Schulen müssen sich weiter auf ständig neue Regeln einstellen. Entsprechend intensiv und teilweise unübersichtlich verlaufen die Diskussionen. Die saarländische Bildungsministerin Christine Streichert-Clivot (SPD) über Belastungen, Perspektiven der Schulen und den Umgangston in der Debatte.
Frau Streichert-Clivot, welche zentralen Erfahrungen hat das knappe Jahr der Pandemie danach für die Bildungspolitik gebracht?
Wir haben bereits durch den ersten Lockdown mit den Schulschließungen und die dann schrittweise Öffnung mit erheblichen Problemen und Verwerfungen an Schulen zu tun. Wir verzeichnen eine Leistungsspreizung. Bei denen, die immer schon Herausforderungen hatten, haben sich die noch verstärkt. Wir können aber auch verzeichnen, dass Kinder profitiert haben, weil sie durch Wechselunterricht und kleinere Gruppen eine bessere Lernsituation hatten. Insgesamt ist der ständige Wechsel, das Auf und Ab auch der gesellschaftlichen Regelungen, für Kinder und Jugendliche eine sehr große Herausforderung, die auch mit psychischen Belastungen einhergeht.
Wirkt sich das auch im sozialen Zusammenhang aus?
Absolut. Wir haben gerade an Grundschulen feststellen müssen, dass sich bei Kindern, die die Kita nicht mehr besuchen konnten, wenn sie dann mit der schulischen Realität konfrontiert waren, oft auch Verhaltensauffälligkeiten ergeben haben. Damit hatten und haben Grundschullehrkräfte alle Hände voll zu tun. Das zeigt aber auch, wie wichtig es ist, dass Kinder in die Kita gehen können. Gerade beim Übergang in die Grundschule findet dort sehr viel Bildungsarbeit statt. Nicht alle Elternhäuser können das auffangen. Schulen und Kitas haben immer eine besondere Bedeutung. Das ist auch der Grund, warum ich für eine weitere Öffnung von Kitas und Schulen kämpfe. Wir mussten auch feststellen, dass wir in dieser Zeit Kinder und Jugendliche verloren haben, dass weder Kinder noch Eltern reagiert haben, wenn Lehrkräfte versucht haben, Kontakt aufzunehmen. Auch wenn sie digitale Angebote machen, müssen sie sich darauf verlassen können, dass die Zusammenarbeit zu Hause auch mit den Eltern funktioniert. Es gab aber auch positive Aspekte: Es hat einen digitalen Schub gegeben, die digitalen Möglichkeiten sind von den Schulen viel besser genutzt worden. Da hat sich der unmittelbare Kontakt zu Eltern, die kooperationswillig sind, enorm verbessert. Davon können wir auch in Zukunft weiter profitieren.
Ihre Haltung beim Thema Schulschließungen oder eben nicht wird schon mal als ideologisch kritisiert. Wie gehen Sie damit um?
Ich verteidige das Recht auf Bildung bei unseren Kindern und Jugendlichen. Das ist kein ideologischer Umgang mit dem Thema. Wir haben schon vor der Pandemie feststellen müssen, dass Kinder und Jugendliche in vielen Bereichen keine Lobby haben. Deswegen diskutiert der Bundestag über die Aufnahme von Kinderrechten in die Verfassung. Das Recht auf Bildung ist für Kinder und Jugendliche die Eintrittskarte in ein selbstbestimmtes Leben. Wenn ich Schulen nicht schließe – und für mich sind auch Wechselmodelle Schließungen für einen Teil der Schülerinnen und Schüler – mag mancher das als ideologisch ansehen. Für mich geht es um ein Grundrecht, das man auch in der Corona-Krise so weit wie möglich wahrnehmen können muss.
Warum hat man sich dabei so schwergetan, die Maskenpflicht an Schulen einzuführen?
Inzwischen haben wir ja die Maskenpflicht für alle Schülerinnen und Schüler eingeführt. Wir haben uns lange schwer getan, weil der Lernprozess sehr stark damit zusammenhängt, dass ich das Gesicht wahrnehmen kann. Das haben wir auch sehr intensiv in der Kultusministerkonferenz diskutiert. Man muss sehen: Kinder tragen die Maske in der Schule viel länger als Erwachsene in ihrem beruflichen Alltag. Das ist eine Belastung, und man muss es auch immer wieder hinterfragen.
