Neue Mutationen des Coronavirus lassen die Sorgen um eine stärkere Verbreitung steigen. Die Wissenschaft forscht mit Hochdruck. Dr. Linda Brunotte vom Institut für Virologie am Universitätsklinikum Münster über den Stand der Forschung, globale wissenschaftliche Kooperationen und notwendige Maßnahmen.
Frau Dr. Brunotte. Derzeit wird viel über Mutationen des Coronavirus diskutiert, deshalb die Frage: Was wissen wir inzwischen über das Virus und was noch nicht?
Wir haben tatsächlich einen sehr hohen Kenntnisstand. Als Erstes muss man feststellen, weil es da immer noch Nachfragen gibt: Es gibt das Virus wirklich und den Zusammenhang mit der Pandemie. Da kann man nicht mehr drum rum reden. Wir haben auch durch eine sehr gute Grundlagenforschung ein gutes molekularbiologisches Verständnis vom Virus. Wir können es detektieren, also durch verschiedene Tests schnell und verlässlich nachweisen. Wir kennen genau die genetische Sequenz des Virus und der Proteine und sind somit auch in der Lage, sehr schnell Mutationen zu detektieren und die Ausbreitung von neuen Virusvarianten nachzuverfolgen. Bisher kennen wir noch nicht alle Funktionen der einzelnen Proteine, diese Untersuchungen werden etwas Zeit brauchen, aber was wir an Erkenntnisgewinn innerhalb nur eines Jahres gewonnen haben, ist wirklich beispiellos. Wichtig ist auch, dass wir bereits gute Kenntnisse über die Immunantwort, die das Virus im Körper hervorruft, verfügen. Dennoch gibt es aber bisher nur wenig therapeutische Mittel, die in der Klinik angewendet werden können, das ist noch ein Problem. Aber die wichtigste Entwicklung ist, dass wir bereits nach nur einem Jahr hocheffektive Impfstoffe gegen Sars-CoV-2 haben. Die Entwicklung eines Impfstoffs in so kurzer Zeit war natürlich nur möglich, weil wir so ein präzises Vorwissen hatten durch eine extrem gute Grundlagenforschung über das Coronavirus, auch hier in Deutschland.
Sie haben jetzt erst einmal betont: Das Virus gibt es tatsächlich. Das machen Sie nicht ohne Grund.
Ja, ich bin manchmal doch überrascht, dass Menschen immer noch anzweifeln, dass es das Virus gibt.
Ihre Zunft und die Protagonisten sind in dieser Pandemie auch massiv unter Druck geraten, Herr Drosten soll Morddrohungen erhalten haben.
Herr Drosten ist ein auch international hoch angesehener Fachexperte in der Virologie, speziell zu Coronaviren, und er macht einen fantastischen Job für die Virologie, aber vor allem auch für die Gesellschaft. Da habe ich großen Respekt. Ich weiß, dass viele Menschen, die keinen virologisch-wissenschaftlichen Hintergrund haben, für diese Art der Aufklärung sehr dankbar sind. Aber ich denke, mit dem medialen Interesse bekommt man sicherlich auch viele negative Reaktionen. Die Botschaften und Informationen zur Pandemie, die die Wissenschaft vermittelt, sind natürlich auch nicht schön. Die Pandemie zwingt jeden Einzelnen in unserer Gesellschaft zu schmerzhaften und langwierigen Einschränkungen auch im privaten Bereich. Ich glaube die Notwendigkeit dazu ist oft schwer nachzuvollziehen und vor allem sehr schwierig durchzuhalten. Trotzdem gilt es zu verstehen: Don’t shoot the messenger! Als Wissenschaftler, speziell Virologen und Epidemiologen, können wir unsere Kenntnisse über Viren und die Dynamik ihrer Ausbreitung zur Verfügung stellen und über notwendige und sinnvolle Maßnahme zum Schutz der Gesellschaft informieren. Dabei verfolgen Wissenschaftler jedoch keine Eigeninteressen. Deshalb waren bestimmte Reaktionen schon erschreckend.
Dass Viren mutieren ist keine neue Erkenntnis. Was ist über aktuelle Mutationen bekannt?
