FDP-Generalsekretär Volker Wissing übt scharfe Kritik an der Großen Koalition, der Impfstoff-Politik und den schleppenden Corona-Hilfen. Mit Armin Laschet aber könne er wohl ganz gut – grundsätzlich.
Herr Wissing, wenn Sie auf dem CDU-Parteitag wahlberechtigt gewesen wären, welchen Kandidaten hätten Sie gewählt?
Diese Frage habe ich mir nie gestellt, eher, welcher Kandidat bedeutet was für die FDP? Für uns ist Armin Laschet jemand, mit dem wir sehr gut zusammenarbeiten können, wie man in NRW sieht. Ihn zeichnet aus, dass er den Wert einer liberalen Partei erkennt und mit uns arbeiten möchte. Das ist eine wichtige Voraussetzung, wenn man eine Koalition eingeht. Die FDP möchte bekanntlich regieren. Da muss man einen Partner haben, der einem vertraut und der einen respektiert. Das ist bei Armin Laschet der Fall. Egal, was man in Koalitionsverträge schreibt: Es kommen immer neue Herausforderungen auf einen zu, die man nicht vorab kennt. Die Pandemie war für die Große Koalition im Koalitionsvertrag kein Thema oder damals die Euro-Rettung für Schwarz-Gelb auch nicht. Deshalb kommt es vor allem auf das zwischenmenschliche Vertrauen an. Bei Armin Laschet sehe ich da eine solide Grundlage.
Das Ergebnis war ja aber nicht sehr klar. Nun hat die CDU ein Problem. Es gibt einen unglücklichen Verlierer und es gibt viele in der CDU, die nicht glücklich sind, immerhin fast die Hälfte.
Das knappe Ergebnis zeigt eine Spaltung der Union. Da gibt es diejenigen, die gerne die Wurzeln Ludwig Erhards reaktiviert hätten, das ist der Merz-Flügel. Und es gibt eben auch den anderen Flügel, der die Fortsetzung der Politik von Angela Merkel will: Eine Politik, die vor allem der Sozialdemokratie wenig Raum lassen möchte. Das widerspricht sich. Damit wird die CDU umgehen müssen.
Eigentlich würde Ihnen doch der Merz-Flügel liegen.
Wenn in der CDU der Ludwig-Erhard-Flügel dominieren würde, also die Finanz- und Wirtschaftspolitik wieder eines ihrer Kernthemen wäre, hätten wir sicherlich einen stärkeren Wettbewerber in dieser Frage. So haben wir ein Alleinstellungsmerkmal gegenüber der Union und können andererseits im Falle einer Koalition mehr Synergien erzielen. Wir könnten einbringen, was die CDU auf diesem Parteitag hinten angestellt hat.
Sie haben ja Erfahrung mit einer etwas anderen Koalition, nämlich mit den Sozialdemokraten. Können Sie sich dieses rot-gelb-grüne Modell auch im Bund vorstellen?
Für die FDP ist eine Zusammenarbeit mit allen Parteien des Mitte-Spektrums möglich. Wir haben im Bund schon erfolgreiche sozialliberale Koalitionen gehabt. Wir haben die Jamaika-Koalition in Schleswig-Holstein, die Ampel in Rheinland-Pfalz. Wir sind nur auf unsere Inhalte festgelegt, nicht auf bestimmte Koalitionen.
Sie kritisieren die schwarz-rote Bundesregierung harsch für ihre Corona-Politik. Was läuft schief?
Im Frühjahr wusste keiner genau, was das Virus mit uns macht, und wie wir dagegen vorgehen können. Da musste die Bundesregierung sehr viel experimentieren. Wenn man mit einer neuen Herausforderung zu tun hat und aufgrund von Prognosen entscheiden muss, ist zunächst Geduld gefragt. Daher haben wir uns anfangs auch mit scharfer Kritik zurückgehalten. Aber wir stehen jetzt nicht mehr am Anfang der Pandemie. Wir haben inzwischen mehr Erfahrung. Deshalb ist es schwer verständlich, dass der Schutz vulnerabler Gruppen, also der Menschen in Alten- und Pflegeheimen, etwa mit FFP2-Masken erst so spät erfolgt. Die Freien Demokraten hatten das gemeinsam mit Experten schon im Frühsommer gefordert. Wir wollten das im Parlament diskutieren und durchsetzen. Aber die Bundesregierung ist einfach darüber hinweg gegangen. Heute, nachdem viel Zeit verloren gegangen und die Strategie der Bundeskanzlerin wenig erfolgreich ist, setzt die Bundesregierung unsere Vorschläge um. Es war ein Fehler, dass die Bundesregierung alles alleine entscheiden wollte. Sie hat vieles zu spät umgesetzt und war auf den Winter nicht gut vorbereitet.
