Seit 40 Jahren eilt Campino mit den Toten Hosen von Erfolg zu Erfolg. Doch welcher Mensch steckt eigentlich hinter dem Punkrock-Superstar?
Schon als Baby hangelte Andreas Frege sich heimlich aus seinem Laufstall und schaffte es einmal sogar auf den Fenstersims. Dank der Geistesgegenwart seiner Mutter überstand er dieses Abenteuer ohne Blessuren. Das Erklimmen hoher Bäume und Mauern sollte für ihn zum Standardprogramm werden. Von seinem Fenster im ersten Stock aus stieg er oft auf das Dach der Garage neben der Doppelhaushälfte in Mettmann-Metzkausen, wo er mit seinen Eltern und den fünf Geschwistern lebte. Dort oben konnte der quirlige Steppke in Ruhe Abenteuerbücher lesen und den Garten beobachten, in dem er gern gegen seinen Bruder und Zimmergenossen Mike Hockey spielte. Oder sich von den halsbrecherischen Spielen des Fußballvereins TSV Metzkausen und des Hockeyclubs THC Mettmann erholen. Denn oft hatte der alles andere als zimperliche Rheinländer sich auf der Asche die Knie aufgeschlagen.
Die in England geborene Mutter Jennie legte großen Wert darauf, dass Andreas, John, Lizzie, Maria und Mike ein Instrument lernten, nur die Ballettschülerin Judy war davon ausgenommen. Andreas marschierte dann mit seiner Trompete stolz bei den Mettmanner Sankt-Martins-Zügen mit, obwohl er wahrscheinlich lieber auf dem Sportplatz gewesen wäre.
Neben der Hausmusik im Burscheidter Weg zählt der Klassiker „Peter und der Wolf" zu den frühesten Eindrücken des heutigen Rocksängers. „Wir haben das sicher im Musikunterricht gehört", erzählt Campino 2015 im Interview zu seinem Prokofiew-Hörbuch. „Auch die Nachbarskinder besaßen damals diverse Schallplatten, die für mich eine schöne Einführung in die Klassik waren. Da gehörte neben ,Peter und der Wolf‘ auch ,Piccolo, Sax & Co‘ dazu. Dort wurde auf humorvolle Art und Weise ein ganzes Orchester vorgestellt. Und bei Teil zwei, ,Piccolo & Sax gehen auf Weltreise‘, wurden in Schottland die Dudelsäcke und in Südamerika irgendwelche exotischen Instrumente vorgestellt. Das waren brillante Hörspiele, um die Welt der Musik kennenzulernen."
Die Mutter wollte, dass die Kinder ein Instrument lernen
Wenn überhaupt, dann war der Musikunterricht für den Klassenclown Andreas Frege ein erster Prüfstein, ob er es denn mit der Musik wirklich ernst meinte. Jungs lehnen ja durch die Bank alles ab, was ihnen in der Schule so angeboten wird. Und so beschreibt der Erwachsene Campino die gute Frau Kirsch auch als das Klischee einer ältlichen, vergrätzten Grundschullehrerin, die hoffnungslos damit überfordert war, zappelige Kids wie ihn an klassische Musik heranzuführen. „Wenn ich etwas zum Unterricht beigetragen habe, dann habe ich höchstens mal den Stecker aus der Anlage gezogen, wenn Frau Kirsch etwas vorgespielt hat. Ich war sehr frech."
In der Großfamilie Frege hatten die Eltern eher eine Autoritäts- denn eine Vertrauensfunktion. So übernahmen die älteren Geschwister stellvertretend die Aufklärung der jüngeren. Die kulturelle Bildung hingegen ließ Vater Joachim, genannt „Peter", sich nicht nehmen. Der Richter liebte zünftige Marschmusik wie „Preußens Gloria" oder den „Großen Zapfenstreich". Der Staatsdiener nahm seinen jüngsten Sohn regelmäßig zu Militärparaden mit. Für einen Moment war er sogar ein Vorbild für den rebellischen Filius, was den Musikgeschmack angeht. Viele Marschmelodien kann Campino bis heute pfeifen. Am Ende gewann aber die Plattensammlung seines älteren Bruders John das Rennen. Sie führte Campino eindrucksvoll ein in die magische und wilde Welt der Rockmusik. Als er anfing, erste Konzerte zu spielen, verlor er allmählich das Interesse an der Schule. „Ich wurde ruhiger und habe meine Zeit eigentlich nur noch abgesessen. Damit kamen dann auch die Lehrer klar", gesteht er rückblickend.
„Kein Zufall, dass ich bei der Musik gelandet bin"
Das erste Liverpool-Spiel seines Lebens wurde für Campino zur Initiation. Am 29. März 1978 traten die sogenannten Reds beim Halbfinale des Europapokals der Landesmeister gegen Borussia Mönchengladbach an. Noch nie hatte er so viele Menschen auf einem Haufen gesehen wie an diesem Abend im Düsseldorfer Rheinstadion. Plötzlich spielte sein FC Liverpool vor seinen Augen! „Im Auswärtsfanblock schmetterten die Jungs aus Liverpool ihre Lieder", erinnert er sich eindrücklich. „Sie zu beobachten faszinierte mich unglaublich. Kein Zufall, dass ich bei der Musik gelandet bin und nicht beim Sport. Sie spielt in meinem Leben trotz allem die prägendere Rolle."