Coronaviren sind eigentlich stabil, stabiler als Influenzaviren, trotzdem können sie mutieren. Viele Mutationen, die wir beobachten, treten jedoch nur in einzelnen Virusisolaten auf, in anderen aber wieder nicht mehr. Das sagt uns, dass diese Mutationen dem Virus keinen dauerhaften Vorteil bieten und nicht stabil übernommen werden. Bestimmte Mutationen vor allem im Spike-Protein, also dem Virus-Protein, das die Bindung an die Wirtszelle vermittelt, können aber eben doch wichtige biologische Auswirkungen haben. Sie können zum Beispiel die Bindung des Virus an die Wirtszelle beeinflussen und gegebenenfalls verbessern. Dadurch könnte sich dann der R-Wert, also die Anzahl an Personen, die von einer infizierten Person angesteckt werden, stark erhöhen. Die Frage ist: Was ist die Auswirkung einzelner Mutationen auf die Verteilung des Virus und die Erkrankung. Das kann derzeit noch nicht ganz und vollständig beantwortet werden. Es gibt aber doch einige Ergebnisse, die darauf hindeuten, dass einige Mutationen die Bindung stärkt.
Damit formulieren Sie wissenschaftlich zurückhaltend. In der Politik wird aber bereits damit argumentiert, dass die Mutation zu einer schnelleren Verbreitung führt.
Man muss das natürlich in Betracht ziehen und sich darauf einstellen. Man sieht das sozusagen in Echtzeit auch in England. Wir Wissenschaftler, das muss man immer wieder erklären, müssen natürlich aufwendige Versuche durchführen, um eine These zu bestätigen oder zu widerlegen. Das braucht auch Zeit. Deshalb haben wir nicht immer sofort Antworten und formulieren deshalb auch etwas vorsichtiger. Trotzdem sehen natürlich auch wir, wie schnell sich das mutierte Virus in England ausbreitet. Die Frage ist, ob das Gleiche in Deutschland passieren wird oder ob wir die Ausbreitung dieser Virusvariante aufhalten können.
Sie stehen da zwischen zwei Polen, wissenschaftlicher Gründlichkeit und dem Bedürfnis nach schnellen Antworten. Wie groß ist der Druck?
Natürlich ist es auch unser Anliegen, diese Fragen so schnell wie möglich und so zuverlässig wie möglich zu beantworten. Aber wir dürfen dabei die Wege der sicheren wissenschaftlichen Beweisführung nicht willkürlich abkürzen. Vorschnelle Antworten zu geben, wäre grob unwissenschaftlich. Die Zeit müssen wir uns einfach nehmen, um gesicherte Aussagen treffen zu können. Angesichts der Situation in England halte ich es jedoch für absolut richtig, dass die Politik die Ausbreitung dieser Virusvariante stoppen will.
Die Ungeduld der Menschen wächst aber mit jedem Tag in dieser Situation.
Deshalb muss der Dialog zwischen Wissenschaft, nicht nur der Virologie und Epidemiologie, und Öffentlichkeit auch permanent stattfinden. Da müssen wir immer wieder neue Wege finden, aufeinander zuzugehen und Verständnis zu entwickeln. Aber das muss auch von beiden Seiten kommen. Es sollte auch ein gewisses Vertrauen geben, dass es Fachleute in bestimmten Bereichen gibt, die sehr weitgehendes und detailliertes Grundwissen in ihrem Fachgebiet haben, das fachfremde Wissenschaftler und Nichtwissenschaftler nicht haben. Wenn das grundsätzlich angezweifelt wird und dazu noch Falschinformationen verbreitet werden, trägt das zu einer Verwirrung bei, die nicht zu vernachlässigen ist. Das könnte auch ein Grund dafür sein, dass einige Menschen sich nicht an die wirklich wichtigen und effektiven Schutzmaßnahmen wie das Masketragen, Abstandhalten und Kontaktreduzierung, die nachweisbar das Risiko der Virusübertragung reduzieren, halten.
Wie hat sich denn die Virologie in diesem einen Jahr verändert?
