Holprig war der Start auf dem Pfad zurück in ein Stück mehr Freiheit. Es wird noch ein steiniger Weg, bis so viele Menschen geimpft sind, dass die Pandemie wieder im Griff ist. Prof. Sören Becker, Leiter des Instituts für Medizinische Mikrobiologie und Hygiene am Universitätsklinikum des Saarlandes in Homburg, über Impfstrategie, Wirkung und offene Fragen.
Herr Professor Becker, das Virus ist unter uns, und wir müssen wohl oder übel mit ihm leben lernen trotz Impfung. Lässt sich so eine Pandemie überhaupt besiegen, oder sollten wir nicht besser von einer kontrollierten Eindämmung sprechen?
Es wäre sicherlich ein falsches Versprechen, wenn wir sagen, dass das Virus verschwindet, selbst wenn der größte Teil der Menschen geimpft wäre. Es wird wie andere Viren auch weiter in der Natur zirkulieren, aber aus humanmedizinischer Sicht ganz deutlich seinen
Schrecken verlieren.
In der Öffentlichkeit wird vielfach über die sogenannte Herdenimmunität gesprochen. Wie viel Prozent der Bevölkerung müssen geimpft sein, um sie zu erreichen? Und wie lange könnte es dauern?
Vielfach hört man Zahlen von Fachleuten zwischen 60 und 70 Prozent. 80 Prozent wären aus meiner Sicht optimal, um eine Herdenimmunität zu erreichen. Schon 20 bis 30 Prozent sollten allerdings durchaus einen Effekt auf die Pandemie zeigen. Auch wenn Prognosen aufgrund der so dynamischen Impfstoffentwicklung schwierig sind, so vermute ich, dass wir im Frühsommer rund 20 Prozent der Bevölkerung hierzulande geimpft haben und sich ein Effekt durch weniger Neuinfektionen und insbesondere weniger schwere Verläufe einstellt.
Wann eine Herdenimmunität durch Impfung erreicht wird, hängt stark von der Verfügbarkeit von Impfstoffen und von der Impfbereitschaft der Menschen ab. Zurzeit scheint die Bereitschaft, sich gegen Covid-19 impfen zu lassen, relativ hoch zu sein. Das liegt sicherlich an der Aufklärungsarbeit und am Wunsch vieler, zur Normalität zurückkehren zu wollen. Allerdings könnte die Bereitschaft im Sommer wieder abnehmen, wenn die Pandemie eingedämmt wird und die Gefahren nicht mehr so augenscheinlich sind.
Die Impfung scheint die einzige Exit-Strategie zu sein. Kritiker sagen, dass die erstmalig eingesetzten mRNA-Impfstoffe wie von Biontech/Pfizer in die Genetik des Menschen eingreifen. Was ist dran an dieser Behauptung?
Es gibt drei große Gruppen von Impfstoffen. Die Lebend-Impfstoffe, wie sie bei Masern oder Gelbfieber eingesetzt werden. Die zweite Gruppe sind die Totimpfstoffe oder inaktivierten Impfstoffe, wie sie zum Beispiel bei Hepatitis B zum Einsatz kommen. Dem Menschen wird dabei nur ein Bestandteil eines Virus injiziert. Bei beiden Gruppen entwickelt das Immunsystem eigene Antikörper. Bei der dritten Gruppe sprechen wir von den genbasierten Impfstoffen, an denen bereits lange geforscht wird, die aber erst jetzt beim Menschen eingesetzt werden. Wir unterscheiden nochmals zwischen den mRNA-Impfstoffen wie bei Biontech/Pfizer und den vektorbasierten Impfstoffen wie bei Astra Zeneca. Bei mRNA erhält der Körper quasi eine Bauanleitung eines Proteins des Virus, welches er an der Injektionsstelle aufbaut und gegen welches anschließend das Immunsystem eine schützende Immunantwort entwickelt. Diese mRNA-Bauanleitung kann nicht wie von Kritikern behauptet in DNA umgewandelt werden, sprich in die menschliche Genetik eindringen. Das ist biologisch unmöglich, es kommt also zu keiner Veränderung des Erbguts. Auch können mRNA-Impfstoffe nicht die Erkrankung selbst auslösen, da sie nur die Bauanleitung für einen kleinen Teil des Virus enthalten. Bei vektorbasierten Impfstoffen nimmt man vereinfacht ausgedrückt ein anderes Virus und baut die gewünschten Antigen-Informationen ein, sodass der menschliche Körper ebenfalls einen eigenen Schutz aufbaut. Die genbasierten Impfstoffe haben den großen Vorteil gegenüber den anderen beiden Gruppen, dass sie schneller zu verändern und in großen Mengen rasch herzustellen sind.
