Sich freiwillig impfen lassen – das schien in der Bundesrepublik lange kein Problem zu sein. Der Pikser gehörte dazu. Heute brechen alte Diskussionen wieder auf. Soll, darf, muss man im Interesse der Allgemeinheit auch die Nichtwilligen impfen?
Ich weiß noch, wie wir damals als Schulkinder in Reih und Glied aufmarschiert sind, als der Impfwagen kam. „Schluckimpfung ist süß – Kinderlähmung ist grausam" hieß es, und alle steckten sich den mit geschwächten Polio-Viren getränkten Zuckerwürfel in den Mund. Das war zu Beginn der 1960er-Jahre. Ich kann mich nicht erinnern, dass damals die Frage, was eigentlich wichtiger ist, das Allgemeinwohl oder das Selbstbestimmungsrecht über seinen Körper, jemanden wirklich bewegt hätte. Schon gar nicht meine Eltern oder die Lehrer. Dabei waren die Impfgegner schon bei der ersten reichsweiten Impfpflicht im Jahre 1874 gegen die Pocken aktiv. Sie stellten dieselbe Frage, die heute auch diskutiert wird: Darf der Einzelne zum Wohl der Allgemeinheit gezwungen werden?
Eine Impfpflicht ist rechtlich möglich
Während der Weimarer Republik gründete sich ein Reichsverband zur Bekämpfung der Impfungen mit über 300.000 Mitgliedern. Ausgerechnet die Nazis lockerten in den 1930er-Jahren den Impfzwang und setzten gegen die sich ausbreitende Diphtherie auf freiwillige Impfungen. Nach dem Zweiten Weltkrieg führte die DDR 1953 den Impfzwang wieder ein, er galt für alle Mittel gegen Kinderkrankheiten. In der BRD waren zunächst die Bundesländer für Impfungen verantwortlich, das ist bis heute so geblieben. So gab es in Baden-Württemberg von 1946 bis 1954 auch eine Impfpflicht gegen Diphtherie und Scharlach. Allgemein bestand nur eine Impfpflicht in der Bundesrepublik: die gegen die fast verschwundenen Pocken, immer noch auf Grundlage des Reichsimpfgesetzes von 1874. Sie galt bis 1983. Die Polio-Impfung war freiwillig. Ende der 1950er-Jahre breitete sich die Kinderlähmung im Westen stark aus, während sie in der DDR, die mit einem sowjetischen Impfstoff arbeitete, nahezu verschwunden war. Erst als die Bundesregierung 1962 mit einer massiven Werbekampagne über Rundfunk, Fernsehen und auf Plakatwänden reagierte, sank die Zahl der Infizierten wieder.
Heute lässt sich über das 2001 verabschiedete Infektionsschutzgesetz durch einfache Rechtsverordnung ein Impfzwang wieder einführen, wenn „eine übertragbare Krankheit mit klinisch schweren Verlaufsformen auftritt und mit ihrer epidemischen Verbreitung zu rechnen ist. Das Grundrecht der körperlichen Unversehrtheit (Artikel 2 Abs. 2 Satz 1 Grundgesetz) kann insoweit eingeschränkt werden." Darauf berufen sich diejenigen Politiker, die für eine Impfpflicht eintreten. Aber niemand traute sich bislang, sie offen einzuführen. Eher durch eine Hintertür kam sie dann doch: Seit November 2019 müssen Kinder und Personal in allen Gemeinschafts- und Gesundheitseinrichtungen – also Kitas und Schulen – gegen Masern geimpft sein. Beim Bundesverfassungsgericht ist eine Klage dagegen anhängig.
Covid-19 hat die Diskussion über den Impfzwang erneut angestoßen. Markus Söder, der bayerische Ministerpräsident, hat gefordert, dass sich alle Pflegekräfte, die mit Corona-Patienten zu tun haben, impfen lassen müssen. Doch hilft Zwang wirklich? Der Historiker Malte Thießen, der sich mit dem Thema aus historischer Sicht beschäftigt, zieht aus seinen Untersuchungen das Fazit: Aufklärung, Appelle und Überzeugungsarbeit bringen höhere Impfquoten als Zwang. „Die Diphtherieschutzimpfung wurde als freiwillige Impfung eingeführt und hatte erstaunlicherweise sehr viel höhere Impfquoten zur Folge als die Pflichtimpfung gegen Pocken", sagte er dem Deutschlandfunk. Das habe an der modernen Aufklärungsarbeit, aber auch an den Appellen zur Eigenverantwortung gelegen.
Tief erschüttertes Lebensgefühl
Seiner Ansicht nach weckt Zwang immer nur Angst – vor übermächtigen Pharmakonzernen, die die Menschheit vergiften wollen, vor dem Staat, der die Bürger gefügig machen will, vor der Verletzung der eigenen Grundrechte. Was Impfgegner gegen Zwangsimpfungen heute vorbringen, hat es schon vor 150 Jahren gegeben: der Verweis auf die natürlichen Abwehrkräfte des Körpers, die Homöopathie gegen die Schulmedizin, die Verschwörungstheorien.
Noch einmal ein Blick in die Vergangenheit: Wer sich an die 60er- bis 80er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts zurückerinnert, wird bestätigen können, dass kaum jemand um das Impfen viel Aufhebens machte. Infektionskrankheiten waren etwas, das man im Griff hatte. Impfen gehörte dazu. Immunität wurde zu einem „Lebensgefühl" (Thießen). Auch die heute fast vergessene Hongkong-Grippe-Epidemie 1969/1970 mit mehr als 40.000 Toten änderte daran nichts: Man half sich mit Wadenwickeln, legte sich zum Schwitzen ins Bett und beruhigte sich damit, dass es halt die Alten und Vorerkrankten trifft (wenigstens das ist heute anders). Angst löste die Grippe nicht aus.
Anders das Coronavirus. Es hat dieses Lebensgefühl zutiefst erschüttert. Ein Impfzwang würde in dieser Situation nicht beruhigend wirken, sondern noch mehr Widerspruch auslösen als ohnehin schon vorhanden ist. Hilft nur überzeugen, aufklären und positive Signale setzen. Ohne Vertrauen wird es nicht gehen.