Es hat ein wahnsinnig intensiver und schneller wissenschaftlicher Austausch stattgefunden, auch auf internationaler Ebene. Das habe ich so in dieser Form noch nicht erlebt. Das war auch sehr konkurrenzlos. Es ging wirklich darum, Informationen zügig zu teilen, damit andere Wissenschaftler diese aufnehmen und in ihren Studien weiterführen. Dadurch konnte die Wissenschaft schnell Ergebnisse liefern, die wir so dringend brauchten. Es gab sehr viel mehr Vorveröffentlichungen (pre publishing) von Studien, das heißt ohne ordentliches Peer Review. Dennoch wurden diese Studien von der wissenschaftlichen Gemeinschaft sehr schnell qualitativ eingeordnet, sodass quasi ein offener Peer Review stattgefunden hat. Aber die Informationen waren eben schon einsehbar. Der übliche Weg einer Veröffentlichung über Peer Review dauert sehr viel länger, sogar bis zu einem Jahr. Und ich bin schon der Meinung, dass darauf nicht verzichtet werden sollte, aber in diesem Fall stand die schnelle Informationsweitergabe im Vordergrund.
Werden wir uns in Zukunft häufiger auf solche Entwicklungen einstellen müssen?
Das ist eine zentrale Frage in der Zoonosen-Forschung. Das betrifft Krankheitserreger, die vom Tier auf den Menschen übergehen, wodurch eine neue Evolutionsdynamik dieser Krankheitserreger beginnt. Da kann man schon kritisch sehen, dass sich der Mensch immer weiter ausbreitet, in neue Gefilde vordrängt und damit immer neue Schnittstellen zwischen Tieren und Menschen entstehen. Das geht einher mit einer Tendenz, dass wir, vielleicht aus wirtschaftlichen Gründen, häufig wenig respektvoll mit der Natur und dem gesamten ökologischen System umgehen. Was da in der Zukunft auf uns zukommt, können wir noch nicht absehen, aber es ist auf jeden Fall relevant für diese Thematik.
Eine intensiv diskutierte Frage, wenn es um Verbreitung geht: Sind bestimmte Gruppen wie Kinder und Jugendliche weniger, andere dafür besonders infektiös?
Ich tue mich schwer bei der Notwendigkeit, die Frage nach dem ‚besonders infektiös‘ oder den Treibern der Pandemie zu beantworten, besonders bei Kindern. Die Datenlage hierzu ist auch für Wissenschaftler nicht einfach zu verstehen. Klar ist jedoch, auch Kinder und Jugendliche sind Teil der Pandemie. Sie können infiziert werden und geben das Virus auch weiter. Hier müssen Maßnahmen also auch ansetzen. Damit ist die Frage für mich eigentlich beantwortet. Wie schwierig es sich für Eltern gestaltet, wenn Schulen und Kindergärten nicht normal verfügbar sind, ist nachvollziehbar, und ich wünsche mir hier dringend bessere und intelligentere Konzepte von der Politik.
Wir kennen die Bilder des Virus zur Genüge. Sie können sich dieses Virus direkt ansehen mithilfe eines Elektronenmikroskops. Was empfinden Sie dabei, wenn Sie gleichzeitig wissen, dass dieses Virus gerade die ganze Welt lahmlegt?
Also erst mal denke ich: Dieses Virus gibt es (lacht).
Und das fasziniert Sie?
Deshalb bin ich Virologin geworden. Viren sind richtige kleine Wundermaschinen. Jedes Virus hat eine eigene Virusbiologie und einen völlig individuellen Weg gefunden, eine Zelle zu infizieren und das eigene Genom zu vervielfältigen und dabei noch dem Immunsystem eines Wirtes aus dem Weg zu gehen. Das sind so fantastische Mechanismen, die oft die Grundlagen der klassischen Biologie auf den Kopf stellen. Das ist sehr ausgeklügelt. Im Fall von Sars-CoV-2 hat sich das Virus mit dem Menschen einen Wirt ausgesucht, bei dem das Immunsystem, bis auf eine geringe Kreuzreaktivität mit anderen Coronaviren, nicht darauf vorbereitet war, also „naiv" ist. Auch die Übertragungsroute ist clever gewählt, weil natürlich die Übertragung durch Aerosole wahnsinnig gut funktioniert. Wir Menschen leben auf engem Raum zusammen. Wir müssen atmen, wir kommunizieren maßgeblich über Sprache miteinander, wir leben eng in geschlossenen Räumen zusammen. Das ist der perfekte Übertragungsweg und definitiv ein Grund für die hochdynamische Ausbreitung des Virus. Das gehört übrigens auch zu den Dingen, die wir über das Virus wissen: Wir kennen genau den Übertragungsweg. Es wird über den Respirationstrakt übertragen – und Mund-Nasen-Masken reduzieren die Verteilung von Viren und somit das Infektionsrisiko! Das muss ich vielleicht doch noch einmal klar sagen.