Zur jüngsten Debatte um Zeugnisse und Abschlüsse gibt es auch Forderungen, nur einfach die Besonderheit des Corona-Jahres zu bescheinigen. Warum überzeugt Sie das nicht?
Damit hätten Sie keinem Schüler geholfen. Das eine ist das Formale, das Papier, auf dem was drauf steht. Aber da steht ja auch was dahinter. Ich kenne kein Kind, das nichts lernen will. Und Jugendliche wollen etwas daraus machen. Wenn wir sagen, es ist Pandemie und da ist das mit den Zeugnissen egal, dann sagen wir als Nächstes, es ist auch egal, wann wir die Schulen wieder öffnen. Das klingt im ersten Moment so, als würden wir den Schülerinnen und Schülern einen Gefallen tun. Ich glaube aber, dass wir die Schülerinnen und Schüler begleiten müssen, einen Abschluss machen zu können und sicherlich dabei die Umstände berücksichtigen. Ich möchte vermeiden, dass etwas entsteht, was ihnen vielleicht später auf dem Arbeitsmarkt oder im Studium Nachteile verschafft. Sie dürfen nicht den Stempel „Corona-Jahrgang" oder sogar „Corona-Jahrgänge" aufgedrückt bekommen. Ich finde es richtig, wenn man in der Nachbetrachtung sagen kann: Der Staat hat es ihnen trotzdem ermöglicht, etwas zu lernen und weiter zu kommen, statt zu sagen, im Grunde hat der Staat vor der Pandemie kapituliert. Das darf unserer Gesellschaft nicht passieren.
Vieles, was Sie jetzt ausgeführt haben, ist eher Sozial- als klassische Bildungspolitik.
Bildungspolitik ist immer auch Sozialpolitik. Beides muss unter dem Dach der Schule zusammengeführt werden. Sie sprechen zwei Richtungen an. Die eine, die sagt, wir müssen den Kindern die Möglichkeit geben, den Lernstoff nachzuholen. Das ist die Perspektive Schule als Ort der Wissensvermittlung. Meine Perspektive geht weiter: Schule ist auch ein sozialer Lebensort für Kinder und Jugendliche. Und der gewinnt sogar an Bedeutung, wenn wir das ganze übrige Leben, Vereine, Ehrenamt, Kultur lahmlegen. Natürlich ist es für den Aspekt der Wissensvermittlung ganz wichtig, beispielsweise Förderangebote zu machen, wenn Schulen wieder für alle geöffnet sind. Das müssen wir langfristig aufbauen. Da hilft der Vorschlag, die Fastnachtferien zu nutzen, wenn Fastnacht schon ausfällt, nicht weiter. Und wir müssen die sozial-emotionale Herausforderung neu annehmen. Wir haben den Bereich Schulsozialarbeit im letzten Jahr neu aufgestellt, das gewinnt jetzt zusätzlich an Bedeutung. Es hilft vergleichsweise wenig, wenn ich weiß, dass ein Kind in einem Fach Nachholbedarf hat, gleichzeitig aber sehe, dass es extreme Belastungen zu Hause gibt, weil Eltern in der Pandemie etwa den Arbeitsplatz verloren haben. Wir brauchen noch viel mehr individuelle Unterstützungsangebote an und um Schulen, gerade wenn wir in anderen gesellschaftlichen Bereichen noch mit der Pandemie-Bekämpfung zu tun haben.
Wie kriegt man diese ganze Palette von der Digitalisierung bis zu den beschriebenen Herausforderungen zusammen?
