Bei der Bundestagswahl im Herbst wird es wesentlich auf das Abschneiden der Grünen ankommen. Die Union buhlt unverhohlen um Schwarz-Grün. Michael Kellner, Bundesgeschäftsführer Bündnis 90/Die Grünen, über den Willen zum Regieren, die Spitzenkandidatur und unverhandelbare Themen.
Herr Kellner, die Grünen waren einmal die Partei der eingefleischten Ökos, heute scheint sie ein viel breiteres Spektrum an potenziellen Wählern abzudecken. Wie sehen Sie diesen Imagewechsel?
Unser Anspruch ist es, das Land voranzubringen und zu prägen. Das geht nur mit breiter Unterstützung. Wir suchen nach Lösungen, die für eine gesellschaftliche Mehrheit tragfähig sind. Dabei geht’s nicht nur darum, auf andere zu schimpfen, sondern gemeinsame Anliegen zu bündeln, Bündnisse zu schmieden und Vorschläge zur Durchsetzung unserer politischen Positionen zu machen. Das ist ein Politikverständnis, das anscheinend gut ankommt, sonst würden wir ja nicht so viel Unterstützung finden. Es freut mich ungemein, wie viele Menschen sich bei uns einbringen, und wie sich allein in den letzten vier Jahren unsere Mitgliederzahl fast verdoppelt hat.
Den Zuwachs an Mitgliedern haben Sie bereits angesprochen. Aber auch die aktuellen Umfragewerte sowie die Ergebnisse der jüngsten Kommunalwahlen in Nordrhein-Westfalen können sich für die Grünen sehen lassen. Wie erklären Sie sich diesen „grünen Aufschwung"?
Ja, die Ergebnisse bei den Kommunalwahlen sind historisch. Erstmals stellen wir Grüne in NRW Oberbürgermeisterinnen und Oberbürgermeister. Das zeigt: Es gibt Lust auf Veränderung in unserem Land. Und die macht sich in der Breite der Themen fest, von Klimaschutz über die Verkehrswende hin zu bezahlbarem Wohnen, Zusammenhalt in einer weltoffenen Gesellschaft und mehr Bürgerbeteiligung. Dazu kommt natürlich, dass wir mit unserem Spitzenduo Annalena Baerbock und Robert Habeck ein personelles Angebot machen, das viele Menschen überzeugt. Das ist eine gute Startrampe für 2021.
Die CDU hatte ganz klar gesagt, dass der neu zu wählende Parteichef auch ein Anrecht darauf habe, als Kanzlerkandidat der CDU anzutreten. Die SPD hingegen hat sich mit Olaf Scholz für keinen ihrer Parteivorsitzenden entschieden. Wie wollen die Grünen das handhaben?
Bei uns werden unsere beiden Bundesvorsitzenden Annalena Baerbock und Robert Habeck die Partei in den Wahlkampf führen. Die beiden sind ein Spitzenduo und haben großen Rückhalt in der Partei. Ich bin total optimistisch, dass wir mit ihnen an der Spitze ein sehr gutes Ergebnis bei der Bundestagswahl im kommenden Jahr erreichen werden.
Das Amt des Kanzlers ist allerdings nur einmal zu vergeben, nicht zweimal …
Annalena Baerbock und Robert Habeck werden diese Entscheidung im kommenden Jahr treffen. Bis zur Bundestagswahl ist es noch ein Jahr hin, wir stecken mitten in einer Pandemie. In so einem Moment ist es aus unserer Sicht zentral, dass Politik nicht um sich selbst kreist, sondern die drängenden Probleme der Zeit anpackt.
Eine Koalition mit der AfD haben spätestens seit der umstrittenen Landtagswahl in Thüringen alle Parteien für sich ausgeschlossen. Noch-CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer ging damals noch einen Schritt weiter und lehnte auch die Zusammenarbeit mit der Links-Partei ab. Wie sehen Sie das?
Eine Zusammenarbeit mit der rechtsradikalen AfD darf für keine demokratische Partei infrage kommen. Gleichzeitig müssen demokratische Parteien miteinander reden und koalieren können. Alles andere würde dazu führen, dass es in einigen Bundesländern keine stabilen Mehrheiten mehr gäbe. In Thüringen hätte eine Zusammenarbeit von CDU und Linkspartei die Blamage der Wahl eines Ministerpräsidenten mit den Stimmen der AfD verhindern können.
Nun ist Ihre Partei aktuell in der Situation, sowohl für die SPD wie auch für die Union ein attraktiver möglicher Koalitionspartner zu sein. Welche Chancen würden Sie sich von Rot-Rot-Grün oder Schwarz-Grün erhoffen?
Wir wollen regieren, und wir werden die Union herausfordern, denn sie hat kein Abo auf das Kanzleramt. Nach der Wahl werden wir sehen, in welcher Konstellation wir unsere Inhalte am stärksten realisieren können. Mit welcher Stärke wir in die Verhandlungen gehen und wie viel wir dabei herausholen können, entscheidet sich auch auf Grundlage des Wahlergebnisses. Bis dahin ist es noch ein weiter Weg.
Koalitionen leben bekanntlich immer auch von Kompromissen – daran scheiterte bei der letzten Bundestagswahl auch Jamaika. In welchen Punkten wären Sie nicht kompromissbereit?
Wie gesagt, bevor wir über Verhandlungen und Kompromisse sprechen, gilt es erst einmal, eine Wahl zu gewinnen. Darauf konzentrieren wir uns jetzt. Aber es ist wohl kein Geheimnis, wenn ich ihnen verrate: Für uns ist Klimaschutz nicht verhandelbar, und die Gerechtigkeitslücken müssen sich schließen und dürfen nicht noch größer werden.
Kandidaten und Koalitionen beiseite: Sprechen wir über Inhalte. Was werden die Zukunftsthemen sein, mit denen Sie ins kommende Wahljahr starten wollen?
Wir treten bei dieser Bundestagswahl für echten Klimaschutz, für den Zusammenhalt in der Gesellschaft, für eine Gesellschaft der Vielen und für ein funktionierendes Europa an. Die Klimakrise gewährt uns keine Zeit mehr, wir müssen jetzt handeln, um das Pariser Klimaschutzabkommen einzuhalten. Unsere Gemeinschaft ist in der Corona-Pandemie zusammengerückt, hat sich solidarisch gezeigt. Aber die Krise hat auch gezeigt, unter welch schweren Bedingungen viele Menschen arbeiten müssen, zum Beispiel in den Krankenhäusern und Pflegeheimen. Wir treten an für eine Verringerung von Ungleichheit, um mehr sozialen Zusammenhalt zu schaffen. Weltweit geht die Demokratie durch schwere Zeiten. Hier gilt es, alles dafür zu tun, dass Hetze und Hass keine Chance haben und unsere demokratischen Prozesse auf der Höhe der Zeit bleiben. Der Populismus hat in der Pandemie gezeigt: Er kann die Probleme nicht lösen. Umso wichtiger ist eine funktionierende Demokratie. Und völlig klar ist für uns: Wir setzen auf ein starkes Europa. All diese Themen sind zentral für die Zukunft Deutschlands. Unser Land ist bei uns in guten Händen.