Sein erstes Rockkonzert 1976 in London in dem kleinen Club Rockgarden ging ihm durch Mark und Bein. Sein Bruder John hatte ihn zu den Count Bishops mitgenommen, die „immens laut und wild" spielten. Seit 1978 hat der glühende Fußballfan und Buddy von Trainer Jürgen Klopp so gut wie kein Match des FC Liverpool verpasst, viele Partien sogar persönlich verfolgt. Durch die zahlreichen Flugreisen ist sein ökologischer Fußabdruck ziemlich angeschwollen. Manchmal lässt Campino sich sogar einen kleinen Monitor an den Bühnenrand stellen, um auch während eines Tote-Hosen-Konzertes am (Fuß)Ball zu bleiben. Als sei der Besuch eines Liverpool-Spiels vergleichbar mit einem berauschenden Band-Auftritt.
„Ein Vergleich fällt mir schwer – bei der einen Sache bin ich Protagonist und bei der anderen ja nur Beobachter", versucht er seine Leidenschaft in Worte zu fassen. „Ich weiß auch nicht, warum ich es nicht abwarten kann, den Ausgang eines Spiels erst nach meinem Auftritt zu erfahren. Übers Internet kann man heutzutage jedes Match live verfolgen, aber während einer Show achte ich nur auf das Ergebnis. Ich will mein Publikum ja nicht enttäuschen. In Situationen ohne Internetverbindung legen unsere Roadies immer unauffällig einen Zettel mit dem aktuellen Torstand am Bühnenrand hin. Solange es die Performance nicht beeinflusst, darf ich mir das erlauben."
„Mein Sohn hört leidenschaftlich gern Hip-Hop"
Eigentlich hält Campino sein Privatleben unter Verschluss, aber dass er und die Schauspielerin Karina Krawczyk 2004 einen Sohn bekamen, ließ sich nicht mehr verheimlichen. Still und leise in New York geheiratet hat er 15 Jahre später allerdings eine andere. Seine Ehefrau scheut die Öffentlichkeit und möchte lieber anonym bleiben. Sohn Lenn ebenfalls. Inzwischen ist er ein Teenager – und kein Fußball-Fan. Er hat auch noch nie eine Tote-Hosen-Biografie gelesen. Das zumindest glaubt sein Erzeuger. So kommt Campino auch nicht in Erklärungsnöte. „Ich finde es gesund, dass man erstmal nur als Elternteil wahrgenommen wird und es völlig egal ist, welchen Beruf man ausübt. Ob man Taxi fährt oder Rockmusik macht, interessiert die Kids erst mal nicht. Mein Sohn hört leidenschaftlich gern Hip-Hop."
Aus Wut über das Ausscheiden des FC Liverpool aus der Champions League trat Campino 2008 mit voller Wucht gegen eine Mülltonne. Selbst der Gips konnte ihn nicht daran hindern, bei Rock am Ring nach Metallica zum Liebling der über 80.000 Zuschauer zu werden. Der Frontmann der Toten Hosen erklomm mit Gipsbein im Skischuh das Dach der Hauptbühne und brachte die Stimmung auf den Siedepunkt. Für die meisten Menschen in Deutschland ist Campino ein wirklich cooler Typ. Findet sein Sohn das eigentlich auch? „Für ihn bin ich wohl eher uncool", lacht der heute 58-Jährige. „So soll es auch sein. Es würde mir mehr Sorgen machen, wenn er mich heroisieren würde. Dem könnte ich nicht gerecht werden. Eltern versuchen heutzutage, ihren Kindern freundschaftlich Ratschläge zu geben, das war in meiner Kindheit anders. Trotzdem sind wir nicht die Freunde unserer Kids, sondern die Erzieher. Ich würde meinem Sohn nicht von meinen Sorgen erzählen. Das wäre eine Überforderung."
Zur Ruhe kommen wird der 1,87 Meter große Sänger, Songschreiber, Schauspieler, Sprecher, Regisseur, Buchautor und Antirassismus-Aktivist mit der braunen Wuschelfrisur wohl erst in der Grabstätte der Toten Hosen auf dem Düsseldorfer Südfriedhof, wo schon drei Gräber mit Mitgliedern der Bandfamilie belegt sind. Das Ganze ist als Gag gestartet, und je mehr die Gruppe darüber nachdachte, desto sinnvoller erschien es ihr. Campino findet den Gedanken völlig in Ordnung, denn man verbringt ja auf einem Friedhof eine längere Zeit. „Da ist es nicht schlecht zu wissen, wer neben einem liegt. Warum sollen das nicht die sein, die einem sowieso sehr nah sind?"