Wir sind da als Ministerium nicht alleine unterwegs, sondern stützen uns auf ganz viele Partner und haben in der Pandemie noch mal neue Bündnisse aufgebaut. Da sind einerseits die Schulträger. Wir haben in den Landkreisen aber auch die Jugendhilfe, die für uns noch wichtiger wird, auch der Bereich der Familienhilfe. Die Bürgermeister sind wichtige Ansprechpartner, weil die
Gemeinden außerhalb der Schule Angebote machen. Und gerade auch Kinder- und Jugendärzte sind in dieser Zeit ganz wichtige Ansprechpartner. Und natürlich sind die Sozialverbände wichtig, weil die uns sagen können, wie die Situation in den Familien ist in diesen Zeiten.
Schule ist nicht Schule, trotzdem die allgemeine Frage: Wie wird Schule nach Corona aussehen?
Sie wird sich grundsätzlich verändern. Im Fokus der Öffentlichkeit ist sehr stark der Bereich Digitalisierung. Aber nicht nur in diesem Bereich haben wir große Fortschritte gemacht. Schule verändert auch den Zugang zu Familien, Kindern und Jugendlichen sehr stark. Da schärfen wir die Instrumente in der aktuellen Situation, und ich darf sagen: Mit den Instrumenten, die wir vor der Pandemie hatten, können wir nicht weiter machen. Individuelle Förderung und das, was wir als inklusive Bildung bezeichnen, wird noch mehr an Bedeutung gewinnen und wichtiger werden. Das ist für mich die zentrale Antwort neben dem Ausbau der digitalen Bildung. Wir brauchen mehr multiprofessionelle Unterstützerinnen und Unterstützer an Schulen, damit sich Lehrer auf Inhalte konzentrieren können, aber sich dabei auch auf Unterstützung verlassen können.
Wenn man sich die einzelnen Schulformen ansieht: Wo sind die größten Baustellen?
Ich sehe eine große Baustelle ganz definitiv an den Grundschulen, wo die Grundlagen gelegt werden. Mit der digitalen Kompetenz kommt eine zusätzliche Herausforderung auf uns zu. Grundschulen sind sehr kleine Systeme, in der sie einen Schulleiter haben, der selbst noch im Unterricht steckt, oft nicht einmal einen Stellvertreter. Mancher Schulträger schafft es leider auch nicht, eine Verwaltungskraft zur Verfügung zu stellen. Das wissen wir schon lange, darauf müssen wir als Staat eine Antwort finden. Und ich sehe, dass es in anderen Bundesländern eine Entwicklung gibt, Grundschullehrkräfte besser zu bezahlen. Das sehe ich als eines der großen Themen, die wir nach der Pandemie angehen müssen.
Sind die Herausforderungen im Bereich weiterführender Schulen ähnlich groß?
An Gemeinschaftsschulen haben wir schon sehr stark die individuelle Förderung. Dort hat auch die Pandemie gezeigt, dass die heterogene Schülerschaft eine besondere Herausforderung ist. Ich sehe, dass da auch die digitale Bildung helfen kann, vermehrt individuell zu fördern, die Schulen also noch mehr machen können. Im Bereich der Gymnasien haben sie bei der digitalen Bildung gute Voraussetzungen. Aber auch dort hat sich die Schülerschaft sehr stark verändert in den letzten Jahren. Auch dort gibt es Schüler mit sozial-emotionalen Herausforderungen und Sprachproblemen, aber natürlich nicht in der Wucht wie an Gemeinschaftsschulen. Man muss differenziert herangehen. Berufsbildungszentren sind ganz wichtige Orte. Für mich ist eine Ausbildung gleichwertig mit einem Abitur. Ich wünschte mir, dass es nicht nur Debatten um das Abitur, sondern auch Debatten um die duale Ausbildung geben würde. Das ist schließlich ein System, um das uns andere Länder beneiden. Man verkennt oft, welche Möglichkeiten eine gute Ausbildung geben kann. Das Saarland ist ein Industrieland, deshalb haben die Berufsschulstandorte eine ganz besondere Bedeutung für uns. Und berufliche Schulen sind auch Orte, an denen Schüler noch mal eine Chance bekommen, die Brüche in der Bildungsbiografie haben. Was dort an Ressourcen frei wird durch einen Rückgang der Schülerinnen und Schüler, wenn weniger Ausbildungsverträge abgeschlossen werden, müssen wir unmittelbar in die individuelle Förderung stecken.
