Die Saarländerin Dr. Jenny Wagner vom Zentrum für Astronomie der Universität Heidelberg ist mit dem „Preis für mutige Wissenschaft" des Landes Baden-Württemberg ausgezeichnet worden. Im Interview spricht sie unter anderem über ihr Interesse an der Physik und ihren besonderen Forschungsansatz.
Der mit 30.000 Euro dotierte Preis zeichnet unkonventionelle Forschungsansätze aus, die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler auch gegen Widerstände vorangebracht haben. Die 36-jährige Kosmologin startete nach dem Abitur (Notendurchschnitt: 1,0) ihre Laufbahn in der Teilchenphysik, promovierte in den Lebenswissenschaften und wagte danach den Quereinstieg in die Kosmologie, wo sie derzeit die Dunkle Materie erforscht.
Frau Dr. Wagner, wann und wie wurde Ihr Interesse an der Physik geweckt?
Wenn man Physik als das Nachvollziehen von Funktionsweisen von Vorgängen in der Natur ansieht, dann habe ich mich zum ersten Mal im Alter von sieben oder acht Jahren dafür begeistert. Nachdem ich eine Ausstellung über Dinosaurier gesehen hatte, wollte ich Paläontologin werden und verstehen, wie diese Urzeitriesen entstanden waren und wie sie lebten. Auf meiner Suche nach Antworten stieß ich irgendwann auf Darwins Theorien und schließlich auch auf die Urknalltheorie, die erklärt, wie das ganze Universum entstanden ist. Mit 16 Jahren habe ich zum ersten Mal in der Schule von Einsteins Relativitätstheorien erfahren. Vor allem die Allgemeine Relativitätstheorie hat mich sofort in ihren Bann gezogen und bis heute nicht losgelassen. Während des Studiums ist mir klar geworden, dass es die Physik ist, die mir die Antworten liefert, die ich immer gesucht habe. Vor allem mein Mathematik-Professor hat mir auf beeindruckende Art gezeigt, dass Mathematik und Physik hinter jedem Phänomen stecken – von der einzelnen Zelle in der Ursuppe bis zur letzten noch sichtbaren Galaxie.
Heute erforschen Sie die Dunkle Materie, die etwa 80 Prozent der Masse im Universum ausmacht, aber der Wissenschaft noch viele Rätsel aufgibt. Mit was genau beschäftigen Sie sich dabei?
Das Ziel unserer Arbeit ist es, mehr Licht ins Dunkel unseres Wissens über Dunkle Materie zu bringen. Hierzu untersuchen wir Gravitationslinsen, die zum Großteil aus dieser Dunklen Materie bestehen. Ähnlich wie optische Linsen in einer Brille lenken sie Licht von Objekten ab. Wir beobachten die Bilder, die die abgelenkten Lichtstrahlen formen, und können dadurch Rückschlüsse auf das ziehen, was diese Bilder erzeugt haben muss. Vergleichen wir die Ergebnisse mit den sichtbaren, beobachtbaren Teilen der Gravitationslinse, erhalten wir Hinweise auf die Massenverteilung der Dunklen Materie in einer solchen Linse.
Was macht Ihren Forschungsansatz so besonders?
Meine Forschungsprojekte drehen sich um die Fragen, welchen Einfluss bestimmte Modellannahmen auf die Rekonstruktion der Massenverteilungen haben. Normalerweise stellt man Vermutungen, also Modelle, auf und versucht, sie mit Beobachtungsdaten zu bestätigen oder zu widerlegen. Wir gehen mit unserem Ansatz der beobachtungsbasierten Kosmologie genau den umgekehrten Weg und leiten Erkenntnisse direkt aus den Beobachtungsdaten ab, ohne uns dabei von Modellannahmen leiten zu lassen. Man kann sagen: Mir ist es lieber, etwas weniger zu wissen, das aber sicher. Es ist nämlich schwieriger, falsche Annahmen nachträglich zu widerlegen, als Neues zu schaffen.
Inwiefern haben die unterschiedlichen Fachgebiete, in denen Sie schon gearbeitet haben, Einfluss auf Ihre jetzige Arbeit?
Es sind vor allem die Menschen, denen ich im Laufe der Zeit begegnet bin, die auf unterschiedlichste Weisen einen Teil zu meiner Arbeit beigetragen haben. Am Cern haben mir besonders die interkulturelle Zusammenarbeit und der Zusammenhalt im Team gefallen. Es machte viel Spaß, mit Norwegern, Indern, Franzosen und vielen anderen an einem der größten Projekte zu arbeiten, die jemals gebaut wurden. Auch hat mich die Begegnung mit Professor George F. R. Ellis, nachhaltig beeindruckt. Er hat bereits 1985 die beobachtungsbasierte Kosmologie begründet. Von ihm stammt der Ansatz, für den wir ausgezeichnet wurden. Die unterschiedlichen Phänomene, die ich in den anderen Forschungsgebieten kennengelernt habe, kann ich auf die Kosmologie übertragen. Eine neue Sicht auf die Dinge einzubringen, ist sehr von Vorteil, alte Probleme zu lösen.
Wie wird es für Sie beruflich weitergehen?
Die nächsten Schritte auf diesem Planeten, mir eine permanente Stelle zu suchen, kann ich erst angehen, wenn Covid-19 besiegt ist. Daher verfolge ich den schleppenden Rückgang der Fallzahlen mit großer Sorge und Ungeduld.
Kosmologisch will ich besser verstehen, was Gravitation ist. Die Kosmologie mit ihren schier unendlichen Weiten ist dafür das beste Anwendungsgebiet, da die Gravitation die schwächste aller Naturkräfte ist und man sie erst auf großen Skalen gut studieren kann. Mein nächster Schritt in der Forschung ist es, eine Erklärung dafür zu finden, warum alle Ansammlungen von Dunkler Materie eine ähnliche räumliche Struktur aufweisen.
Die baden-württembergische Wissenschaftsministerin Theresia Bauer sagte, Sie würden „mit beeindruckendem Mut und viel Risikobereitschaft" erfolgreich Ihren Weg gehen. Was bedeutet Ihnen die Verleihung des „Preises für mutige Wissenschaft"?
Ich bin davon überzeugt, dass mit weniger Modellannahmen mehr Wissen über das Universum generiert wird. Überzeugt von etwas zu sein, heißt für mich, dafür zu arbeiten, dass die Idee auf Interesse stößt und sich mehr Leute ihr anschließen. Der Preis bedeutet für mich, dass diese Mission erfolgreich war. Ob das besonders mutig ist, weiß ich nicht. Mutig ist es nach meiner Vorstellung eher, in Peking in ein Taxi zu steigen und darauf zu vertrauen, dass der Fahrer, der weder auf ein Navigationsgerät zurückgreifen kann, noch selbst den Weg kennt, mich rechtzeitig zum 100 Kilometer entfernten Hafen bringt, sodass ich das Schiff nach Japan noch erwische.