Ein Beispiel?
Wir hatten im Frühjahr die Soforthilfen im ersten Lockdown. Bei diesen Soforthilfen hatten die Länder erhebliche Schwierigkeiten. Es gab das Problem der notwendigen Sicherheit und Kontrolle, die im Widerspruch zur erwarteten Geschwindigkeit der Auszahlung stand. Manche Länder haben sorgfältig geprüft und standen dann in der Kritik, dass es länger gedauert hat. Andere Länder, die nicht so sorgfältig geprüft hatten, wurden hinterher mit staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen konfrontiert. Ich kann nicht verstehen, wie der Bund mit dieser Situation umgegangen ist. Die Bundesregierung hätte diese Probleme evaluieren und sich darauf vorbereiten müssen, dass es zu einer zweiten Welle und neuen Wirtschaftshilfen kommt.
Eigentlich wäre dann genug Zeit gewesen, daraus zu lernen – könnte man meinen.
In der Tat. Denn Ende Oktober gab es die Ankündigung des zweiten Lockdowns und Herr Altmaier kam wieder auf die Länder zu und sagte, dass es wieder ein Hilfspaket geben werde, um dessen Auszahlung sich die Länder kümmern sollen. Nach den Erfahrungen im Frühjahr sagten die einen: Nein, auf keinen Fall. Andere haben gesagt: Wie sollen wir das machen? Wir sind immer noch mit den Problemen des ersten Hilfspakets beschäftigt. Den Ländern das Geld einfach vor die Füße zu kippen und zu sagen: Verteilt es – das ist keine Leistung. Im Frühjahr hat der Bund sogar unbürokratische und schnelle Auszahlungen versprochen und den Ländern dann ganze Kataloge mit detaillierten Regeln für die Auszahlung vorgelegt.
Was war denn bei den Auszahlungen der Konflikt?
Wir als Länder haben gesagt, wir können bei diesen Massen an eiligen Anträgen nicht die Garantie für eine sorgfältige Prüfung übernehmen. Es muss ja zumindest geprüft werden, dass ein Antragsteller existiert. Ohne Informationen differenziert der Computer hier nicht zwischen einem existierenden Unternehmer oder einer erfundenen Person. Wenn im Antrag „Mickey Mouse" steht, ist das für den Computer ein Vorname und ein Nachname. Im Frühjahr haben Betrüger mit fingierten Namen illegal Hilfsgelder abgegriffen. Das durfte sich nicht wiederholen. Da haben die Länder Vorschläge gemacht, etwa die Steueridentifikationsnummer und den Namen der Antragsteller abzugleichen. Eine derartige Prüfung muss aber der Bund veranlassen. Man brauchte eine Software mit Zugriff auf die entsprechenden Schnittstellen. Das zog sich dann über Wochen hin, bis Herrn Altmaier irgendwann Mitte November klar wurde, dass der Bund eine solche Softwarelösung zur Verfügung stellen muss. Diese hat er dann in Auftrag gegeben und sie wurde Ende Dezember fertig – für die Novemberhilfen!
Manche sagen, Geld ist jetzt sekundär. Jetzt geht es erst mal um die Rettung von Menschenleben.
Menschenleben retten wir am besten mit der Impfung. Damit wären wir beim nächsten Problem: der Impfstoffbeschaffung. Dass wir so wenig Impfstoff zur Verfügung haben, ist höchst ärgerlich. Dass man das europäisch löst, finde ich gut. Aber dann muss man natürlich für die entsprechenden finanziellen Mittel sorgen. Man kann doch nicht sagen, das Ganze wird europäisch beschafft, stellt der EU-Kommission aber nur 2,7 Milliarden Euro zur Verfügung.
Es gibt die unterschiedlichsten Gründe, warum die EU so wenig vom BioNTech-Impfstoff gekauft hat. Die sind aber alle nicht überzeugend, und es bleibt die Frage, weshalb die Bundesregierung hier nicht interveniert hat. Wir haben als stärkste Volkswirtschaft in Deutschland die größten wirtschaftlichen Folgen zu tragen. Dass wir den Impfstoff in geringerer Menge zur Verfügung haben, als Israel oder die USA, ist vollkommen inakzeptabel. Herr Sahin, der Chef von BioNTech, hat öffentlich erklärt, er sei verwundert gewesen, wie wenig die EU bestellt habe. Die Impfung ist der einzig sichere Weg, aus dieser Pandemie herauszukommen. Je länger sich das verzögert, umso größer ist der Schaden für unser Land. Allein die Wirtschaftshilfen kosten pro Monat bis zu 17 Milliarden Euro. Man hätte mit zehn Milliarden für Deutschland ausreichend Impfstoff kaufen können, wenn man bei allen Herstellern die volle Menge bestellt hätte. Das hat Frau Prof. Zipp von der Leopoldina vorgerechnet.