Gleichzeitig ist an Gymnasien der Streit um G8/G9 neu entflammt, mit der bekannten Forderung nach mehr Zeit.
Ich verstehe, dass sich Eltern mehr Zeit wünschen für ihre Kinder. Es geht aber sicher auch um die Frage der Lernkultur und die Bildungsinhalte an Gymnasien. Es ist eine berechtigte Debatte, aber es ist auch schwierig, die in der Pandemie mit der notwendigen Zeit zu führen.
Wie hat sich die Arbeit in der Kultusministerkonferenz in diesem Jahr der Pandemie entwickelt?
Die Zusammenarbeit ist intensiver geworden. Dass wir uns nicht mehr physisch treffen, sondern ausschließlich über Videokonferenzen, hat es uns wesentlich erleichtert, weil wir ja auch Entscheidungen immer wieder kurzfristig treffen müssen. Natürlich hat jedes Bundesland mit den unterschiedlichen Inzidenzen auch unterschiedliche Herausforderungen. Trotzdem sind wir schlagkräftig zusammengekommen, damit unsere Stimme auch auf der Ministerpräsidentenkonferenz Gewicht hat. Für mich hat der Föderalismus in der Bildung nach wie vor seine Berechtigung. Das schließt ja Zusammenarbeit nicht aus, im Gegenteil. Sicher können wir bei der Qualität von Bildungsinhalten und Abschlüssen noch stärker werden. Im Bereich der digitalen Bildung arbeiten wir sehr eng zusammen, da können wir auch gemeinsame Institutionen schaffen und unsere Kräfte bündeln. Natürlich werden die Diskussionen schärfer, je länger die Pandemie andauert, aber wir können uns danach immer noch in die Augen schauen. Das ist ganz wichtig, nicht nur in der Politik.
In der Bildungspolitik kann jeder mitreden, tut es auch. Dabei fällt auf, dass die Arbeit der Bildungsministerin entweder auf große Zustimmung oder heftige Kritik stößt. Etwas dazwischen gibt es kaum. Wie kommt das bei Ihnen an?
Das kommt natürlich auch bei mir direkt so an. Jeder war selbst in der Schule und hinter jedem Schüler stehen natürlich ganze Familien. Deshalb hat auch jeder eine Meinung dazu zu sagen. Das ist erstmal okay und bedeutet natürlich, dass man viel erklären und viel miteinander reden, den Kontakt zu den Menschen suchen muss. Das geht in der Pandemie leider nicht mehr so frei. Ich kann nicht so einfach Schulen besuchen, wie vorher. Also muss ich mir andere Zugänge suchen, um ein Bild davon zu haben, was vor Ort Sache ist. Man muss die Menschen ernst nehmen. Das tue ich. Zu Beginn der Pandemie hatten wir eine breite Unterstützung für die Maßnahmen. Je länger die Pandemie andauert, umso weniger Verständnis finden sie, das gilt für alle Maßnahmen. Und das polarisiert natürlich, das nimmt zu. Das spüre nicht nur ich, das nehmen auch meine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wahr. Meine Aufgabe als Ministerin ist es, auch die Kritik an Entscheidungen aufzunehmen. Wo ich aber zumache, ist, wenn es unter die Gürtellinie geht. Wenn bei den Kolleginnen und Kollegen Hass und Missachtung ankommen, ist eine Linie überschritten. Aber, damit kein falscher Eindruck entsteht: Es ist eine Minderheit, die sich im Netz sehr stark Gehör verschafft und teilweise Grenzen überschreitet. Viele, die konstruktiv unterwegs sind, haben es schon aufgegeben, sich damit auseinanderzusetzen. Das passiert nicht nur in der Bildungspolitik, das passiert in allen Politikfeldern. Es werden auch Falschmeldungen verbreitet. Das wird sicherlich in der Zukunft nicht abnehmen, im Gegenteil. Umso wichtiger ist, dass sich das jede Demokratin und jeder Demokrat auf die Fahne schreibt, gegen Spaltung und Hass anzugehen und gemeinsam Antworten zu finden.