Mitten in der zweiten Welle der Corona-Pandemie beginnt am kommenden Mittwoch die Handball-WM der Männer in Ägypten. Auch wegen des Infektionsrisikos kann Bundestrainer Alfred Gislason nicht mit seiner besten Mannschaft am Nil antreten.
Das Backen kleiner Brötchen ist Bob Hannings Sache nicht. Nach zahlreichen Absagen von Leistungsträgern für die Handball-WM der Männer ab Mittwoch in Ägypten – auch wegen des Risikos von Infektionen mit dem Coronavirus – sind die Chancen der deutschen Nationalmannschaft auf ein erfolgreiches Ergebnis am Nil so weit gesunken, dass der ansonsten so wortgewaltige und gern von möglichen Titeltriumphen schwadronierende Vizepräsident des Deutschen Handballbundes (DHB) seinen Bundestrainer Alfred Gislason für die Bekanntgabe der ungewohnt niedrigen Zielsetzung vorschickte. „Traditionell wollen wir ins Halbfinale, aber das ist dieses Mal nicht realistisch", musste der Isländer sich denn auch zu Beginn der heißen Phase in der WM-Vorbereitung in Bescheidenheit üben.
Die Zurückhaltung ist alles andere als das vor Großereignissen oft übliche Understatement. Vielmehr erscheint das 20-köpfige Aufgebot für Gislasons erstes Turnier auf der Bank des zweimaligen Weltmeisters beinahe wie eine Wundertüte, wie der Coach mit Blick auf insgesamt neun Ausfälle auch selbst andeutete: „Ich bin sehr gespannt, was diese Mannschaft bringen kann. Vor uns liegt viel Arbeit, denn es sind einige Spieler dazugekommen, die international wenig Erfahrung haben." Genauer gesagt besteht der Kader des Europameisters von 2016 gleich zu einem Viertel aus Turnier- oder gar Nationalmannschafts-Neulingen.
Entsprechend teilt auch die Verbandsspitze Gislasons geringe Erwartungshaltung. „Jetzt spielen wir und gucken, wie weit wir kommen", sagte DHB-Präsident Andreas Michelmann. Immerhin die Vorrunde sollte die deutsche Mannschaft weitgehend problemlos meistern können: Die Gruppenspiele gegen Uruguay (15. Januar), die Kapverden (17. Januar) und Ungarn (19. Januar) stellen – allen Personalproblemen im DHB-Team zum Trotz –
auf dem Papier jedenfalls keine unüberwindlichen Hürden dar. Wie Gislasons Mannschaft um Kapitän Uwe Gensheimer indes danach gegen Topteams wie Titelverteidiger Dänemark, Europameister Spanien oder weitere stark einzuschätzende Mitfavoriten wie Frankreich, Kroatien, Schweden und Norwegen bestehen kann, steht in den Sternen.
Maßgebliche Ursache für Gislasons Personalprobleme ist die Corona-Pandemie. Patrick Wiencek, Hendrik Pekeler, Steffen Weinhold (alle THW Kiel) und auch Finn Lemke (MT Melsungen) verzichteten aufgrund der weltweit unsicheren Gesamtlage auf den Trip an den Nil. Besonders die Absagen des Kieler Blocks reißen in Abwehr und am Kreis der deutschen Mannschaft – zusammen mit dem Ausfall von fünf weiteren WM-Kandidaten wegen Verletzungen – große Lücken.
Für Wiencek war die Absage seiner WM-Teilnahme gleichwohl alternativlos: „Das war eine der schwersten Entscheidungen meines Sportlerlebens. Aber ich bin nicht nur Nationalspieler, sondern auch Spieler des THW Kiel und vor allem Familienvater. In dieser Konstellation und in dieser immer noch besonderen Situation hat es sich einfach nicht richtig angefühlt, im Januar vier Wochen lang weit weg von zu Hause zu sein." Ganz ähnlich wie der 146-malige Nationalspieler argumentierten auch seine Clubkollegen Pekeler und Weinhold sowie Lemke.
Mammut-WM mit erstmals 32 Mannschaften
Der Schritt des Quartetts traf die DHB-Führung jedoch nicht völlig unerwartet. Die Debatte über eine Absage der WM war bereits im vergangenen Sommer ausgebrochen, und besonders Wiencek sowie Pekelers Management hatten sich im Herbst kritisch mit der Austragung der Mammut-WM mit erstmals 32 Mannschaften trotz der Corona-Bedrohung auseinandergesetzt. Wiencek sprach sich dabei explizit für die Absage der Titelkämpfe in Afrika aus: „Es gibt nichts Wichtigeres als die Gesundheit, und das vergessen leider einige Leute ganz schnell", sagte der THW-Kapitän und beklagte mangelnde Kommunikation der Verbände mit den Spielern: „Wir sind diejenigen, die auf der Platte stehen. Und wir werden leider in solche Gespräche nicht einbezogen, ob es sinnvoll ist oder nicht. Meiner Meinung nach ist das nicht sinnvoll."
