Die Stahlbranche bleibt unter Druck: Dumping-Preise, Auftragseinbrüche, Klimaschutzauflagen. Für die Beschäftigten war 2020 ein extremes Jahr, sagt Michael Fischer. 2021 sieht er jedoch optimistisch. Fischer ist seit neun Jahren Betriebsratschef der Dillinger Hütte und Konzernbetriebsrat des Dillinger Saarstahl-Konzerns.
Herr Fischer, die Dillinger Hütte blickt auf ein desaströses Jahr 2020 zurück: die Auswirkungen einer Pandemie, Stellenabbau, ein Korruptionsverfahren. Wie ist derzeit die Stimmung der Belegschaft?
Die Stimmung ist von Unsicherheit geprägt, aber weniger wegen des Coronavirus’, vor allem wegen des Stellenabbaus. Schon im September 2019 kündigte die Unternehmensleitung an, 1.500 Stellen abzubauen und 1.000 outzusourcen. Die Kolleginnen und Kollegen, die zum Outsourcer sollen, sind bereits informiert. Aber seit Februar 2020 ist da nichts weiter passiert. Deshalb wissen sie nicht, wie es weitergeht.
Verdienen sie dort weniger Geld?
Nein, der Drittanbieter muss die Mitarbeiter mit Stundenlohn und Sozialleistungen laut §613a BGB übernehmen, zum Beispiel die knappschaftliche Zusatzversicherung, Krankenhaustagegeld, Betriebsvereinbarungen. Für diese Firmen ist es also problematisch, dann entsprechend günstige Angebote zu machen, da wir doch ganz gute Stundenlöhne zahlen.
Wo liegt denn dann der Vorteil?
Das konnte ich mir auch nicht erklären. Wir warten seit September 2019 noch auf Informationen darüber, dass dieser Schritt etwas einspart und dass er nachhaltig zum Erhalt aller anderen Arbeitsplätze beiträgt. So geht man nicht mit Menschen um.
Woran liegt es denn, dass die Belegschaft so lange auf konkrete Pläne warten muss?
Es liegt vielleicht daran, dass man sich mit den Zahlen zu weit aus dem Fenster gelehnt hat. Festgelegt war, dass die Stahlindustrie im Land 100 Millionen Euro Personalkosten einspart. Das Festlegen auf die 1.500 Arbeitsplätze und 1.000 Stellen Outsourcing war meiner Meinung nach ein Fehler. Wir glauben, es gibt noch viele Bereiche, in denen man Prozesse optimieren kann, hierzu gibt es auch Vorschläge der Arbeitnehmerschaft. Diese Vorgehensweise war schon im Gange, wurde dann aber durch einen neuen Strategiewechsel gestört.
Wo rührt denn der Spardruck konkret her?
Wir haben uns mit der Unternehmensführung darüber verständigt, dass gespart werden muss. Der Druck ist vor allem durch politische Entscheidungen geprägt: Die Reduzierung der CO2-Emissionen erfordert Investitionen. Zweitens die Strafzölle seitens der USA. Wir beliefern aktuell deswegen zwei amerikanische Rohrwerke nicht. Drittens die Entscheidung der USA, Unternehmen mit Sanktionen zu belegen, die mit dem Iran Geschäfte machen. Wir liefern unter anderem Grobbleche, die zu Rohren umgeformt werden, zum Beispiel für Öl- und Gas-Pipelines. Vom Iran aus sollte eine Pipeline nach Pakistan gebaut werden. Diesen Auftrag dürfen wir aufgrund der Sanktionen nicht annehmen.
Dillinger ist seit 2019 auch in ein Korruptionsverfahren verwickelt, indem es um Zuschläge für Bauvorhaben für das Unternehmen Hochtief geht, bei denen Geld geflossen sein soll. Wie denkt die Belegschaft darüber?
