Abschreckung vor Gesundheitsvorsorge – Asylsuchende lässt man lieber in Lagern leben, statt sie getrennt unterzubringen. Das wirft Ulla Jelpke, innenpolitische Sprecherin der Fraktion Die Linke, den Bundesländern vor. Laut „Mediendienst Integration" leben bundesweit immer noch 53.000 Flüchtlinge in Sammelunterkünften.
Frau Jelpke, die Bundesländer sind eigentlich gehalten, die Flüchtlinge aus den Sammeleinrichtungen herauszuholen und in Einzelunterkünften unterzubringen. Warum funktioniert das nicht?
Ich befürchte, dass vielerorts der Wille fehlt, um diese Empfehlung des RKI umzusetzen. Die Sammelunterkünfte haben ja einen politischen Zweck: Sie sind Orte der Isolation und Abschreckung, die eingerichtet wurden, um es neu ankommenden Asylsuchenden so unbequem wie möglich zu machen. Außerdem erlauben sie es, die dort lebenden Menschen einer umfassenden behördlichen Kontrolle zu unterwerfen. Im vergangenen Jahr wurde der verpflichtende Aufenthalt in den sogenannten Aufnahmeeinrichtungen sogar verlängert. Offenbar ist es den Verantwortlichen wichtiger, ihre Abschreckungspolitik weiterzuverfolgen, als die Pandemie einzudämmen und die Gesundheit von Geflüchteten zu schützen.
Allein in Berlin sollen rund 19.000 Personen in Sammeleinrichtungen leben, davon die Hälfte als Asylbewerber mit Bleiberecht. Haben die keine Chancen auf dem Wohnungsmarkt?
Es stimmt, dass gerade in Berlin viele anerkannte Flüchtlinge weiterhin in Gemeinschaftsunterkünften leben müssen, weil sie keine Wohnung finden. Das hat viel mit dem angespannten Wohnungsmarkt und insbesondere dem Mangel an bezahlbaren Wohnungen zu tun, hinzu kommt rassistische Diskriminierung. Einer repräsentativen Befragung der Antidiskriminierungsstelle des Bundes von 2019 zufolge berichtete gut ein Drittel der Befragten mit einem sogenannten Migrationshintergrund von Erfahrungen mit Rassismus bei der Wohnungssuche.
Sind Sammellager Brutstätten für die Viren?
Grundsätzlich läuft die Unterbringung von vielen Menschen auf extrem engem Raum allen Empfehlungen zur Eindämmung der Corona-Pandemie zuwider. In Sammellagern für Geflüchtete werden ja in der Regel mehrere einander fremde Personen in einem Zimmer untergebracht; die sanitären Einrichtungen, Kantinen oder Küchen werden gemeinsam genutzt. Abstandsregeln können unter solchen Umständen nicht eingehalten werden. Am besten wäre es daher, ganz auf die Unterbringung in solchen Massenunterkünften zu verzichten. Nicht nur aus Gründen des Infektionsschutzes, sondern auch weil diese Orte systematisch gegen die Menschenwürde verstoßen und das Selbstbestimmungsrecht und die Freiheit der dort Lebenden auf unzulässige Weise einschränken.
Gibt es Möglichkeiten, die Flüchtlinge auf so engem Raum zu schützen?
Es gibt natürlich Möglichkeiten, den Infektionsschutz in Sammelunterkünften etwas zu verbessern. Das Robert Koch-Institut hat hierzu im Juli Empfehlungen an die Länder gemacht, kürzlich hat auch der UNHCR (Hochkommissar der Vereinten Nationen für Flüchtlinge, Anm. d. Red.) Empfehlungen zum Umgang mit der zweiten Infektionswelle veröffentlicht. Empfohlen wird etwa eine separate Unterbringung von Risikopersonen für die Dauer der Pandemie. Ein Zimmer sollen sich nur enge Bezugspersonen oder Familien teilen müssen; Informationen sollen niedrigschwellig und mehrsprachig zur Verfügung gestellt werden. Wichtig ist ferner, dass die Belegung entzerrt wird, etwa indem Geflüchtete auch in leer stehenden Jugendherbergen, Ferienwohnungen oder Hotels untergebracht werden, und dass sogenannte Kohorten gebildet werden, um eine Quarantäne ganzer Unterkünfte zu vermeiden. Doch leider werden diese Empfehlungen von den Ländern nur unzureichend umgesetzt. So kommt es immer wieder vor, dass ganze Einrichtungen für Wochen unter eine Kettenquarantäne gestellt werden. Besonders belastend ist dies für traumatisierte Menschen. Eine „Durchseuchung" der Geflüchteten wird leichtfertig in Kauf genommen.