Wiencek unterstützte damit auch seinen Vereinskollegen Pekeler. Denn im Namen des 29-Jährigen hatte auch Pekelers Berater Michael Hoffmann die Debatte über die planmäßige Austragung der WM nachhaltig befeuert. „Wenn man darüber diskutiert, dass Familien zu Weihnachten vielleicht nicht zusammenkommen können", gab Hoffmann den Standpunkt seines Mandanten in einem TV-Interview noch vor dem Beschluss der Politik für einen zweiten Lockdown wieder, „dann wäre eine Handball-WM mit 32 Teams nur drei Wochen später inakzeptabel", sagte Hoffmann und warf dem DHB indirekt sogar eine Vernachlässigung der Fürsorgepflicht für die Nationalspieler vor: „Natürlich müssen Handballspieler als Arbeitnehmer ihren Jobs nachgehen, und trotzdem müssen Arbeitgeber das Risiko minimieren. Industrieunternehmen veranstalten aktuell auch keine Vertriebsseminare in Risikogebieten."
Wiencek und Pekeler bekamen international namhafte Rückendeckung durch die früheren Welthandballer Domagoj Duvnjak (ebenfalls Kiel) und Aron Palmarsson (FC Barcelona). „In dieser Situation in der Welt verstehe ich nicht, warum wir alle Spieler und den Staff dahinfliegen sollten, um unbedingt ein Großturnier zu spielen", sagte der Isländer Palmarsson im Handball-Podcast „Kreis ab", und der Kroate Duvnjak meinte: „Das ist zu gefährlich."
Vernachlässigung der Fürsorgepflicht für die Nationalspieler
Den Sorgen der Spieler, Vorbehalten auch von mehreren Vereinen besonders aus Europa, dem globalen Abschottungstrend und nicht zuletzt den negativen Erfahrungen in vielen europäischen Ligen durch zahlreiche Corona-Infektionen bei Spielern im Zuge der EM-Qualifikationsspiele im Herbst zum Trotz drückten der Weltverband IHF und sein Präsident Hassan Moustafa ihr WM-Projekt durch. Mehr noch: Geradezu zum Entsetzen der weltweiten Sportöffentlichkeit hielt IHF-Boss Moustafa für das Prestige-Turnier in seinem Heimatland zumindest noch bis zum Jahreswechsel am Plan fest, in den vier teilweise neu gebauten Hallen Zuschauer bis zu einer 30-prozentigen Auslastung der Arenen erlauben zu wollen. „Wir heißen alle Besucher in Ägypten willkommen. Es gibt überhaupt keine Zweifel an der Sicherheit für die Zuschauer", warb der 76-Jährige allen Ernstes um Fan-Reisen zur WM wie in „normalen Zeiten". Natürlich denkt Moustafa dabei nur in zweiter Linie an stimmungsvolle Bilder für die weltweiten TV-Übertragungen. Vielmehr sollen wagemutige Zuschauer ihren Teil zur Refinanzierung des Mammutturniers beitragen.
Ebenfalls aus finanziellen Erwägungen zog auch der DHB eine Absage seiner Teilnahme am WM-Turnier offenkundig zu keiner Zeit in Betracht und nimmt dafür ein sportliches Abenteuer in Kauf. Im Falle eines WM-Verzichts hätte der deutsche Verband immerhin rund drei Millionen Euro an Sponsoreneinnahmen und TV-Geldern abschreiben müssen. Angesichts dieser für den DHB wichtigen Summe kam auch Hanning aus seiner Deckung und bürstete Kritiker von Deutschlands WM-Teilnahme gewohnt selbstgefällig ab. Zweifel an der Zuverlässigkeit der immerhin viergeteilten „Bubble" stellte Hanning zur Rechtfertigung der materiellen Interessen seines Verbandes kurzerhand als überholte Denkweisen aus dem Kolonialzeitalter dar: „Es ist respektlos und anmaßend, einem Land wie Ägypten die Fähigkeit abzusprechen, für Hygienestandards wie in Deutschland sorgen und sie einhalten zu können. Natürlich können die Ägypter das, die gehen doch nicht im Vierfüßlerstand über die Straße."
Natürlich konnte Hanning auch wieder einmal nicht der Versuchung einer Selbstüberhöhung des Handballs durch einen Vergleich mit den ganz großen Sportarten widerstehen: „Die Formel 1 fährt, die Fußball-Bundesliga spielt – da frage ich mich schon, warum wir keine Handball-WM spielen sollen." Mit Spielern wie Wiencek und Pekeler hatte sich Hanning offenbar nicht unterhalten. Allerdings kann sich das bei und nach der WM noch als Bumerang für Hanning, das Nationalteam und nicht zuletzt auch wieder für die Clubs erweisen.