Nach knapp einem Jahr kamen die ersten Impfstoffe auf den Markt, ob nun Notzulassung oder bedingte Marktzulassung. Das dauert sonst Jahre. Wieso ging die Zulassung so schnell?
Das war in der Tat rekordverdächtig. Dafür gibt es mehrere Gründe. An gentechnischen Impfstoffen wird bereits 15 bis 20 Jahre geforscht. Daran konnte jetzt angeknüpft werden. Ein weiterer Grund ist die Tatsache, dass Wissenschaft, Industrie und regulatorische Behörden schon aufgrund der gebotenen Eile an einem Strang gezogen und intensiv zusammengearbeitet haben. Viele Arbeitsschritte liefen pa-
rallel und nicht hintereinander, wie sonst üblich bei Zulassungsverfahren. So wurden beispielsweise jede Woche Daten abgeglichen und bereits durch die Zulassungsbehörden gesichtet. Nicht zu vergessen ist sicherlich auch, dass die Staaten der Erde viel Geld in die Entwicklung der Impfstoffe gesteckt haben und die Forschung hieran eine sehr hohe Priorität hatte.
Es muss aber betont werden, dass Qualität und Wirksamkeit trotz der schnellen Zulassungen nicht gelitten haben. Alle drei Phasen der klinischen Prüfung, die vor einer Marktzulassung durchzuführen sind, wurden absolut ordnungsgemäß absolviert. Gerade auch die dritte Phase, in der der Impfstoff bei einer großen Anzahl von Personen getestet wird und neben dem Wirksamkeitsnachweis auch etwaige Nebenwirkungen ganz besonders dokumentiert werden, wurde sorgfältig realisiert. Zudem wurden zum Beispiel bei der Biontech/Pfizer-Studie mehr als 40.000 Probanden eingeschlossen, was zahlenmäßig eher mehr ist als bei früheren Impfstoffzulassungen.
Warum muss man sich gegen die Influenza jedes Jahr neu impfen lassen, während bei Covid-19 zwei Impfungen ausreichen sollen, um eine Immunität zumindest für mehrere Jahre zu erlangen?
Influenza-Viren sind biologisch anders aufgebaut und verfügen über ein anderes Erbgut. Die Variabilität ist sehr hoch. Im Gegensatz dazu gibt es auch Viren, gegen die man bei einer Impfung eine Immunität für ein Leben lang entwickeln kann. Wie wir ja gerade in diesen Tagen in den Medien hören, kann es natürlich auch bei Sars-CoV-2 zu Mutationen kommen, aber die Mechanismen sind andere als zum Beispiel bei Influenza. Viren haben generell die Eigenschaft, sich ihrem neuen Wirt anzupassen, zum Beispiel wenn sie vom Tier auf den Menschen übergehen. Am Anfang sind die Viren in der Regel schlecht an den Menschen adaptiert, dies ändert sich im Laufe der Zeit, und zumeist nimmt das krankmachende Potenzial für den Menschen dann ab. Dieser Anpassungsprozess dauert allerdings viele Jahre.
Über die Langzeit-Immunität bei Covid-19 liegen aufgrund der kurzen Zeit noch keine verlässlichen Studienergebnisse vor. In den nächsten Jahren werden wir aber sicherlich belastbare Daten und Auswertungen bekommen. Eine Grundimmunisierung wird aber mit der Impfung erreicht werden, und diese wird einen sehr deutlichen Effekt auf die Pandemie haben, unabhängig von der Frage, ob vielleicht nach ein paar Jahren eine Auffrischungsimpfung erforderlich ist.
Wieso sind zwei Impfungen im Abstand von etwa drei bis vier Wochen nötig? Es wird bereits darüber geredet, die Abstände zu vergrößern, um mehr Menschen mit der ersten Dosis zu impfen.
Mit der zweiten Impfung soll der Impfschutz beim Menschen weiter verbessert und vervollständigt werden. Die von der EMA in der EU zugelassenen Impfstoffe gegen Covid-19 schreiben zwei Impfungen vor, sie sind so zugelassen, und daran sollten wir uns halten, da auch in Studien dieses Verabreichungsschema untersucht wurde.
