch als Ersatz etwas Besonderes einfallen lassen: Sie organisierte mithilfe der örtlichen Polizei ein recht außergewöhnliches Geburtstagsständchen. Um 12.30 Uhr fuhren vier Polizeiwagen vor Lulus Wohnhaus vor und veranstalteten ein grandioses Hup- und Sirenenkonzert. Unter den Gratulanten waren auch einige Familienmitglieder, die aus gesundheitlichen Gründen auf einen persönlichen Besuch in der Wohnung verzichten mussten. Die Überraschungsgäste sangen mit Sicherheitsabstand ein lautstarkes „Happy Birthday" und die Nachbarn klatschten Beifall. Die 110-Jährige stand gerührt am Fenster und erfreute sich dieser unerwarteten Glückwünsche: „Mit dieser Überraschung habe ich nicht gerechnet. Natürlich hat mir das gut gefallen", sagte sie der örtlichen Presse. Sie habe nie damit gerechnet, einmal so alt zu werden. „Das hat mir das Leben als Geschenk gegeben, und ich nehme es gerne an." Die „Geburtstagsparty" vor ihrem Haus habe sie über die ausgefallene Jubiläumsfeier hinweggetröstet. Statt der üblichen Kuchen und Torten gönnte Lulu sich nachmittags frische Erdbeeren mit Sahne. Die zahlreiche Verwandtschaft schickte ihr die Grußbotschaften per Video. Einen Geburtstagsgast konnte die 110-Jährige im März aber doch persönlich begrüßen: Nichte Pura Montenegro fühlt sich der Tante besonders verbunden und verbrachte den Festtag zusammen mit der Jubilarin. Dankbar blickt Lulu Vazquez auf ihre elf Lebensjahrzehnte zurück. „Ich habe jahrelang auf der Arbeit nie gefehlt", sagt sie mit Stolz. „Mir geht es gut", beschreibt sie ihren derzeitigen Gesundheitszustand. Das einzige Handicap sei allerdings, dass sie seit einiger Zeit im Rollstuhl sitzen müsse, obwohl sie bis vor Kurzem noch gut habe laufen können. Ihr „richtiges" Geburtstagsfest mit der gesamten Familie will sie unbedingt nachholen, wenn das Coronavirus besiegt ist und die Einschränkungen aufgehoben wurden.
„Ich mag es nicht, wenn niemand mein Haus betreten kann"
Dass sie mit Corona jetzt schon die zweite Pandemie miterleben muss, macht Lulu traurig, obwohl sie durch ihre Lebenserfahrung weiß, dass mit einem solchen schlimmen Virus immer wieder mal zu rechnen ist. „Jetzt tut es mir sehr leid, dass jeder zu Hause bleiben muss", kommentiert sie die coronabedingten Ausgangsbeschränkungen. Besonders bedauere sie die Kinder, die nicht zum Spielen auf die Straßen gehen könnten. Aber auch ihr selbst fällt es schwer, eingesperrt zu sein. „Ich mag es nicht, dass niemand mein Haus betreten kann, aber das Leben ist halt jetzt so. Man muss auf sich selbst aufpassen", zeigte sie sich in einem Fernsehinterview einsichtig. Lulu liebte es früher, auf die Praza de Ferreria zu gehen und dort die Nachmittage mit ihren Freundinnen zu genießen, von denen die jüngsten auch schon in den Neunzigern sind. Aber wegen ihrer Gehbehinderung musste sie darauf schon ein paar Monate vor der Pandemie verzichten. Wie rührig die Seniorin ist, zeigt sich auch daran, dass sie bis vor Kurzem noch eine regelmäßige Mitarbeiterin der Organisation „Red Madre" war, die Babyartikel für bedürftige Familien erstellt. Dort hat man gern die Dienste der begeisterten Strumpf-Strickerin Lulu Vazquez in Anspruch genommen. Das Stricken hat Lulu am Colegio Sagrado Corazon de Jesus de Placeres gelernt, dessen erste Klasse sie im Gründungsjahr besuchte. Heute ist sie die älteste noch lebende Ex-Studentin und war natürlich Ehrengast, als das Colegio kürzlich sein 100-jähriges Bestehen feierte.
Lulu Vazquez hat sich inzwischen notgedrungen mit den Corona-Einschränkungen abgefunden und ist froh, dass sie geistig noch fit ist. Sie liest gerne Romane und sieht viel fern. Schon jetzt freut sie sich auf die Zeit, wenn eine Rückkehr zur Normalität wieder möglich ist und sie ihre vielen Bekannten wieder in die Arme schließen kann. Die Frage, wie lange sie noch leben möchte, beantwortet sie so: „Ich weiß nicht. Das entscheidet Gott!" Das Geheimnis ihrer Langlebigkeit hat Lulu noch nicht verraten. Großnichte Paloma scherzt deshalb: „Ich hoffe, sie sagt es mir als Erster, bevor sie es einem Journalisten verrät."