Wie lange müssen die Flüchtlinge im Durchschnitt in einer Sammelunterkunft bleiben?
Gesetzlich müssen Asylsuchende in der Regel bis zum Abschluss ihres Asylverfahrens in den Aufnahmeeinrichtungen bleiben, längstens 18 Monate. Diese Begrenzung gilt aber nicht für alle Geflüchteten. Menschen aus sogenannten sicheren Herkunftsstaaten können zum Beispiel bis zu ihrer Ausreise dort festgehalten werden. Zur durchschnittlichen Aufenthaltsdauer in Sammelunterkünften gibt es meines Wissens keine Daten.
Wie informiert sind die Flüchtlinge zum Thema Coronavirus? Gibt es dafür Kurse?
Sowohl die Empfehlungen des RKI als auch jene des UNHCR sehen vor, dass Geflüchtete früh und umfassend über Covid-19 informiert werden. Wichtig ist auch, die Informationen mehrsprachig zur Verfügung zu stellen, damit die Geflüchteten sie verstehen können.
Jedoch höre ich immer wieder, dass die Betreiber der Unterkünfte diesen Empfehlungen nicht nachkommen und Quarantänemaßnahmen mit Zwang durchsetzen, was für die betroffenen Geflüchteten mit zusätzlichem Stress einhergeht.
Wie viele von diesen Flüchtlingen sind an Covid-19 erkrankt, wie viele gestorben?
Es gibt eine Auswertung des Robert Koch-Instituts, wonach es in Unterkünften für Geflüchtete 199 Ausbrüche mit insgesamt 4.146 Infizierten gab. Diese Zahlen stammen allerdings von August 2020, es ist also davon auszugehen, dass sie mittlerweile weitaus höher liegen. Bemerkenswert ist die hohe durchschnittliche Fallzahl pro Ausbruch: Diese lag bei 20,8 und damit noch höher als in Alten- und Pflegeheimen. Bis August sind laut der RKI-Auswertung vier Geflüchtete an Covid-19 gestorben. Auch diese Zahl ist in der Zwischenzeit sicherlich gestiegen. Ich kann mich noch gut an den Tod eines geflüchteten Mannes aus Armenien in Geldersheim erinnern. Er war 60 Jahre alt und hatte mehrere schwere Vorerkrankungen. Obwohl er eindeutig zur Risikogruppe gehörte, wurde er offensichtlich nicht ausreichend geschützt.
Wird das Virus von neu aufgenommenen Flüchtlingen in die Gemeinschaftsunterkünfte eingeschleppt?
Neu ankommende Flüchtlinge werden auf Corona getestet, daher gehe ich nicht davon aus, dass sie es sind, die Infektionen in die Gemeinschaftsunterkünfte reintragen. Aber es gehen dort ja tagtäglich Menschen ein und aus: Bewohnerinnen und Bewohner, die zur Schule oder Arbeit müssen, aber auch Personen, die in den Einrichtungen arbeiten. Es liegt auf der Hand, dass sich so auch unbemerkt Menschen mit dem Coronavirus infizieren, insbesondere dann, wenn die Infektionszahlen so hoch sind wie momentan.
Was ist dringend zu tun, wie kann die Gefahr einer Ansteckung nach einer oft sehr anstrengenden Flucht verringert werden?
Wie gesagt sollte aus meiner Sicht generell auf Massenlager verzichtet werden – in der jetzigen Situation ist das noch einmal dringlicher. Solange Menschen gezwungen sind, in großen Unterkünften zu leben, müssen die Empfehlungen des RKI umfassend umgesetzt werden. Außerdem fordere ich einen Stopp aller Abschiebungen. In vielen Herkunftsländern von Geflüchteten sind die Gesundheitssysteme in einem desolaten Zustand und kaum in der Lage, Erkrankte angemessen zu versorgen. Es ist völlig verantwortungslos, Menschen jetzt in diese Länder zurück zu zwingen.