Dann hätte man unter Umständen zu viel des teuren Impfstoffs gehabt.
Zu viel Impfstoff wäre ein Luxusproblem, zu wenig kostet uns Milliarden. Man hätte nicht benötigten Impfstoff weitergeben können. Es ist sicher ein Gebot der Solidarität, den Impfstoff gleichmäßig zu verteilen. Sich einen in Deutschland entwickelten Impfstoff von den USA und Israel wegkaufen zu lassen, ist dagegen nicht nachvollziehbar. Die Bundesländer haben Impfzentren aufgebaut, die nicht voll ausgelastet sind, weil Impfstoff fehlt. Irgendetwas läuft hier gehörig schief. Nicht nur die FDP kritisiert das. Selbst der Vizekanzler hat einen Fragenkatalog an die Kanzlerin gerichtet und auch Herr Söder hat eingeräumt, dass das schief gelaufen ist.
Sie kritisieren die Schwerfälligkeit der Verwaltung. Hätten Sie denn grundsätzlich etwas anders gemacht als die Bundesregierung? Wie sieht es etwa mit dem Homeoffice aus?
Ich halte sehr viel davon, alle sozialen Kontakte zu vermeiden, die man vermeiden kann. Ich halte aber nichts davon, dass man die Pandemie nutzt, um bestimmte politische Vorstellungen durchzusetzen, die man schon immer in der Schublade hatte. Wir können nicht dauerhaft ein Recht auf Homeoffice in allen Bereichen einführen, weil es Berufe gibt, in denen das nicht funktioniert.
Darüber muss ein Unternehmen selbst entscheiden können. In der jetzigen Pandemiephase macht es Sinn, dass alle zu Hause arbeiten, die von zu Hause aus arbeiten können. Wenn man das klar sagt, wird das funktionieren. Es gibt aber Bereiche, in denen man die persönliche Anwesenheit im Büro nicht voll ersetzen kann. In meinem Beruf, ich bin Anwalt, kann man nicht alles am Telefon besprechen. Und für Ärzte oder Pflegekräfte ist die Präsenz unverzichtbar.
Wie weit soll denn der Staat in der Wirtschaft eingreifen?
Unter all den pandemiebedingten Einschränkungen kann Marktwirtschaft nicht funktionieren. Deshalb brauchen wir staatliche Hilfen, damit wettbewerbsfähige Strukturen und Arbeitsplätze erhalten werden. Vorübergehend ist der Staatseinfluss akzeptabel, aber er muss so schnell wie es die Pandemie zulässt, zurückgeführt werden. Die Staatseingriffe in die Wirtschaft führen auf Dauer zu massiven Ineffizienzen. Grundsätzlich gilt: Die Wirtschaft muss den Staat finanzieren und nicht der Staat die Wirtschaft.
Die Regierung gibt derzeit das Geld mit vollen Händen aus. Erstmals seit Jahren hat der Staat wieder ein Defizit. Wie kommen wir von der hohen Schuldenquote wieder runter?
Es wird in den nächsten Jahren schwer sein, Schuldenabbau zu betreiben. Die Staatsverschuldungskrise Europas von 2010 ist nicht gelöst, sondern nur mit Bürgschaften überdeckt. Wir haben so viel Kredit aufgenommen, dass wir uns damit quasi zu einer Wachstumspolitik verpflichtet haben. Wir müssen aus den Schulden herauswachsen. Wenn die Politik dazu nicht die richtigen Weichen stellt, werden wir einen hohen Preis bezahlen. Wir haben die Lasten der Demografie, die Transformation der Fahrzeugindustrie, Energiefragen, den Klimaschutz zu stemmen – das alles kostet viel Geld. Wir brauchen Wachstum heute noch viel dringender als vor der Pandemie.
Ist Sozialpolitik eine Bremse fürs Wachstum?
