Es ist ein Bild, das haften geblieben ist: Am 7. November vergangenen Jahres gab das Deutsche Symphonie-Orchester Berlin (DSO) ein Konzert in der leeren Philharmonie. Gerade hatte der zweite Lockdown begonnen und die Kulturszene zur Aufgabe aller Veranstaltungen und geplanten Projekte gezwungen.
Eine Situation, die jedoch den Chefdirigenten des DSO, Robin Ticciati, einen „Englishman in Berlin" eher anzuspornen scheint. Kurzerhand nämlich passte er das Programm des November-Konzerts an die neuen Gegebenheiten an, ließ es live streamen. Er selbst dirigierte mit rotem Mund-Nasen-Schutz. „Berlin braucht Musik!" war darauf zu lesen, das Motto der sommerlichen Open-Air-Konzerte. Solche Masken trug – bis auf die Bläser –
auch das im Saal verteilte Orchester. Bei Henry Purcells „Trauermarsch" zog eine Trommler-Gruppe vor die Bühne – ein magischer Moment. Einer von vielen, denn mit von der Partie war auch Ticciatis Landsmann, Sir Simon Rattle, Ex-Chef der Berliner Philharmoniker, er dirigierte anschließend Gustav Mahlers „Lied von der Erde".
Was sagt Ticciati, der seit der Spielzeit 2017/18 als Chefdirigent beim Deutschen Symphonie-Orchester ist, zu den Herausforderungen der Corona-Krise? „Die Notwendigkeit, Menschen trotz der Schließungen mit Kultur zu verbinden, treibt uns als Künstler mehr denn je an. Das DSO ist eine Gruppe von über hundert kreativen Köpfen, die sich zusammengeschlossen haben, um der Musik zu dienen und ihr neue Räume für einen besseren Dialog zu eröffnen."
Ein Konzertfilm eröffnet neue Räume
Solche neuen Räume will Ticciati mit einem Konzertfilm erschließen, gemeinsam mit dem Regisseur Frederic Wake-Walker, ein weiterer Brite in Berlin. Die beiden kennen sich bereits seit 2006, als sie an der Glyndebourne Opera zusammentrafen. „Dort hatten wir beide nach dem Studium den ersten richtigen Opern-Job. Wir machten eine neue Version der „Fledermaus" und tourten damit durchs Vereinigte Königreich", erinnert sich Regisseur Wake-Walker. Und vor gut zwei Jahren haben sich beide erneut zusammengetan und in der Berliner Philharmonie Händels „Messiah" als szenische Aufführung präsentiert, was beim Publikum außerordentlich gut ankam. Jetzt allerdings fallen solche Live-Konzerterlebnisse gänzlich weg, man ist aufs Streamen angewiesen. Der Konzertfilm von Ticciati und Wake-Walker ist da eine willkommene Bereicherung der „Musik-Konservenkost" und könnte auch neue Publikumsgruppen für klassische Musik begeistern.
Der Titel des Dreiteilers: „Im Exil – Von Göttern und Menschen", die ersten beide Teile waren seit Mitte Dezember im Stream zu sehen. Zu Beginn begegnet man da den Musikern des DSO und ihrem Chefdirigenten Ticciati in der Friedrichwerderschen Kirche, wo sie verteilt zwischen und vor den klassizistischen Götterfiguren musizieren. Von der Empore erklingt Giovanni Gabrielis spätbarocker „Canzon" für ein Bläserensemble. Alle Mitwirkenden sind warm und leger gekleidet. Ticciati trägt weiße Hosen zum schwarzen Pullover. Nach Strawinskys „Apollon musagète" für Streichorchester geht’s hinaus in die herbstliche Natur. Auf bunten Blättern liegend spielen die Bläser „Coups d’ailes" (Flügelschläge) des in Berlin lebenden Tschechen Ondřej Adámek.
Mit dabei ist auch die Posaunistin Susann Ziegler. Seit 2000 gehört sie zum DSO und fühlt sich „sehr gut aufgehoben". Das DSO sei flexibel und begeistere sich auch für Ungewöhnliches. „Als ich für das Filmkonzert ausgewählt wurde, habe ich mich riesig gefreut, wieder spielen zu können." Geprobt wurde von 11 bis 15 Uhr, zum Aufwärmen zwischendurch gab es heiße Getränke und Suppe. Ticciati habe darauf geachtet, dass alle richtig auf den wärmenden Erste-Hilfe-Decken lagen, erzählt Posaunistin Ziegler: „Unter seiner Leitung zu spielen, macht stets sehr, sehr viel Spaß."