Das Verfahren ist schmerzlich. Betrachtet man den Prozess, scheint es so zu sein, dass man früher schon Bauvorhaben so vergeben hat, sodass nicht das Unternehmen Dillinger durch eine Fremdvergabe spart, sondern sich damit andere daran bereichern. Das ist eine bittere Erfahrung für einen Betriebsrat, der gerade in einem Stellenabbauverfahren steckt. Wenn das wirklich so sein sollte, wie sich der Prozess derzeit darstellt, wäre es auch eine bittere Pille für die gesamte saarländische Stahlindustrie. Schaden, der dem Unternehmen dabei entstanden ist, muss außerdem ersetzt werden. Das erwartet die Belegschaft.
Das Unternehmen benötigt auch Geld für den technischen Umbruch. Seit 2020 wird wasserstoffhaltiges Koksgas in den Dillinger Hochofen eingeblasen. Der erste Schritt in Richtung „grüner Stahl" ist gemacht. Wie viel kosten die restlichen Schritte?
Wir rechnen mit Einmal-Investitionen von bis zu drei Milliarden Euro alleine in der Stahlindustrie an der Saar. Die Salzgitter AG hat ebenfalls schon damit begonnen, allerdings in sehr kleinem Maßstab. Wenn wir unsere Ziele der CO2-Neutralität im Jahr 2050 erreichen wollen, müssen wir uns aber sputen. Das „Handlungskonzept Stahl" der Bundesregierung soll bis Ende März 2021 in eine gesetzliche Grundlage gegossen werden. Diese brauchen wir dringend, denn jeder Monat ohne entlastende Maßnahmen kostet uns Geld, das wir nicht mehr in grünen Stahl investieren können.
Technologische Erneuerung in einer Zeit, in der die Branche gegen Überkapazitäten und Dumping-Preise der internationalen Konkurrenz zum Beispiel aus Russland, Ukraine und der Türkei kämpft, wie soll das funktionieren?
Zum Thema Überkapazitäten muss ich sagen, wir müssen dies im Zusammenhang mit dem Verbrauch sehen. Deutschland stellt 40 Millionen Tonnen Stahl pro Jahr her und verbraucht 40 Millionen Tonnen. Jeweils die Hälfte davon wird im- beziehungsweise exportiert. Der deutsche Markt hat sich also konsolidiert. In der EU gibt es aber noch Überkapazitäten: Italien subventioniert beispielsweise das Stahlwerk Ilva, das zeitweise Straffreiheit bei Umweltverstößen genoss, während wir hier an der Saar die Umweltauflagen alle einhalten. Außerhalb der EU werden Brammen (Stahlblöcke, Anm. d. Red.) zum Beispiel in Russland hergestellt und in Italien zu Grobblechen gewalzt. Diese zu Dumping-Preisen verkauften Brammen werden von den EU-Abwehrmechanismen gegen Dumping gar nicht erfasst. Russland hat eigene Kohlevorkommen, niedrigere Umweltstandards und Sozialleistungen. Damit können und wollen wir nicht konkurrieren, denn wenn man dies zulässt, präsentiert man seine Werte auf dem Silbertablett. Und wir haben gesehen, dass im Krisenjahr die EU-Produktion von Stahl zwar gesunken, aber gleichzeitig die Importquote erhöht wurde. Ich vermute aus Gründen der Gewinnmaximierung wurde günstigerer Stahl eingekauft, ohne auf soziale oder Umweltstandards zu achten. Daher begrüße ich auch ausdrücklich das Lieferkettengesetz. Diese Dumping-Preise darf die EU nicht zulassen, da sind meine Kollegen von Thyssen-Krupp, Salzgitter, Arcelor-Mittal und ich einig: Die EU-Safeguards greifen im Falle von Grob-Blechen, die in Russland oder der Ukraine zu Dumping-Preisen hergestellt werden, nicht.
Salzgitter ist ein Partnerunternehmen von Dillinger. Kann Dillinger angesichts der finanziellen Herausforderungen auf die Dauer unabhängig bleiben?
