Man kann sich durchaus einen Urlaub wünschen, der von viel Regen begleitet wird – wenn man ins Almetal im Sauerland fährt. Dort nämlich lässt sich dann ein besonderes Naturphänomen beobachten.
Eine der großen deutschen Dichterinnen hat es treffend beschrieben: „Man muss dieses Thal, in dem sich Wildheit und Reiz in einem so seltenen Grunde verschmelzen, eigentlich gesehen haben …" Sie fragte sich: Wer kann den Eindruck dieser düsteren und doch so belebten Schluchten wiedergeben? Nichts haben die Worte Annette von Droste-Hülshoffs aus dem Jahr 1841 an Wahrheit verloren: Die Mystik des Almetals im Hochsauerlandkreis ist schwer zu schildern. Man muss sie erleben. Wer dem Quellenweg über seine rund fünfeinhalb Kilometer folgt, startet am Almer Entenstall, in der Unteren Bahnhofsstraße in Alme bei Brilon. Der Wanderweg folgt einem weißen Q auf schwarzem Grund und wechselt von Asphalt schnell in losen Untergrund.
Ein paar sanfte Kehren, und der Blick wird weit über den 1873 künstlichen und aufgestauten Karstquellteichen der Alme. Stockenten dümpeln entspannt auf der Wasseroberfläche. Kleine Inseln liegen malerisch inmitten des Alme-Quelltopfs. Das diesige Nebelgrau wird von Sonnenstrahlen erhellt, die durch die umliegenden Buchenstämme brechen. Mit 104 Austrittspunkten sind die Quellen der Alme eine der stärksten und saubersten Quellschüttungen Deutschlands. Sie stehen unter Naturschutz. In Alme trifft das unterirdisch fließende Wasser des Briloner Massenkalks auf wasserundurchlässiges Schiefergestein. Das Wasser aus dem Untergrund tritt daher in Überlaufquellen empor. Den Quellteich, in dem die Quellen zusammengeführt werden, verlässt die Alme breit fließend. Südlich schließt sich den Almequellen das urwüchsige Mühlental an. Raue Klippen, Felsen und steile Böschungen muten an wie eine Schlucht. Feucht und kühl ist die Luft zwischen Buchen, Eschen und Farnen. Irgendwo trommelt ein Specht. Aus dem Tal bringt einen ein steiler Anstieg auf Klippenhöhe –
durch den Wald über Buttenberg, dann wieder hinab zum Almegraben, an einer alten Sägemühle vorbei zu den Quellen zurück. Informationstafeln erinnern an die Papierfabrik Alexandria und deren wechselhafte Geschichte zwischen 1873 und 1972. Das Wasser wurde der damaligen Papierfabrik über einen Obergraben zugeführt. Wer Glück hat, trifft unterwegs auf Eisvogel und Wasseramsel. Und manch einer glaubt die Magie, von der Annette von Droste-Hülshoff sprach, selbst erspüren zu können.
Eine gewisse Mystik findet sich auf jeden Fall wenige Kilometer weiter auf Burg Ringelstein. Der Blick vom Gelände der Burgruine über die Almetalwälder ist definitiv ein Höhepunkt. Erstmals erwähnt 1399, diente Ringelstein als Jagdburg der Edelherren von Büren, war Schauplatz zahlreicher Hexenprozesse um 1630, brannte 1800 ab und versank Jahrzehnte im Dornröschenschlaf. Seit 1979 finden auf dem Gelände der Ruine Restaurierungen und Ausgrabungen statt. Der Burgberg wird mit alten Schaf- und Ziegenrassen beweidet. Nicht weniger atmosphärisch, gar bedrückend ist es in und um die Wewelsburg im gleichnamigen nahegelegenen Dorf im Kreis Paderborn. Von 1603 bis 1609 in ihrer einzigartigen Dreiecksform neu errichtet, wählte sie Heinrich Himmler, Reichsführer SS, als zentrale Versammlungsstätte seiner Organisation. Für den geplanten Umbau wurde vor Ort ein Konzentrationslager errichtet. Von den rund 3.900 Insassen, die sich von 1939 bis 1945 in Wewelsburg befanden, starben nachweislich ein Drittel an Hunger, Gewalt und Krankheit. Im Kriegsverlauf wurde die Dreiecksburg über dem Almetal auch als Aufbewahrungsort für geraubtes Kunst- und Kulturgut aus den besetzten Ländern benutzt. Eine Dauerausstellung präsentiert „Ideologie und Terror der SS". Im Kellergeschoss des Nordturms wurde im Juni 1950 ein Mahnmal für die Opfer des Nationalsozialismus eingeweiht. Zehn Bilder des Bürener Künstlers Jo Glahé – zunächst wenig beachtet und 1973 sogar aus dem Turmraum entfernt – hängen restauriert an den Wänden. Sie künden von Schmerz, Elend und Verzweiflung.
Aufatmen tut Not. Gut, dass der Weg in die freie Natur führt, nach Salzkotten, in den Ortsteil Niederntudorf zum Naturlehrpfad. Ziel: Quellschwemmkegel, Zeugen des unterirdischen Wasserflusses der Alme. Diese unter Naturschutz stehenden, temporären Quellen sind eine geologische Besonderheit des Karstes der Paderborner Hochfläche. Insgesamt 15 gibt es auf den Talsohlen der Alme, mit Quellöffnungen von teils sogar über fünf Metern und bis zu 2,5 Metern Trichtertiefe. Die Öffnungen bilden in niederschlagsreichen Zeiten kreisrunde Seen. Wer ein besonderes Schauspiel sehen will, kommt also bei Regen. Wer von den Quellschwemmkegeln nördlich des Wiesberges weiter ortsauswärts spaziert, vorbei am Steinbruch Stellbrink, stößt darunter auf ein ungewöhnliches Schild. „Altlasten" steht darauf. Und zur Erklärung: „Anfang der 50er-Jahre wurde dieser ehemalige Steinbruch mit anfallendem Müll verfüllt." Später wurde die Halde abgedeckt und bepflanzt. Der hübsche Hügel zur Rechten verliert mit diesem Wissen etwas von seiner Schönheit. Naturlehre auf die ungeschönte Art. Tatsächlich nimmt jeder Regen Haldenreste mit auf dem Weg in den Untergrund. Die Klüfte des Kalksandsteins haben aber kaum eine Filterwirkung. So gelangt alles ungehindert ins Grundwasser – noch eine Besonderheit der Region. Beim Weitergehen spürt man dann wieder wenig vom Raubbau an der Natur. Kappweiden wiegen ihre Köpfe im Wind, ein Feuersalamander huscht eilends über den Pfad. 45 Minuten Fahrt sind es im Anschluss bis zu den Bruchhauser Steinen, die imposant am Fachwerkdorf Bruchhausen bei Olsberg das umliegende Sauerland überragen. Vier riesige Vulkanfelsen erheben sich mit 92 (Bornstein), 72 (Ravenstein), 60 (Goldstein) und 45 (Feldstein) Metern Höhe. Der Feldstein ist für Wanderer zugänglich. Stein um Stein klettert man über eine Treppe den überdimensionierten Felsbrocken empor. Vom Gipfel des Nationalen Naturmonuments auf 756 Metern Seehöhe scheint der Himmel greifbar. Ein unvergessliches Naturerlebnis.