Aus epidemiologischer Sicht ist die Diskussion über einen größeren Abstand zwischen zwei Impfungen verständlich, wenn dadurch mehr Menschen geimpft werden könnten, wenn auch mit einem zunächst unvollständigen Impfschutz. Allerdings fehlen auch hier die Daten, wie sich zum Beispiel eine Vergrößerung des Abstandes zwischen den zwei Impfungen von drei Wochen auf drei Monate auf den Immunschutz auswirkt.
Sechs oder sieben Impfstoffe könnten in diesem Jahr in der EU zugelassen werden. Können sich die Impfwilligen den Impfstoff dann aussuchen?
Zurzeit ist das nicht vorgesehen. Wenn im Sommer oder Herbst genügend Impfstoffe zur Verfügung stehen, die Hausärzte impfen können, und somit allen Impfwilligen eine Impfung angeboten werden kann, ist das eventuell denkbar. Ich gehe davon aus, dass die meisten Menschen das nicht für so wesentlich erachten. Im Übrigen ist es gut, wenn mehrere Produzenten auf dem Markt sind, allein schon um Abhängigkeiten und Engpässe zu vermeiden.
Sollten sich Menschen, die bereits an Corona erkrankt waren und als genesen gelten, ebenfalls impfen lassen?
Die Ständige Impfkommission (STIKO) sagt, dass genesene Corona-Patienten in der ersten Impfkampagne nicht geimpft werden brauchen. Wie lange der Immunschutz nach durchgemachter Infektion anhält, kann Stand heute nicht genau gesagt werden. Es gibt ja Berichte, dass die Antikörper-Spiegel schon wenige Monate nach Infektion bei einigen Personen deutlich abfallen, das ist aber nicht zwingend gleichbedeutend mit einer nachlassenden Immunität, da es noch andere schützende Immunmechanismen gibt.
Warum werden Kinder und Jugendliche unter 16 Jahren derzeit nicht geimpft?
Sie wurden in den vorliegenden klinischen Studien nicht berücksichtigt. Das bedeutet im Umkehrschluss aber nicht, dass eine Impfung bei ihnen weniger wirksam wäre, man kann dies einfach aktuell noch nicht abschließend bewerten. Wahrscheinlich werden wir hierzu in den kommenden Monaten mehr Daten haben – gleiches gilt für Schwangere und stillende Frauen.
Es gibt wie bei allen anderen Impfungen Nebenwirkungen. Die meisten dürften erfahrungsgemäß harmlos verlaufen. Wie verfährt man mit schweren Komplikationen?
Neben den üblichen harmlosen Nebenwirkungen wie Rötung an der Einstichstelle, lokalen Schmerzen, leichtem Fieber oder Müdigkeit kann es wie bei allen Impfungen zu allergischen Reaktionen kommen. Alle Ärzte und anderes Fachpersonal, die impfen dürfen, sind auf solche zugegebenermaßen extrem seltenen Fälle vorbereitet.
Über schwere Nebenwirkungen, die zu einer dauerhaften Schädigung führen, wurde bisher in keiner Studie berichtet, dieses Risiko ist also extrem gering. Hingegen ist das Risiko, selbst an Covid-19 zu erkranken und hiervon eine bleibende Schädigung zu erleiden, durchaus real. Wir haben in unserer Klinik auch viele junge Menschen gesehen, die nach einer Infektion zum Beispiel bleibende Konzentrationsstörungen oder einen lange anhaltenden Geschmacks- und Geruchsverlust aufwiesen. In der Summe ist das Risiko einer dauerhaften Einschränkung nach Infektion also sicher um ein Vielfaches höher als das theoretische Risiko einer seltenen Nebenwirkung, sodass ich nachdrücklich zu einer Impfung rate.
Es ist ein individueller Schutz, ein Schutz für andere, vor allem für vulnerable Personen, und nicht zuletzt die Möglichkeit, zum normalen Leben zurückzukehren.
Gibt es Fortschritte bei der Entwicklung von Medikamenten gegen das tödliche Virus?
Leider sind auf diesem Gebiet nach anfänglicher Euphorie keine bahnbrechenden Erfolge vorzuweisen, die meisten Substanzen erzielten in klinischen Studien keine überzeugenden Ergebnisse. Hier wird jedoch weiter geforscht, dies wird sich vielleicht in den nächsten Monaten ändern. Die Impfung ist und bleibt aktuell der beste Schutz gegen das Virus.