Wenn die Kostenstruktur stimmt, schon. Wir haben eine Eigenkapitalquote von 60 Prozent, das ist die höchste der Stahlunternehmen in Deutschland. Diese Quote benötigen wir für unsere künftigen Investitionen, denn den technologischen Wandel soll der Steuerzahler ja nicht bezahlen. Wir wollen ja in den Klimaschutz investieren. Aber die Stahlunternehmen brauchen dabei Hilfe von außen, um die immensen Kosten der technologischen Umstellung einer ganzen Branche zu stemmen. Es geht nicht um einen neuen Hochofen, sondern um ein komplett neues Produktionsverfahren unter neuen Bedingungen. Des Weiteren sehe ich Synergien in der deutschen Stahlindustrie, zum Beispiel in der Forschung und Entwicklung von CO2-freien Anlagen.
Das laufende Jahr wird also wichtig für die finanzielle Entwicklung, wie sind die Aussichten?
Die Aussichten für 2021 sind verhalten positiv. Saarstahl ist in den ersten beiden Quartalen sehr gut ausgelastet, wir erwarten dort die Produktion von Rekordmengen. Aus Sicht von Dillinger erholt sich der Markt, die Auftragseingänge steigen langsam wieder an. Die Auslastung von Dillinger war schon immer 20 Prozent höher als der EU-Durchschnitt, und das werden wir wieder hinbekommen. 2020 war ein Reinfall, der totale Stopp der Automobilindustrie hat vor allem den Kolleginnen und Kollegen bei Saarstahl wehgetan. Kurze Zeit später liefen Aufträge aus dem Maschinenbau aus. Bei Dillinger verzeichneten wir ein halbes Jahr später die Auswirkungen, unter anderem auch, weil Zahlungsvorgänge von Kunden nicht weiterbearbeitet wurden. Mittlerweile aber haben sich die Kunden darauf eingestellt und auch wir. Die Industrie lernt, mit den Lockdowns umzugehen.
2021 übernimmt ein bekanntes Gesicht der Stahlindustrie den Chefposten bei Dillinger und Saarstahl: Karl-Ulrich Köhler hat Erfahrungen bei Tata Steel und Thyssen-Krupp gesammelt. Allerdings hat er bei letzteren auch Verantwortung für schwere Managementfehler übernommen. Wie groß ist Ihr Vertrauen in Karl-Ulrich Köhler?
Ich habe in meiner Laufbahn sieben Vorstandschefs erlebt. Jeder hat erst einmal einen Vertrauensvorschuss erhalten. Nun heißt es, man solle erst einmal 100 Tage abwarten, bis die Einarbeitungszeit vorbei ist. Das Problem ist, Karl-Ulrich Köhler hat diese 100 Tage nicht. Er steigt sofort ein und muss innerhalb kürzester Zeit Richtungsentscheidungen treffen, die die Stahlindustrie an der Saar weiterbringen. Und da heißt die Devise „klotzen, nicht kleckern". Köhler hat den Vorteil, dass er die Stahlindustrie kennt. Er hat in einem Stahlwerk angefangen zu arbeiten und sich dann ins Management hochgearbeitet.
Die fehlerhaften Entscheidungen, die in der Vergangenheit getroffen wurden, werden hier sicher nicht wiederholt. Aus solchen Entscheidungen lassen sich Erfahrungen ziehen, die wichtig sind. Wir sind froh, dass wir jemanden gefunden haben, der die Branche aus dem Effeff kennt.
Wird er trotzdem den angefangenen Stellenabbau weiterführen?
Darüber habe ich mit Karl-Ulrich Köhler noch nicht gesprochen. Wir hoffen, er hat ein offenes Ohr für die Vorschläge aus der Arbeitnehmerschaft. Personal ist ja auch schon abgebaut worden, aktuell sind über 700 Beschäftigte, überwiegend zeitlich befristete Verträge, nicht mehr im Unternehmen. Wir haben aber jetzt das Problem, dass wir bei anziehender Konjunktur nicht mehr genügend Fachkräfte haben, um die Produktion zu stemmen. Hier werden wir aber intern eine Lösung finden: Wir optimieren Prozesse, setzen Personal in weniger ausgelasteten Bereichen in ausgelasteten Bereichen ein. Das funktioniert bislang recht gut. Ziel bleibt aber das Einsparen von 100 Millionen Euro Personalkosten. Daran wird auch ein neuer Vorstandschef nichts ändern.