Im zweiten Teil des Film-Triptychons wird erneut drinnen und draußen musiziert. Durch die Kirche klingt Mozarts Jupiter-Symphonie. Wolfgang Amadeus war 32 Jahre jung, als er diese, seine letzte Symphonie komponierte, und Ticciati dirigiert sie mit jugendlichem Schwung.
Bei den „Metamorphosen" von Benjamin Britten geht’s für die Solo-Oboisten Viola Wilmsen und Thomas Hecker in die Natur. Sie wandert weiterspielend am Seeufer entlang. Melancholisch klingt ihre Oboe über den nebligen See.
Seit 2012 ist Viola Wilmsen beim DSO, war vorher in gleicher Position bei der Deutschen Oper Berlin und ist international gefragt. Dennoch fühlt auch sie sich beim Deutschen Symphonie-Orchester sehr gut aufgehoben. „Wir sind innovativ, das ist das Markenzeichen des DSO, und wir lassen uns vieles einfallen. Robin Ticciati hat oft kurzfristig großartige Ideen, er inspiriert uns, strahlt enorm viel Freude aus und hat eine Menge ansteckende Energie."
Im dritten Teil des Konzertfilms haben sich Dirigent Ticciati und Regisseur Wake-Walker für ein industrielles Setting entschieden. „Dusty Rusty Hush", ein Orchesterwerk des in Berlin lebenden Tschechen Ondřej Adámek steht hier im Mittelpunkt, eine Komposition, zu der sich Adámek durch die Stilllegung des Stahlwerks 1993 in Brandenburg an der Havel inspirieren ließ. Über 10.000 Menschen verloren damals ihre Arbeit. Passend zur Musik ist der Ort gewählt, der zuvor boomende und nun verwaiste Club Sisyphus in Berlin-Lichtenberg mit seinem Industrie-Ambiente.
Ein Teil des Films erinnert an ein Stahlwerk
„Sisyphos gilt oft als eine nutzlose und tragische Figur", meint Regisseur Wake-Walker. „Aber war er wirklich unglücklich? Eines hat Corona gezeigt: dass uns die Gesellschaft nur nach unserem Schaffen beurteilt. Jetzt aber haben wir alle erfahren, wie es sich anfühlt zu leben, ohne unseren Beruf ausüben zu können. Diese Situation hat uns aber auch die Chance gegeben, die Dinge so zu sehen, wie sie sind und sie nicht nur nach ihrer Nützlichkeit zu beurteilen. Die jetzigen Geschehnisse werden einiges, an das die Gesellschaft gewöhnt ist, unwiderruflich zerstören, und das ist auch schon teilweise erfolgt. Ich glaube aber ebenso, dass die Kreativität eine außergewöhnliche Wiedergeburt erleben wird."
Ausgerechnet im Szeneclub tragen Ticciati und das Orchester ihre Fräcke. Ein gewollter Kontrast? Er hasse es, wenn sich Klassik-Musiker cool geben, der Frack sei doch ihre Berufsbekleidung, entgegnet Regisseur Wake-Walker. Und schon fliegen Ticciatis Frackschöße, während die Musik laut, krass und schrill die letzte Stahlwerksschicht hören lässt.
Er dirigiert das sichtlich gern. Voll konzentriert vertiefen sich die Musikerinnen und Musiker in die Partitur. Einem letzten Aufschrei folgt eine zarte Flötenmelodie, und die Musik verebbt.
Doch weder Ticciati noch Wake-Walker wollen das Ende des dreiteiligen Konzertfilms pessimistisch verstanden wissen. Im Gegenteil. Das Stahlwerk in Brandenburg, 1993 stillgelegt, ist seit Jahren als Industriemuseum ein beliebtes Ausflugsziel. Ein Sinnbild vielleicht für vieles andere, das jetzt seine alte Funktion verliere und eine neue finde.
Ticciati fasst es so zusammen: „Wenn die Konzertsäle leer sind, wo kann dann die Musik erklingen? Der abschließende Teil dieses DSO-Films bringt die industriellen Klänge von Adámeks „Dusty Rusty Hush" mit der Underground-Atmosphäre des Berliner Sisyphos in Berlin-Lichtenberg zusammen. Der Klebstoff zwischen all dem ist das schlagende Herz unserer Musikerinnen und Musiker: tanzend, improvisierend und atmend."