Woche eins im Mega-Lockdown. Ein einheitlicher EU-Impfpass ist auf den Weg gebracht. Experten und Politik streiten unterdessen über FFP2- und medizinische Masken sowie die Infektionszahlen.
Im zweiten Jahr der Corona-Pandemie haben sich Rituale etabliert, auf die unterhaltungshungrige Berichterstatter in der Bundeshauptstadt nicht mehr verzichten möchten. Dazu gehört unter anderem das Zusammentreffen von Jens Spahn, Lothar Wieler und Christian Drosten. Der Bundesgesundheitsminister lädt ein, die beiden Star-Virologen lassen sich gern bitten, auch wenn sich die beiden nicht wirklich zugetan sind. Darum wird immer gern ein dritter Professor dazu gebeten, um so das Habilitierten-Gespann „Wieler-Drosten" etwas auszutarieren. Diesmal, Ende Januar, darf der Intensivmediziner Professor Dr. Gernot Marx von der Uni-Klinik Aachen auf der Politikbühne mit dabei sein. Der Klinikdirektor trifft am Tag der Präsentation der neuesten Zahlen als erster ein. Kurz danach kommt der Chef des Robert Koch-Instituts, Lothar Wieler, und auch Jens Spahn ist bereits zehn Minuten vor Beginn der Veranstaltung anwesend. Alle drei stehen zusammen, mit dem gehörigen Mindestabstand von über zwei Metern und selbstverständlich medizinischen Masken über Mund und Nase. Den dünnen Metallbügel in der Maske ordnungsgemäß an das Gesicht angepasst. Vorteil dieser Verordnung für die umstehenden Reporter im Lichthof der Bundespressekonferenz: Die drei Protagonisten müssen sehr laut und deutlich sprechen. Damit lässt sich auch die ein oder andere Information aufschnappen, die eigentlich nicht direkt für Journalistenohren bestimmt war. Diesmal geht es unter anderem um die Verlässlichkeit der gemeldeten Infektionszahlen.
Schließlich betritt auch noch der vierte Gast das Foyer, Professor Christian Drosten. Man erkennt ihn nicht sofort, über seine markanten, schwarzen Locken hat er eine graue Wollmütze tief ins Gesicht gezogen, dazu der Mund-Nasenschutz. Fast, als wolle er sich tarnen. Drosten eilt schnellen Schrittes am Bundesgesundheitsminister und den beiden anderen Professoren vorbei, nickt zur Begrüßung kurz mit dem Kopf und auf geht’s, die Treppenstufen zum großen Saal herauf.
Sind die Zahlen wirklich verlässlich?
Die Pressechefin kann ihn überzeugen, höflicherweise doch noch mal runterzugehen und zumindest Jens Spahn und den Klinikchef aus Aachen persönlich zu begrüßen. Der Chef des Robert Koch-Instituts, Lothar Wieler, würdigt seinen Kollegen, den Chef-Virologie der Charité Berlin Drosten, keines Blickes. Ziemlich beste Freunde werden Drosten und Wieler in dieser Pandemie wohl kaum noch. Das belegen die beiden dann auch in der gemeinsamen Pressekonferenz, in der Bundesgesundheitsminister Jens Spahn beinahe in die Rolle eines Paartherapeuten schlüpft, was aber auch nicht hilft. Professor Wieler präsentiert die RKI-Infektionszahlen und Professor Drosten stellt diese dann, unterschwellig, infrage. „Anekdotische Zahlenlage" nennt der Charité-Virologe das Zahlenwerk vom RKI-Chef, oder aber „die vorgelegten Zahlen sind anekdotisch zu verstehen". Auch schön: „Die vorgelegten Zahlen machen einen anekdotischen Eindruck."