Warum hat man sich dann in Deutschland so schwer damit getan? In anderen Ländern gilt schon lange Maskenpflicht im gesamten öffentlichen Raum.
Ich kann nur sagen: Vom wissenschaftlichen Standpunkt aus war relativ schnell klar, dass Masken eine adäquate Schutzmaßnahme sind und helfen, das Infektionsrisiko zu reduzieren. Es stimmt aber auch, dass Masken als alleinige Maßnahme lange nicht ausreichen. Erst die Kombination aus Masken, Abstand und Kontaktreduzierung kann das Infektionsrisiko wirkungsvoll verringern. Bezüglich der konsequenten Anwendung dieser Maßnahmen sollte sich jeder Einzelne von uns, auch ich, immer wieder kritisch selbst überprüfen. Ich bin überzeugt, das geht noch besser.
Wie lange werden wir jetzt mit dieser Entwicklung noch leben müssen? Wie raffiniert wird dieses Virus noch?
Das ist eine Frage, bei der auch Wissenschaftler nur spekulieren können. Wichtig ist hier zu verstehen, dass wir es letztlich selber in der Hand haben, wie schnell wir hier rauskommen. Je konsequenter wir uns alle an die Maßnahmen wie Maske tragen, Abstand halten und Kontaktreduzierung halten, desto schneller werden die Infektionszahlen runtergehen, Todeszahlen sinken, und wir können zu einem möglichst normalen Leben zurückkehren. Dazu kommt, wir haben jetzt einen Impfstoff. Da kommt es darauf an, wie schnell der verteilt werden kann und dass sich möglichst viele impfen lassen. Aber es bleibt eine schwierige Frage. Meine persönliche Meinung ist: Wir haben noch eine ganze Weile mit dem Virus zu tun.
Ist denn vorstellbar, dass sich das Virus mit Mutation sozusagen gegen das Impfen zur Wehr setzt?
Die Sorge besteht natürlich und ist berechtigt. Es kann sein, dass es durch die Impfung jetzt einen Evolutionsdruck auf das Virus gibt. Wir nennen das „immune escape", also immun-ausweichende Mutation. Dass so was zu einem gewissen Ausmaß passiert, ist sogar wahrscheinlich. Gut ist, dass wir wissen, dass der Impfstoff nicht nur eine Art von Antikörpern gegen das Virus im Körper produziert, gegen die sich das Virus schützen könnte, sondern viele verschiedene. Dadurch ist es für das Virus viel schwieriger, dieser Immunantwort zu entgehen. Es ist unwahrscheinlich, dass dafür eine einzelne Mutation ausreicht. Mit den mRNA-basierten Impfstoffen ergeben sich zusätzlich bessere technische Möglichkeiten, Impfstoffe schneller an Mutationen anzupassen. Das sind tolle Fortschritte. Derzeit können wir aber mit Sicherheit sagen, dass die Impfstoffe einen guten Schutz bieten und der Impfstoff nicht angepasst werden muss. Aber das muss beobachtet werden.
Über Arbeitsmangel werden Sie nicht klagen müssen.
Ich glaube nicht (lacht). Es ist eine sehr Energie zehrende Arbeit. Aber es ist auch extrem spannend, denn Sars-CoV-2 ist ein sehr kompliziertes, sehr spannendes Virus.
Und wer sagt dem Virus, es solle mal eine Pause einlegen?
Das ist eine Schwierigkeit. Das Virus interessiert sich natürlich überhaupt nicht dafür, wie wir uns fühlen. Es macht einfach weiter. Es nimmt keine Rücksicht darauf, wie es unserer Wirtschaft geht, ob wir langsam müde werden ob der ganzen Maßnahmen und der ganzen Diskussionen und Abwägungen, die wir gerne führen möchten. Wir haben nicht die Zeit, uns auszuruhen, und müssen einfach weiter daran arbeiten, dass die Infektionszahlen runtergehen. Das geht leider nur durch Maßnahmen wie den Lockdown und hängt direkt von unserer eigenen Konsequenz beim Anwenden der Maßnahmen ab. Das macht keinen Spaß, aber wir müssen wieder die Kontrolle bekommen, Infektionsketten nachverfolgen können. und wir müssen wieder einen Vorsprung bekommen.