Nein. Wachstum muss nachhaltig sein. Nachhaltiges Wachstum ist nur möglich, wenn der gesellschaftliche Zusammenhalt auch gesichert bleibt. Das funktioniert nur über Ausgleich. Deshalb ist der Pluralismus der Parteien so wichtig. Es gibt Parteien, die verstärkt soziale Fragen in den Mittelpunkt stellen, und andere, die das Wirtschaftswachstum im Blick haben. Beide Positionen dienen der gesamten Gesellschaft, wenn es am Ende zu einem klug abgewogenen Ausgleich kommt. Wenn die Politik einseitig Gleichheit anstrebt, kommt es zwangsläufig zu einer Schieflage. Denn dann fehlt der Anreiz zur Leistung. Da die CDU sich jetzt gegen die Politik von Friedrich Merz entschieden hat, ist es umso wichtiger, dass finanzpolitische Vernunft und eine kluge Wettbewerbspolitik von der FDP eingebracht werden. Ich sehe Sozialpolitik nur dann als Bremse, wenn sie wirtschaftliche Notwendigkeiten konterkariert, denn dann zerstört sie sich selbst. Alles, was der Staat derzeit in der Pandemie leistet, ist mit der Effizienz unserer Marktwirtschaft erarbeitet worden. Wir haben das beste Gesundheitssystem der Welt. Es wäre töricht, jetzt zu sagen: Weil der Staat so handlungsfähig ist, müssen wir die Marktwirtschaft zurückdrängen. Nein: Der Staat ist handlungsfähig, weil wir eine so starke Wirtschaft haben.
Wenn man Sie so hört, müsste man meinen, dass die Herzen der Unternehmer – und nicht nur diese – Ihnen zufliegen. Wieso sind die Umfragen für die FDP eigentlich nicht besser?
Jüngste Umfragen sehen uns bei neun Prozent. Das ist eine sehr gute Ausgangslage. Dennoch ist die Bevölkerung in dieser extremen Phase sehr stark auf die Regierung fokussiert. Pluralismus kann als Verunsicherung empfunden werden. In der Pandemie, in der es um Leben und wirtschaftliche Existenz geht, haben viele Menschen das Bedürfnis nach Eindeutigkeit. Andere Meinungen werden leicht als störend empfunden. Das ändert sich aber gerade wieder, da sich zeigt, dass es gerade auch im Umgang mit der Corona-Pandemie nicht nur eine richtige Meinung gibt, sondern viele. Es ist der entscheidende Vorteil unserer Demokratie, dass sie über die institutionellen Voraussetzungen verfügt, ein breites Spektrum an Meinungen aufzugreifen und diese nach einem intensiven Beratungs- und Abwägungsprozess zu einer politischen Entscheidung zu bündeln. Dass es eine zunehmende Sehnsucht nach Debatten gibt, zeigen auch die öffentlichen Auseinandersetzungen über die Corona-Maßnahmen. Die Bundeskanzlerin mag die demokratischen Institutionen bei der Pandemiebekämpfung als lästig empfunden haben, eine tiefere parlamentarische Debatte hätte aber einen enorm wichtigen Beitrag zu mehr Transparenz und damit auch mehr Akzeptanz für die Corona-Politik schaffen können. Diese Chance wurde vertan.
Mal ganz hypothetisch: Kann es eigentlich Situationen geben, wo es besser ist, nicht zu regieren, als falsch zu regieren?
Ja, wenn man merkt, dass man sich nicht einbringen kann. Wenn es für die Bürgerinnen und Bürger keinen Unterschied macht, ob ich die eine Partei oder die andere wähle, weil das Regierungshandeln immer das gleiche ist, beschädigt das unsere Demokratie. 2017 hatten wir das Problem, dass es von Seiten der CDU keine Bereitschaft gab, am Regierungskurs etwas mit uns zu verändern. Das war eine ganz schwierige Situation. Ich bin 2016 in Rheinland-Pfalz mit der FDP in eine Dreierkoalition eingetreten, bei der zwei Partner vorher schon zusammengearbeitet hatten. Die entscheidende Frage war, was ändert sich durch die FDP? Malu Dreyer kam damals auf mich zu und sagte: Uns ist klar, dass wir bestimmte Dinge verändern müssen. Sie hat gefragt, was ist Euch wichtig? Dann haben wir darüber gesprochen, verhandelt und einen Koalitionsvertrag geschlossen, der grundlegende Veränderungen vorsah.
Und was war da 2017 anders?
Als wir 2017 in den Verhandlungen mit der Union die Kanzlerin gefragt haben, was wollen Sie mit uns ändern, war die Antwort: Nichts. Das war bitter. Wir müssen den Menschen doch erklären, warum wir uns einer Regierung anschließen. Die Leute wählen ja nicht die FDP, damit einige von uns Dienstwagen bekommen, sondern damit wir unsere Inhalte umsetzen. Das ist die Messlatte. Es ist einer Partei hoch anzurechnen, wenn sie ihren Inhalten in einer solchen Situation treu bleibt und bereit ist, auf eine Regierungsbeteiligung zu verzichten, um die pluralistische Demokratie lebendig zu halten. Solche Dinge zahlen sich meistens erst ein oder zwei Jahrzehnte später aus. Jetzt geht es um 2021 und jeder, der uns seine Stimme gibt, kann sicher sein: Wir nutzen sie, um Politik nach unseren Werten mitzugestalten.