Besser kann man den Vortrag seines Vorredners nicht unterlaufen, denn anekdotische Zahlen heißt laut Duden oder Wikipedia: „Anekdotische Evidenz (anekdotische Aussage) ist ein informeller Bericht über Evidenz in Form eines Einzelberichts oder vom Hörensagen." Wobei sich Professor Drosten mit dem Vergleich, die Zahlen stammen vom „Hörensagen", nun beileibe nicht bei irgendwelchen Skeptikern einreihen will, ganz im Gegenteil. Er ist fest davon überzeugt, dass die Infektionszahlen wesentlich höher liegen und warnt deshalb davor, bereits jetzt über Lockerungen zu sprechen. Virologe Drosten im FORUM-Gespräch: „Wird der Lockdown zu früh gelockert, drohen in einer dritten Corona-Welle Fallzahlen nicht mehr von 20.000 oder 30.000, sondern im schlimmsten Fall von 100.000 pro Tag." Doch laut Robert Koch-Institut sinken derzeit die Infektionszahlen und darum haben sich die Ministerpräsidenten nun auch für den 14. Februar zu einer erneuten, außerplanmäßigen Ministerpräsidentenkonferenz verabredet. Dann sollen alle 16 Bundesländer ihre Pläne für einen moderaten Ausstieg aus dem Total-Lockdown auf den Tisch legen. Diese sollen dann bundeseinheitlich abgestimmt werden, was ja schon im vergangenen Frühjahr nur mäßig geklappt hat. Stichtag für das mögliche Ende des totalen Lockdowns könnte Montag, 1. März, sein. An diesem Tag könnten dann zumindest wieder die Geschäfte öffnen, womöglich auch Friseure, Nagelstudios oder Blumenläden.
Ob das auch für Restaurants, Kneipen, Kinos oder Theater zutrifft, ist mehr als fraglich. Von Saunen, Schwimmbädern oder Fitnessstudios spricht schon niemand mehr, ganz abgesehen von den Bordellen. Doch im Kanzleramt sieht man die Öffnungspläne ebenfalls mehr als kritisch. Ähnlich wie nicht wenige Virologen liebäugelt man auch im Kanzleramt mit der „Zero Covid"-Strategie. Also die Fallzahlen auf null zu bringen und erst dann zu öffnen. Auch der neue CDU-Chef Armin Laschet sieht die Öffnungspläne seiner Amtskollegen aus den Ländern eher kritisch. Der nordrhein-westfälische Ministerpräsident mahnte Ende Januar mit Blick auf die mutierten Corona-Varianten: „Es kann keine konkreten Öffnungsplane geben, weil wir immer auch die aktuelle Situation reagieren müssen."
Impfprivilegien: Debatte hinfällig
Laschet ist diesbezüglich, politisch, ein gebranntes Kind. Er hat als Landeschef in NRW im April letzten Jahres zu früh die Lockdown-Maßnahmen gelockert. In der Folge musste Laschet dann unter anderem eine wahre Corona-Havarie im Werk des Fleischproduzenten Tönnies zur Kenntnis nehmen. Im Übrigen spricht gegen einen verlässlichen Lockdown-Ausstiegsplan bereits Mitte Februar: Kein Wissenschaftler und schon gar kein Politiker kann den Erfolg der angelaufenen Corona-Impfkampagne einschätzen. Dabei geht es vor allem um zwei ganz wichtige Faktoren: Tragen Geimpfte das Virus trotzdem weiter, können also andere anstecken? Und schützen die jetzt verimpften Dosen auch vor den mutierten Covid-Varianten aus England und Südafrika?
Würde beides zutreffen, könnte der totale Lockdown bereits vor Ostern aufgehoben werden, doch der Chef des Robert Koch-Instituts gesteht im FORUM-Gespräch: „Wir werden frühestens vielleicht im Sommer verlässlichen Angaben dazu haben, ob die jetzt Geimpften das Virus weitertragen können oder nicht. Ich kann es ihnen derzeit nicht sagen." Damit ist die gesamte Debatte um mögliche Impfprivilegien bereits im Frühjahr dementsprechend hinfällig.
Unter anderem hatte Bundesaußenminister Heiko Maas diese ins Spiel gebracht. Menschen, die gegen Corona geimpft sind, sollten wieder Restaurants, Kinos oder Sportstudios ohne Auflagen besuchen dürfen, so der Außenminister. Ein Element zum zukünftigen Reisen, zumindest innerhalb der EU, könnte dann der europäische Impfpass sein, der nun auf den bürokratischen Weg gebracht wurde.
Wann der dann tatsächlich eingeführt wird, darüber wagt kein Europa-Politiker auch nur annährend zu spekulieren. Aber der Sommer 2021 dürfte es wohl eher nicht werden. An dieser Stelle sei nur an die Abschaffung der Sommer/Winterzeit erinnert, die bereits in diesem Jahr eingeführt werden sollte. Bei allen Maßnahmen für die Rückkehr in ein normales „Vor-Corona-Leben" ist eines entscheidend: die Infektionszahlen. Und eines ist dabei gewiss: Egal, aus welchem Blickwinkel man die Zahlen betrachtet, es wird sich immer eine „anekdotische Zahlenlage" ergeben, denn es gibt keine Gewissheit.